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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Mülhausen, das Eldorado der Arbeiter.[1]
Von Albert Grün.
III.
Bedingungen für die Benutzung der Restauration. – Die Kleinkinderschule. – Die Junggesellenwohnungen. – Eine kleine Arbeiterwohnung. – Unterstützungen der Wöchnerinnen. – Einer der Gründer der Arbeiterstadt. – Die Volkscurse und ihre Theilnehmer. – Entstehung und Wachsthum der Arbeiterstadt. – Ihre Resultate.

Wir wurden nicht müde die Restauration, diese wahre Musteranstalt zu loben.

„Und doch drängen sich nicht Alle zu, denen es nöthig und heilsam wäre,“ gab uns unser Führer zur Antwort, „gewisse Beschränkungen, die zum Gedeihen der Restauration unumgänglich waren, halten Viele zurück. Zuerst muß jeden Tag baar gezahlt werden, und um das zu können, muß man ein ordentlicher Haushälter sein; dann ist keinerlei überlautes Wesen, Tumult oder Unordnung gestattet, kein Rauchen, nicht einmal das Anzünden der Pfeife vor dem Weggehen, endlich wird Keinem mehr als ein halber Schoppen Wein verabreicht, damit die Restauration nicht zur Kneipe für die liederlichen, zur Vogelscheuche für jeden ordentlichen Mann werde. Da verstecken sich denn die Zuchtlosen hinter allerlei Vorwände, schlucken lieber in andern Kosthäusern Massen heißen Wassers nebst saft- und kraftlosem Gras und Stroh und beweisen zum tausendsten Male, daß gegen den Blödsinn Götter selbst vergebens kämpfen.“

Als wir durch den Bäckerladen zurückgingen, erzählte unser Arbeiter, daß man in der Cité nicht nur das Brod, sondern sämmtliche Lebensmittel aus Magazinen zum Engros-Preise haben könne: Eß- und Kramwaaren, Hausgeräth und Bettzeug, fertige Kleider und Schuhe, ja daß die Steinkohlen, weil man sie als die bei Weitem wohlfeilste Feuerung mit allen Mitteln zu verbreiten suche, seit vielen Jahren unter dem Einkaufspreise abgegeben worden seien.

Der Pfarrer sah ihn groß an, griff nach seinem Taschenbuche und wollte schreiben, steckte es aber mit einem „Ueberflüssig!“ wieder ein und wünschte die Bibliothek zu sehen. Auch ich hatte mich darauf gefreut, die sechszehnhundert Bände zu durchmustern, um zu wissen, welchen Geist man durch die eintansend Leser, die man im verflossenen Jahre zählte, in der Cité verbreitet, leider war Niemand da, der die Mittel oder das Recht hatte, uns den Eintritt zu ermöglichen, und so mußten wir uns mit der allerdings werthvollen Versicherung unseres Führers begnügen, es seien „lauter vernünftige und schöne Bücher“. Nach den in Mülhausen herrschenden Gesinnungen ist jedenfalls mit Sicherheit anzunehmen, daß die Auswahl weder vom gouvernementalen, noch vom einseitig religiösen Standpunkt getroffen worden.

Wir verließen den Bau in der gehobensten Stimmung; der Himmel schien uns noch einmal so klar, der Schnee noch einmal so rein, die ganze Umgebung trotz der winterlichen Oede reizend. Wie glänzten uns jetzt mit ihren Spiegelscheiben die für anspruchsvollere Miether und Käufer errichteten, von außen vornehmen, im Innern hohen und weiten größeren Wohnungen entgegen, deren man nach und nach vierzehn errichtet hat und von denen bereits acht, zu sechszehn- bis siebenzehntausend Franken jede, verkauft sind. Wie köstlich erschien uns und war auch wirklich die elegante Kinderschule (Salle d’asile) in ihrem baumreichen, freundlich umgitterten Hofe, mit ihrem lachend grün gefärbten Vordache aus leichtem Gußeisen, den frischrothen, gefällig geschwungenen Fensterdecken und der blendend weißen Mauer – kein Zuchthaus, ein wahres Asyl, in dem zweihundert und fünfzig bis dreihundert Kindlein in hohen Sälen bei einer Vorsteherin und zwei Gehülfinnen beider Confessionen mütterliche Pflege und erste Unterweisung finden. Es wurde uns fast des Guten zu viel, denn auch das Genießen hat seine Grenze, und da obendrein unser trefflicher Führer uns verlassen mußte, so beschlossen wir, nur noch die Junggesellen-Wohnung und eins der kleineren Arbeiterhäuschen anzusehen und dann der Cité den Rücken zu wenden – auf Wiedersehen natürlich. So lautete auch der Gruß, den wir nach kräftigem Handschlage dem wackern Arbeiter zuriefen, der, nachdem er uns unserm nächsten Ziele zugeführt, unter Ablehnung jeglichen Dankes seiner Wege ging. Ich mag nicht leugnen, daß wir ihm mit einer wahren Verehrung nachsahen, bis er an einer Ecke verschwand.

