Seite:Die Gartenlaube (1865) 620.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

vermissend, fühlt sich ohne Halt, schutzlos ihren Peinigern verfallen, zitternd, außer sich vor Furcht, sah sie die blanken Klingen über sich, gegen ihre Brust, ihren Kopf gerichtet, mit augenblicklichem Tode sie schreckend. Da entfloh es unwillkürlich ihren Lippen, da nannte sie den Versteck des Gesuchten – des verfolgten Sohnes. Im Nebengemach hört die Gattin, deren Sinne die Angst um den Geliebten verschärft, das Bekenntniß. Einen lauten Schrei ausstoßend, stürzt sie mitten durch ihre Wächter in das andere Zimmer. Die Arme erhoben, außer Stande mit den zitternden Lippen verständliche Worte zu bilden, heftet sie nur einen langen, wilden Blick des Vorwurfs auf die Schwiegermutter. Diese steht wie vernichtet; das plötzliche Ablassen ihrer Quäler, die unerbittliche Rachsucht, die in ihren Gesichtern mit einem aufflammenden Zug des Triumphes sich mischt, lassen sie mit einem Schlage die Folgen ihres Geständnisses überblicken. In eiligster Hast stürzen die Soldaten die Treppe hinauf, noch eine – weiter bis zum angedeuteten Orte, dem Boden des Hauses. Sie zerstreuen sich umher, werfen Kisten und Geräth beim Suchen polternd durcheinander, bis sie den Gegenstand ihres Hasses, hinter zusammengesteckten hohen Körben und Wirthschaftsgegenständen verborgen, entdeckt haben. Der früher schon seiner Waffen Beraubte richtet sich stolz aus seiner gebückten Stellung in die Höhe und ergiebt sich schweigend und mit verächtlichem Lächeln in das Unvermeidliche.

Petersson ward nach der Hauptwache abgeführt. Nicht lange brauchte er dort im Gefängniß den Todesspruch zu erwarten. Er war darauf gefaßt, es mußte so kommen, und die selber am Erfolg verzagende Fürsprache seiner Mitbürger, die zu seinen Gunsten sich erhob, konnte nichts fruchten. Das Kriegsgericht, das am 3. Juni sich über den Lieutenant Petersson versammelte, fällte nach kurzer Berathung sein Urtheil, das auf Erschießen lautete und am nächsten Morgen zu vollstrecken war.

Nur das treue Weib des dem Tode Verfallenen wollte Nichts zu seiner Rettung ungeschehen lassen. Mit jener Liebe, die Alles erduldet, Alles wagt, versuchte sie das letzte, das Aeußerste für den geliebten Mann. Ihre weinenden Kinder an der Hand eilte sie durch die Straßen von dem Einen zum Andern; auf die Commandantur, auf das Rathhaus, zu den feindlichen Anführern – ach, und fand nur verschlossene Thüren, fruchtloses Bedauern oder harte Zurückweisung. Bis in die Nacht hinein legte sie sich die Folter dieser vergeblichen Anstrengungen auf. Zum Sterben erschöpft sank sie zuletzt auf der Schwelle ihres Hauses zusammen.

Wenige Stunden nachher, am 4. Juni 1809, um vier Uhr in der Frühe, ward das über Petersson gefällte Todesurtheil an ihm vollzogen. Auf eben diesem Walle, den er vor wenig Tagen neu geschaffen, dicht vor dem Thore, wo er mit Tapferkeit gestritten hatte, erfüllten sich seine letzten Augenblicke. Die Schüsse knallten; der zerrissenen Brust entfloh das Leben, und den zusammenbrechenden Leichnam empfing das hinter ihm gähnende Grab. – –

Petersson ward von seinen ehemaligen Mitbürgern zwar im Stillen, aber tief bedauert, und es spricht für die reiche Begabung, die Thatkraft und persönliche Liebenswürdigkeit des Mannes, daß alte Leute in Stralsund, Zeitgenossen dieser Begebenheiten, mit Vorliebe bei diesen Eigenschaften verweilten, als das Bild jener Tage, aufgefrischt aus langer Vergessenheit, in ihrem Gedächtnisse sich wieder aufbaute, heraufbeschworen durch die Fragen der jüngeren Generation und durch die in den letzten Jahren neubelebten Erinnerungen an Schill und seinen Zug nach Stralsund.

Kein Stein, kein noch so einfaches Wahrzeichen macht die Stelle kenntlich, wo Petersson gefallen; aber alljährlich an seinem Todestage ertönt auch für ihn das Glöckchen der Schillscapelle in Westphalen, und wenn ein vaterländisches Herz in dankbarer Wehmuth am Denkmale der dort gefallenen Streiter weilt, so erinnere es sich auch Dessen, der am Ostseestrande mit gleicher Treue, mit gleicher Hingabe für eine vielleicht abenteuerliche und unbesonnene, aber schöne und glanzvolle Idee sich hingab. Wenn „Großes gewollt zu haben groß ist,“ wie es das Wort des römischen Dichters am Grabe Schill’s besagt, so dürfen wir unsere volle Anerkennung, unsere Theilnahme Demjenigen nicht versagen, der die Kraft seines Armes, das Wollen und Fühlen der feurigen Seele, ruhigen Wohlstand, Familienglück und Leben daran setzte, die Idee der Freiheit verwirklichen zu helfen, welche in andern Formen und Verhältnissen, aber ewig dieselbe, in jedem wackern, muthigen Herzen lebt.




