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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

„Wir reisen mit Dir, Henry; in Frankreich oder in Deutschland finden wir viele Freunde und gehen der Möglichkeit aus dem Wege, gegen unser Vaterland zu fechten, wo wir für dasselbe nicht einstehen wollen.“

„Nein, sage ich Dir, ich gehe nicht aus dem Lande, das in der Stunde der Noth seine Söhne nöthig hat, denen es während der Zeit seines Glücks den Weg zu Wohlstand und Ehre öffnete.“

„Henry, bedenke, was Du thust. Mein Vater und der Staatssecretair haben sich bereits nach Mississippi hinabbegeben, und Du kannst den von ihnen vorbereiteten Schritt nicht mehr ändern. Der Aufstand ist ausgebrochen, die Staaten sind gerüstet, und sie Beide treten für ein Princip ein, dem auch Dein Vater in Tennessee anhängt.“

„Ich will keinen Theil an der Schuld haben und jetzt, da ich weiß, wie die Sache liegt, reise ich heute noch nach New-York und stelle das deponirte Geld zur Verfügung der neuen Regierung; dann mag sie entscheiden, ob ich der Dieb der Staatsgelder bin oder – Dein Vater!“

„Henry,“ rief die Frau, „nur diese Schmach nicht auf unser Haupt! Laß die Leute in Washington reden, was sie wollen, aber geh’ Du mit mir über’s Meer und rette Dich und uns Alle!“

„Geh Du zurück zu Deinem Vater, Betsy, und laß mich meinen Weg ferner allein wandern, wenn Du ihn nicht theilen willst. Meine Unschuld liegt zu klar am Tage, als daß ich zurückzuschrecken brauchte. Kann Lincoln meine Dienste nicht in seinem Cabinet gebrauchen, so trete ich in’s Militär und leihe meinem Lande meinen Arm, und soll ich fallen im Ringen für meines Landes Recht, so fall’ ich wenigstens als ehrlicher Mann!“

Und er trennte sich nach schwerem Kampfe von einer Frau, an der sein ganzes Herz hing, von der Mutter seines einzigen Kindes, eines lieblichen Knaben von zwei Jahren, und sie schied mit Thränen von ihm, weil sie nicht Muth genug besaß, der Armuth in’s Auge zu sehen und den Eid zu halten, den sie einst in seine Hand gelobte, „in Glück und Unglück, in Armuth und Reichthum“ sein Loos zu theilen. Betsy Gibson ging zu ihrem Vater nach Mississippi, wo sie sich besser versorgt glaubte, als am Herzen des liebenden Gatten.

In größter Aufregung eilte Henry nach New-York. Von den Seinen verlassen, der Spielball der Laune einer blutgierigen Clique, deren Treiben er als rechtlicher Mann verachtete, hoffte er durch klare Darlegung der Thatsachen sich leicht von allem Verdacht reinigen und unter dem Schutze gerechter Richter in sein früheres Amt eintreten oder in anderer Verwendung zur Fahne seines Landes stehen zu können.

In New-York angekommen, sein Gepäck der Sorge des Bagagemeisters überlassend, stürmte er aus dem Bahnhofsgebäude heraus, um sich sofort in’s Banklocal zu verfügen, wo er das Geld in Empfang nehmen und am gleichen Tage nach Washington zurückkehren wollte. Erhitzt, mit bestäubten Kleidern, kam er in Wallstreet an und präsentirte die ihm vom Minister des Innern ausgestellte Zahlungsanweisung. Der Cassirer sah ihn scharf und durchdringend an und fragte ihn, ob er selber Herr Henry Milnor Gibson sei. Als er dies, die verdächtigen Blicke der Beamten nicht bemerkend, offen bejahte, ward er gebeten, Platz zu nehmen, während auf einen von dem Cassirer mit einem jüngern Gehülfen gewechselten Blick sich der Commis entfernte, um bald darauf mit einem Constabler zurückzukehren. In Gedanken versunken, schreckte Henry wie vom Blitz getroffen auf, als der Polizeimann, vor ihn hintretend, die Hand auf seine Schulter legte und die Frage an ihn richtete: „Sind Sie Herr Henry Milnor Gibson aus Washington?“

„Ja, der bin ich,“ entgegnete er.

„Dann muß ich Sie verhaften und bitte Sie, mir ohne weitere Umstände zu folgen.“

„Und mit welchem Rechte thun Sie dies?“ fragte Gibson, im höchsten Grade bestürzt.