Das vor uns liegende Gebäude mit der Aufschrift: „Chambres garnies pour hommes“ wird von einem besonderen Geranten verwaltet. Von außen jedem großen Hause ähnlich, hat es auch im Innern nichts Casernenartiges; eher erinnert es an eines jener heimeligen Klöster, die Einen fast zum Mönche machen könnten. Die einzelnen Zimmer, siebenzehn an der Zahl, münden wie Zellen auf lange Gänge und halten durch Ausdehnung und Helle jeden Vergleich mit einem Gefängniß fern. Ein lichter Raum von hundert Quadratfuß mit gutem Bette, mit Commode, Tisch und zwei Stühlen ist ein Aufenthaltsort, den sich Jeder gefallen lassen kann, zumal wenn ihm als Ersatz für den fehlenden Ofen ein den ganzen Winter hindurch geöffneter gemeinschaftlicher Saal zu Gebote steht. Und das Alles hat man einschließlich des Leinenzeugs und der Aufwartung für sechs Franken monatlich, d. h. für neunzehn Thaler jährlich. Auch ist das Haus, obgleich die Insassen Punkt zehn Uhr Abends zu Hause sein müssen, beständig besetzt, und mit einem zweiten und dritten würde es ebenso sein, wenn die Verwaltung nicht Anstand nähme, sie zu errichten; sie fürchtet mit Recht, zu viel junges Volk in die Cité zu ziehen und dadurch ihre sittlichen Zustände zu gefährden.

Aus den kleineren Wohnungen, die, nur aus Keller, Erdgeschoß und Speicher bestehend, auf nicht mehr als zweitausend vierhundert bis zweitausend sechshundert und fünfzig Franken zu stehen kommen und deren am äußersten Ende der Cité etwa achtzig, in zwanzig Pavillons gruppirt, beisammenliegen, nahmen wir die erste beste. Eine junge Frau, die augenscheinlich nicht weit von ihrer Niederkunft war, öffnete, nachdem wir das auch hier als Küche benutzte Vorhaus durchschritten, auf unser Klopfen die Stubenthür und bat uns in schlechtem Französisch, einzutreten. Das etwa fünfzehn Fuß lange und ebenso breite Zimmer, hinter welchem man durch eine halbgeöffnete Thür in die Schlafkammer von derselben Länge und halber Breite sah, war beengend warm und erschien unserm verwöhnten Auge etwas unordentlich und ärmlich. Wenig angenehm berührten uns die der Ausbesserung sehr bedürftigen Hemden und sonstigen Kleidungsstücke, die massenweise auf Tisch und Stühlen umherlagen, und die kleinen Fenstergardinen von rothem Kattun, auf denen die Sonne stand, warfen einen grellen und doch unreinen Wiederschein umher. Unsere Mienen mochten eine gewisse Unbefriedigtheit verrathen, denn die Frau sagte entschuldigend, sie und ihr Mann seien noch Anfänger und in ihrem jetzigen Zustande könne sie auch nicht säubern und ordnen, wie sie gern möchte.

„Das wird aber,“ fuhr sie lebhaft fort, „bald anders werden. Als Junggesell, wo mein Mann in der Stadt wohnte, verbrauchte er Alles, was er verdiente; ob ich einen Sou mehr oder weniger habe, sagte er gewöhnlich, ich bring’ es ja doch zu nichts. Jetzt aber, seitdem wir beisammen sind und das Haus hier zu kaufen angefangen, trinkt und spielt er gar nicht mehr, sondern legt jeden Heller zurück, damit wir sobald wie möglich frei werden. Dazu ist er’s nicht allein, der verdient; ich gehe auch in die Spinnerei der Herren Dollfus-Mieg und bringe alle vierzehn Tage ein hübsches Stück Geld heim. Nur jetzt muß ich des Kindbetts wegen acht Wochen zu Haus bleiben, und da will ich die erste Zeit benutzen, unsere Geschichten da ein wenig zu flicken. Sie sehen’s ja,“ schloß sie mit lächelndem Blicke auf die Siebensachen, die uns nun schon ganz anders anmutheten.

„Aber,“ sagte theilnehmend der Pfarrer, „da verdienen Sie ja zwei Monate lang gar nichts und müssen wohl noch obendrein Arzt, Apotheke und Wärterin bezahlen?“

„Das wäre schlimm,“ erwiderte sie mit spöttischer Zuversicht „da müßten unsere Herren nicht sein!“ Und damit lief sie zu einem Schranke und nahm aus einem schwarzgebundenen Gebetbuch mit verblaßtem Goldschnitt ein bedrucktes Papier, das sie uns hinhielt. Ich ergriff es und las in französischer Sprache, was ich zu gefälliger Nachahmung deutsch hier folgen lasse:

  1. S. Nr. 19 und 21.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 552. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_552.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)