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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

um vielleicht in Folge eines raschen Gedankens gleich wieder bei der Hand zu sein. Es standen ehrenwerthe Namen auf den kleinen, rothen Vignetten, Namen, vor denen die ganze Welt sich beugt und die hier in einem ärmlichen Erdenwinkel den ganzen Segen ihres Wirkens in ein von der sogenannten Welt völlig ausgeschlossenes Gemüth streuten. Der alte Maler, der Magdalene im Zeichnen unterrichtet hatte, war ein vielseitig gebildeter Mann gewesen. Er hatte das junge Mädchen zuerst auf den kostbaren Schatz im Glasschranke aufmerksam gemacht und ihr nach und nach selbst die Bücher in die Hand gegeben, wie sie in strenger Reihenfolge ihrem sich ungemein rasch entwickelnden, feurigen Geist nützen mußten. Nach stillschweigender Uebereinkunft zwischen ihm und der Seejungfer brachte er stets die langen Winterabende im warmen, gemüthlichen Stübchen derselben zu und las, von Suschens unermüdlich schnurrendem Spinnrad traulich accompagnirt, Magdalenen vor, oder erklärte ihr die Stellen, die ihr dunkel geblieben waren. Als ein von der undankbaren Welt vergessener Mann war er jedoch nicht ohne Bitterkeit. Ein entschiedener Feind der meisten socialen Einrichtungen, zog er oft mit schneidender Ironie gegen dieselben zu Felde und beleuchtete grell ihre Lächerlichkeiten und Widersprüche. Daß diese Saat üppig ausschoß in einem jungen Herzen, dessen heißes Empfinden überall an die zurückweisenden Schranken der Welt stieß und so in sich verglühen mußte, konnte wohl nicht anders sein. Auf diese Weise kam es, daß, während der Geist des jungen Mädchens jubelnd das Reich der Ideale betrat, welches ihr alter Freund in den Werken großer Meister vor ihr aufschloß, ihr Gemüth einem finsteren Dämon verfiel, dem tiefsten Mißtrauen gegen die Menschen, geschöpft aus den Lebenserfahrungen des verbitterten Alten und aus einer trüben Kindheit.

Magdalene hatte den Kopf an die Fensterbekleidung gelehnt. Sie merkte es nicht, daß eine kleine Weinranke von draußen hereinkam und sich schmeichelnd auf ihr Haar legte; auch den kleinen, vorwitzigen Sperling sah sie nicht, der nahe an ihre Schulter herantrippelte und Brodkrumen suchte, die sie ihm oft hinstreute. Sie blickte träumerisch vor sich hin und hielt in der herabgesunkenen Hand mehrere zusammengeheftete Papiere. Es waren alte, vergilbte Blätter, eine Anzahl von dem verstorbenen Leberecht zierlich geschriebener Verse enthaltend – Gedichte voll Schwung und Gluth, voll tiefen Leidens und schmerzlicher Resignation. Auf dem Titelblatt stand „An Friederike“.

Langsame Tritte draußen auf der knarrenden Treppe schreckten das junge Mädchen aus ihrem Nachsinnen auf. Sie eilte nach der Thür und nahm der eintretenden Seejungfer einen leeren Korb und den Mantel ab, den sie sorgfältig an den Nagel hing, dann schob sie der Muhme den alten Sorgenstuhl des verstorbenen Schusters hin und holte den Nachmittagskaffee aus der Küche. Die Seejungfer sah ihrer Geschäftigkeit freundlich zu, gleichwohl hatte sie einen etwas mürrischen, unzufriedenen Zug um den Mund, der sich auch durchaus nicht unterdrücken lassen wollte. Sie sagte deshalb, nachdem sie die schwarze Bürgerhaube der Schonung wegen mit einer buntkattunenen Hausmütze vertauscht hatte:

„Höre, Lenchen, ich bin der Frau Schmidt begegnet. Sie wollte mir zehn Groschen geben, weil Du sie durchaus nicht genommen hättest, sagte sie. Guck, mein Töchterchen,“ fuhr die Alte fort, „es heißt in der Bibel: ‚Brich dem Hungrigen dein Brod’, das hat mir mein seliger Vater oft genug gesagt, obgleich es bei uns nicht ein einziges Mal vorgekommen ist, daß sich ein Anderer an den Spruch gehalten hätte, und wir waren manchmal recht in Noth. Na, das thut nichts, ich hab’ mich mein Lebtag an das Wort Gottes gehalten, so viel ich konnte: aber es hat Alles seine Grenzen … Da hast Du nun einen ganzen Tag fest gearbeitet an dem Leichencarmen für der Schmidt ihr Kind, hast viel schönere Rosen und andere Sachen darauf gemalt, als Du bei weit reicheren Leuten schon gemacht hast – und nun nimmst Du nicht einmal das Geld dafür, das Du sauer genug verdient hast … Zehn Groschen sind für uns viel Geld, Lenchen, und der Schmidt ihr Kind wär’ ebenso selig geworden, wenn sie ihm ein Sträußchen Buchsbaum aus den Sarg gelegt hätte, statt des Sprüchleins und der gemalten Blumen auf dem weißen Seidenband.“