Die Dichterin auf rother Erde.

Im Münsterland, auf rother Erde,

„Wo’s schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn,
Und die Ranke häkelt vom Strauche;
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt;
Es schaurig ist, über’s Moor zu geh’n,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche.“

wo das Vorkommen des „second sight“, das Vorgeschichtensehen heimisch ist, das Wunderbare und Mysteriöse sich tief in die Gemüther senkt, um Wohnung darinnen zu machen – dort liegt, von kurzen Eichenalleen und schmalem Graben umschlossen, ein kleiner Edelsitz, „das Ruschhaus“ genannt. Es ist kein stattlicher Herrensitz, dessen Bau in die Höhe ragt, ja, man würde es für ein nach altherkömmlichem Gebrauch aufgeführtes Bauernhaus halten, wenn es nicht größer und ganz massiv von Steinen aufgeführt wäre und es sich nicht an der entgegengesetzten Seite, an seinem Ende, zu einem hübschen, obschon nicht großartigen Herrenhause umgewandelt gezeigt hätte. Hier lag auch der Garten mit seinen Steinfiguren, von welchem aus die hohe Treppe in den Gartensalon führte mit seinem Rococo-Kamin und seiner hinter großer Doppelthür verborgenen, aber an Sonn- und Feiertagen sichtbaren Hauscapelle, der ein hübscher Altar nicht fehlte. Und hier durch die kleinen, niedrigen Entresolzimmer, durch deren farbige gemalte Scheiben die niedergehende Sonne ihre Strahlen wirft, schreitet eine leicht dahinschwebende, fast ganz durchgeistigte, zarte Gestalt. Sie ist über die ersten Jahre der Jugend hinaus, dennoch aber hat ihr ganzes Erscheinen etwas Elfenhaftes, Märchendurchwogtes. Wunderbar blaue Augen sind ihr eigen, während eine Fülle blonden Haares den Scheitel bedeckt. Schwalben und Finken flattern durch ein offen gehaltenes Fenster herein und setzen sich auf Tisch und Sophalehne, während drinnen im hintersten Zimmer, wie im Märchen von Dornröschen, ein altes, altes Mütterchen, ihre Amme, das Spinnrad dreht und den Rest ihrer Tage verträumt. Und nun läßt sie auf das altmodische, mit schwarzer Serge überzogene Kanapee sich nieder, nimmt einen alten Quartband zur Hand und beginnt zu lesen. Von einer Frauenbeschäftigung, wie sie sonst das Boudoir einer Dame zeigt, ist keine Spur; kein Strickstrumpf, keine Nadel, kein Garn, kurz nichts, das auf eine Beschäftigung der Art hinzudeuten vermöchte. Sie liest, die Augen dicht auf das Blatt gesenkt, denn diese blauen wunderbaren Augen sind märchenhaft construirt. Nur das Nahe, das Nächste lassen dieselben unterscheiden, während diese Kurzsichtigkeit doch wieder so wunderbar angethan ist, daß sie in einem Glase Wasser die Infusorien erkennen macht, die sonst ein gewöhnliches Menschenauge nur mit der Lupe bewaffnet oder unter dem Mikroskop gewahr zu werden vermag.

Es ist ein eigenthümliches Buch, das sie liest. Darinnen steht geschrieben, wie man sich unsichtbar zu machen vermöge, mit der Wünschelruthe Quellen finden könne, und was des Wunderbaren mehr der Art. Sie liest es, aber zugleich auch die Randglosse eines Ahnherrn, der dazu geschrieben, daß er das Recept probirt, allein zu keinem glücklichen Resultate gelangt sei. Dennoch, trotz dieser Randglossen, neigt sich ihr Herz glaubensvoll dem Räthselhaften zu. Hat sie doch selber des Wunderbaren genug erfahren! Sie denkt der Stunde, da sie als junges Mädchen, als Kind, von heftiger Lesewuth getrieben, über den Schrank geräth, in dem die Bücher verschlossen waren. Sie findet den Schlüssel wider Erwartung im Schloß; sie nimmt ein Buch heraus, sie liest, unbekümmert um Ort und Zeit, bis der nahende Schritt der Mutter sie aus ihrem Lesen weckt. Sie stellt das Buch hinein, dreht den Schlüssel ab, nimmt ihn mit und wirft ihn, wie sie dies auch später noch immer geglaubt, von Angst getrieben, ohne Ueberlegung, in den Hausgraben. Der Schlüssel wird gesucht, Niemand findet ihn. Da richtet sie, die nicht nach demselben gefragt wurde, ihr heißes, kindliches Gebet um Hülfe

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_620.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)