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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

meine Gedichte vorlas, die alle nur ihn zum Gegenstande hatten. Und zuletzt sagte er doch: ‚Liebe Milla, ich hätte Dich zwar gern geheirathet und zur stattlichen Oberlehrerin gemacht, aber es ist doch vielleicht besser, daß es nicht dazu kommt. Du bist zu etwas Anderem bestimmt. Du mußt in einem reichen Hause leben, wo Niemand Strümpfe zerreißt und Keiner sich selber Etwas zu kochen braucht.‘

Es ist doch eine tiefliegende, unüberwindliche Abneigung, die wir Frauen gegen die Zahlen haben. Still davon. Ich kann es beschwören, daß ich einmal achtzehn Jahre alt war. Das genüge. Ich kenne ein reizendes Wort:

‚Was kümmert mich die Zahl der Jahre,
Das Herz bleibt jung, doch Schelme sind die Haare.‘

Man sollte es als Motto über alle Frauenbiographien schreiben! Nun, Gott sei Dank, von weißen Haaren zeigt sich noch keine Spur in dem Scheitel Ludmilla Köhler’s. Heut in D. sagte der prosaische Sanitätsrath L., der auch unser Hausarzt: ‚Liebes Fräulein, der blaue Hut mit dem kleinen Schleier steht Ihnen zwar sehr gut, aber Sie kommen mir doch etwas gelblich vor. Sollten Magen und Leber wieder ihre bekannten kleinen Streiche zu spielen Lust haben? Ich rathe, wieder zu unsern Pillen zu greifen!‘ Voll Entrüstung wies ich ihn in seine Schranken. O, diese Worte! wie ich ihn hasse, den Magen, wie ich sie verachte, die Leber! Der Kurzsichtige ahnt freilich nicht, daß ich heut in dem eilften Capitel des ersten Bandes meines Romanes bereits zwei Mordthaten beging. Und dabei soll man rothwangig aussehen! O, diese Dichterarbeit! Wie sie aufreibt und verzehrt! –

Melanie hat mit ihrem Lehrer und Vater einen Besuch bei der kranken Mutter des Herrn Dumont gemacht. Sie kam sehr bleich zurück und war gewaltig schweigsam. Jedenfalls hat sie sich sehr gelangweilt. Herr M. wurde von der Kranken nicht empfangen. Nach einem sehr guten Souper fuhren wir wieder heim. Herr Dumont kommt erst morgen nach. In einem Monat reist er mit seiner Mutter nach Frankreich zurück. Sie wollen sich dann in Lyon oder Marseille niederlassen. Melanie hatte Kopfweh, sie hat jetzt öfter Kopfweh. Das macht die Sehnsucht nach Alphons. Gott sei Dank, sie liebt ihn. Ich habe das vorausgesehen. Er paßt vortrefflich zu ihr und ist der angenehmste Mensch, den man sich denken kann. Poetisch freilich nicht, aber sie hat ja auch keine Flügel. Noch drei Monate, und wir feiern eine Hochzeit. Warum kann ich dies Wort nicht ohne ein gewisses Zittern niederschreiben? Seltsamer Zauber! Ich will schlafen gehen, heut kann ich nicht mehr schreiben – meine Prinzessin und der schöne, räthselhafte Jäger müssen warten.




In den Romanen braucht die Entwickelung von Herzensneigungen, die Wandlung von Empfindungen viel mehr Zeit und bedarf des Decorationswechsels weit häufiger, als in der Wirklichkeit. Je stiller und einförmiger das wirkliche Dasein, je gleichmäßiger der Verlauf der Stunden, desto tiefer und gewaltiger wirken die Eindrücke, die von außen an uns herantreten, ein Tag schafft Wunder und eine Woche vermag unser ganzes bisheriges Leben mit all’ seinen Consequenzen umzuwerfen. Melaniens Seele und Herz erfuhren solche Wandlung, sie wendeten sich, wie die Blumen dem Licht, allmählich einer Erscheinung zu, welche dem bisherigen Schmetterlingssein des jungen Mädchens eine andere Richtung gegeben. Zuerst war es der männliche Ernst, die ruhige Festigkeit seines Wesens im Contraste mit der Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit ihres Verlobten, die ihr imponirten, dann kam das Mitleid mit dem so zärtlichen Sohne einer kranken Mutter, darauf der Reiz des Geheimnißvollen, der Beide wie ein dunkler Schleier umhüllte. Das Leben auf dem Lande bringt die Menschen ohnedies viel rascher und näher zusammen, als das zersplitternde Stadtleben, wo man sich nur gleichsam in voller Toilette sieht. Auf dem Lande zeigen sich die Naturen sehr bald offen und ungekünstelt, man kann sich wohl auf Stunden, aber nicht auf Tage und Wochen beherrschen und anders geben, als man ist. Niemand hält es aus, vom frühen Morgen bis zum späten Abend en grande tenue zu erscheinen; ein loses, bequemes Kleid braucht der äußere wie der innere Mensch. Melanie und der Gast ihres Vaters waren sehr viel aufeinander angewiesen, da Herr M. viel malte und schlief und ungern spazieren ging, und die Köhler alle ihre häuslichen Geschäfte mit großer Peinlichkeit zu vollbringen pflegte. Man las zusammen, man plauderte, zeichnete, unternahm weite Spaziergänge, und es war dem jungen Mädchen oft zu Muthe, als habe sie bis zur Stunde eine Brille getragen, die das köstliche helle Licht matt und farblos erscheinen ließ. Wie leer und nichtssagend erschienen ihr Alphons’ Briefe, wie schwer und immer schwerer wurde es ihr, sie zu beantworten, ohne von jenem Einen zu sprechen, dessen Sein und Wesen jetzt ihr äußeres und inneres Leben ausfüllte! Mit Entsetzen dachte sie an den Tag seiner Abreise, was dann? Wie eine Wüste lag die nächste Zukunft vor ihr. Wohin war die Freude auf Paris, auf das glänzende Leben, das ihr Alphons immer zu schildern sich bemühte? Eine tödtliche Angst nahm ihr oft den Athem, wenn sie weiter zu denken versuchte. Sie wagte nicht, sich die Empfindungen ihres Herzens klar zu machen, sie betete zu ihrer Mutter, sie schrieb zärtliche Briefe an ihren Verlobten, sie versicherte ihm, daß sie sich nach ihm sehne, und bat ihn dennoch flehentlich, den Termin ihrer Hochzeit noch bis zum nächsten Frühjahr hinauszuschieben. Hätte der Vater nur einmal gesagt, daß er sich schwer von ihr zu trennen vermöchte! Aber er hatte auf alle ihre Fragen nur die eine Antwort: „Ich freue mich, Dich in Paris als glückliche kleine Frau besuchen zu können, dann erst sind wir Alle glücklich.“