„Muhme, das ist nicht Euer Ernst!“ entgegnete das Mädchen und seine erst von einer sanften Freundlichkeit beseelten Züge nahmen einen Ausdruck von Strenge an. „Seht mich einmal an, Muhme. Wißt Ihr noch, wie die Schmidt die Hände fast blutig rang und verzweiflungsvoll weinte und schrie, als ihr der liebe Gott das kleine Mädchen, den Trost ihrer Augen, ihre ganze Glückseligkeit aus dieser Welt, nahm? … Könnt Ihr Euch nicht denken, daß darin noch ein geringer Trost, eine wehmüthige Freude liegt, wenn wir das, was wir begraben müssen, wenigstens bis zu dem Augenblicke, wo es unseren Blicken entzogen wird, mit den höchsten äußeren Ehren, die wir zu geben vermögen, mit jedem sichtbaren Ausdruck unserer Zärtlichkeit überhäufen können? Und soll eine arme Mutter darin nicht gerade so fühlen, wie eine reiche? … Seid nicht bös, Muhme, ich konnte das Geld nicht nehmen, an dem die Thränen des armen Weibes hingen.“

„Ja, da sprichst Du nun wieder wie ein Buch, und Unsereins kann nichts darauf sagen. Aber, Lenchen, wenn Du’s immer so machen willst, da wirst Du Dein Lebtag zu nichts kommen.“

„Seid ohne Sorgen, Muhme,“ erwiderte das junge Mädchen nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit. „Ihr wißt selbst am Besten, wie viel Leichencarmen mir schon bezahlt worden sind, ohne daß ich nöthig gehabt hätte, mich zu weigern … Ihr habt das Geld der Schmidt gelassen, nicht wahr, Muhme?“

„I freilich, da Du’s nicht nehmen wolltest, da durft’ ich schon gar nicht, aber geärgert hab’ ich mich doch, hab’s auch gleich dem Jacob gesagt, der gerade dazukam. Aber der ist nicht um ein Haar anders, als Du; ‚Recht hat das Veilchen’, sagte er und ließ mich stehen.“

Der Blick der Seejungfer fiel jetzt auf das geschriebene Heft, das noch auf dem Tische lag.

„Was hast Du denn da?“ fragte sie.

„Geschriebenes vom Vetter Leberecht,“ sagte das Mädchen. „Es lag in einem Buch ganz droben im Glasschrank. Ich hatte bis jetzt die Klammern daran nicht aufgemacht; aber heute, als ich den Schrank innen säubern wollte, da stürzte es herunter und da fiel das Heft heraus.“

„Ja,“ sagte die Alte, und eine tiefe Rührung überflog ihre Züge, „das sind schöne Liederverschen, die der Leberecht wahrscheinlich aus seinen Büchern abgeschrieben hat … Ich hab’ ihm oft in seiner Krankheit dies Schreibbüchlein auf’s Bett legen müssen, bis er’s am Tage vor seinem Tode selbst in das große Buch geschoben hat.“

„Muhme Suschen, hat denn der Vetter Leberecht ein Mädchen lieb gehabt?“ fragte plötzlich Magdalene.

Die Seejungfer, die bei aller Rührung eben ein Stück Semmel zum Munde führen wollte, hielt so erstaunt inne, als sei sie eben gefragt worden, ob der Wald blau sei und der Himmel grün.

„Was Du aber auch immer für närrisches Zeug auf’s Tapet bringst!“ sagte sie endlich. „Der Leberecht, der stille, ernsthafte Mensch, der weder rechts noch links sah und immer seinen Weg fein gesetzt ging – nein!“

„Nun, deswegen könnte er doch geliebt haben.“

„Ja, wen denn? … Es gab freilich damals hübsche Bürgerstöchter genug und die Weiberstühle waren immer zum Brechen voll, wenn er predigte, aber angesehen hat er Keine. Er ging ja auch zu gar keiner Menschenseele und steckte den ganzen Tag zu Hause. Nur einigemal in der Woche kam er zu dem gestrengen Herrn Bürgermeister Werner und gab dem Jungen Stunden.“

„Waren auch Töchter da?“

„Freilich, eine – nu, Du wirst doch nicht gar glauben, daß der Leberecht so dumm gewesen sei, sich in die Friederike zu verlieben, das stolzeste Mädchen in der ganzen Stadt? … Nein, das hätte der Leberecht nie gethan, und wenn er’s auch bis zum Candidaten gebracht hatte – er war doch nur ein Schusterssohn, und das hat er nie vergessen. Da wäre er aber auch schlecht angekommen, denn Werner’s ganze Sippschaft hatte einen gar erschrecklichen Stolz. Nu, sie wären ja auch reich und vornehm genug! … Tausend noch einmal, in dem Hause soll’s hoch hergegangen sein! Manchmal Sonnabends kam der Bediente und lud den Herrn Candidaten’ auf einen Löffel Suppe zum Sonntag ein. Da ging denn der Leberecht auch immer hin und nahm seine Geige mit – er soll recht schön gespielt haben, ich verstand’s nicht. Und da mußte er immer nach Tische der Familie ein Stückchen ausspielen und die Friederike sang auch … Aber er hat auch viel Aerger dort gehabt, denn der Junge, dem er das Lateinische beibringen mußte, hat ihm viel zu schaffen gemacht, es war gar eine böse, nichtsnutzige Range … ist nachher aber doch ein vornehmer Mann und Bürgermeister geworden.“

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