War es nicht seltsam, daß es dem Vater nie auffiel, wie unruhig und haltlos Alphons sich zeigte? Und wie oft hatte er doch gesagt: „Du mußt einst eine feste Hand über Dir fühlen, Wildfang, sonst geht Dein Glück in die Brüche!“ Feste Hand?! Zu weiß und weich und wohlgepflegt war die Hand ihres Verlobten, die konnte nicht sicher und fest durch’s Leben führen, die hielt nicht fest bis in’s Grab! Da war eine andere, feste, ernste, bräunliche Hand, Melanie hätte sich von ihr über den schwindelnden Steg eines Abgrundes leiten lassen, ohne zu zittern. Zuweilen meinte sie, es müsse irgend ein Wunder geschehen, das Alles rings umher veränderte; was aber jenes Wunder verändern sollte, gestand sie sich nur in ihren Träumen. O, diese Träume! Sie ängstigte sich oft, daß seine forschenden, tiefen Augen am Morgen auf den Grund ihrer Seele blicken und diese Träume erkennen möchten! Und er? Nun, er war ein Mann, in dem einen Augenblick sich rückhaltlos einer glühenden Leidenschaft hingebend, im nächsten voll bitterer Selbstvorwürfe sich zurückziehend. In einem jener Momente war es, wo er seine Abreise festsetzte und dem Schloßherrn anzeigte, daß die Gesundheit seiner Mutter die schleunigste Rückkehr nach Frankreich nothwendig mache und er mit ihr deshalb schon in drei Tagen D. zu verlassen gedenke. Er hatte dies Alles hastig in fremdem, fast hartem Tone gesprochen, kein Blick fiel dabei auf Melanie, die wenige Schritte von ihm in der Thür zur Terrasse saß. Die Rosen blühten, die Bäume wiegten ihre Wipfel im Abendsonnenschein. Das Mädchen schaute, von dem Sprechenden abgewendet, regungslos hinaus. Sie hörte wie im Traume ihren Vater Worte des Bedauerns reden, lebhaft den Plan seines Gastes bekämpfen und endlich sagen: „Bitte Du ihn, Melanie, gegen eine junge Dame darf er nicht ungalant sein; er muß wenigstens noch eine Woche zugeben, bis ich mit meinem Adam Lux fertig bin. Versuche Dein Heil, mein Kind, ich muß noch einmal nach H. In zwei Stunden bin ich wieder bei Euch!“

Der alte Herr küßte im Vorübergehen seine Tochter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Wie zu Stein erstarrt, erschien die Gestalt des jungen Mädchens, kein Hauch bewegte die weißen Falten ihres Kleides, lässig lagen ihre Hände in ihrem Schooße. Das heimlich Gefürchtete war da, unabwendbar, er wollte sie verlassen, der Boden wich unter ihren Füßen, langsam näherte sich jetzt ein Schritt, sie wußte, wer da auf sie zukam, sie fürchtete seine Nähe und schloß zitternd die Augen.

„Sie werden mich nicht bitten, zu bleiben,“ sagte seine sympathische Stimme erregt, „ich könnte ja nicht ‚nein‘ sagen und dann wäre ich verloren, ehrlos in meinen und in Ihren Augen.“

„Werden wir uns wiedersehen?“ fragte sie, ohne sich zu ihm hinzuwenden.

„Nein, Melanie!“

„Sie haben Recht! Sie sind besser, als ich. Gehen Sie, und Gott segne Sie!“

„Ich gehe nicht eher, als bis ich Ihnen das Geheimniß meines und eines andern Lebens, das mir das theuerste auf Erden, anvertraut. Das ist das Einzige, was ich Ihnen zu Füßen legen darf, das Einzige, was Sie von mir annehmen dürfen. Keine Frau der Welt außer Ihnen wird dies Geheimniß erfahren. Wissen Sie, was solch’ Vertrauen bedeutet?“

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