„Auf heute Morgen von der Regierung in Washington an die Bankdirection eingegangene telegraphische Ordre, wegen Unterschlagung von Staatsgeldern, die unter Ihrer Verwaltung standen,“ erwiderte ihm der hinzutretende höhere Bankbeamte.

Wie gelähmt stand Gibson da; also er unter der Anklage der Veruntreuung, die Andern zur Last fiel, vor dem Publicum bloßgestellt! Er dachte, wie am nächsten Tage es die ganze Stadt und dann das ganze Land wissen würde; das Land, dem er das Geld retten wollte, so weit er es vermochte. Hier war aber nicht der Ort, darüber zu rechten, der Constabler hatte den Verhaftbefehl und mußte die Person vor den Richter führen; so folgte er demselben willig, mehr todt, als lebend. Die Gemüthserschütterung des Arrestanten berücksichtigend, rief der Polizist einem Fiaker und setzte sich mit seinem Gefangenen hinein. Massen Neugieriger umstanden den Wagen und Jeder wollte wissen, was der Verhaftete verbrochen habe; man schien eine Beraubung der Bank zu vermuthen, da Niemand die Frage beantworten konnte.

Die Tombs, jenes mysteriöse Gebäude der Centrestreet, in dem so manche arme Seele zur Buße und Besserung auf Jahre und Jahrzehnte hinaus seiner Freiheit beraubt wird, lagen jetzt vor unserm muthigen Helden, und schweren Herzens ging er, dem Constabler voran, die steinernen Treppen hinauf. In das Bureau des Polizeirichters eintretend, der den Verhaftbefehl in Empfang nahm und registrirte, ward ihm vor der Hand Nummer zweiundachtzig als Aufenthalt angewiesen und auf seine flehentliche Bitte, ihn bald zum Verhör vorzulassen, ihm der nächste Morgen als Vernehmungstermin bestimmt.

Inzwischen war es dunkel geworden, als ihn Constabler und Schließer in die einsame Zelle führten. Ein Bretstuhl, ein Tisch, ein einfaches, sauberes Bett bildeten das ganze Mobiliar.

„Ich werde Ihnen Ihr Nachtessen bald bringen lassen,“ sagte der wohlgenährte Gefangenwärter zu ihm; „wenn Sie noch etwas Besonderes haben wollen und es bezahlen können, so darf ich es für Sie holen lassen.“

„Ich danke Ihnen für den guten Willen; ich bedarf nichts.“

Da schloß sich die eiserne Thür hinter ihm und er saß allein mit seinem Ingrimm und seinem Schmerz. Angekleidet warf er sich auf’s Lager und verbrachte in dumpfem Brüten die Nacht. Wir wollen es nicht unternehmen, das unendliche Weh des unschuldig Gefangenen zu schildern, solche Schmerzen muß man selber empfinden, um sie ganz zu verstehen. Was aber diese Nacht an seinem Marke zehrte, sah man am nächsten Morgen, als der sonst schwarzgelockte Mann mit grauem Haar vor seine Richter trat. In ihm war ein Entschluß gereift, der eines bessern Zwecks würdig gewesen wäre; er sagte sich, daß trotz seines reinen Herzens selbst sein Eid ihn nicht von dem Verdachte der Theilnahme an dem großartigen Unterschleif befreien würde, da er ohne alle Freunde und ohne die Möglichkeit des Gegenbeweises durch seine Richter verurtheilt werden mußte, und er beschloß zur Rettung der Ehre derer, die ihn jetzt vernichteten, aus unendlicher Liebe zu dem Weibe, welches ihn treulos verlassen, die Schuld auf sich zu nehmen.

Der Proceß war bald beendigt. Henry gestand, das Geld unterschlagen und zum Besten der Secessionsbewegung nach Nashville in Tennessee gesandt zu haben. Die bei der Bank deponirten und auf die Anweisung des Ministers zu erhebenden Capitalien behauptete er als sein und seiner Frau Erbtheil nach England bei Seite zu bringen Willens gewesen zu sein. Mitschuldige zu haben, leugnete er entschieden ab, wie gut konnte er dies auch verleugnen, er der dem Verbrechen so fremd war!

Das Geschwornengericht verurtheilte ihn zu zwölf Jahren Zuchthausstrafe, nicht ohne ihn wegen der Motive zu seiner verbrecherischen Handlung auf’s Schärfste zu geißeln. Mit Ruhe und Fassung nahm er sein Urtheil hin, war er ja vorher schon auf Alles vorbereitet. Am nächsten Abend sollte er nach Blackwell’s Island abgeführt werden.

Erst in seiner engen Zelle brach der Schmerz mit ganzer Gewalt aus und Thränen linderten endlich zum ersten Male, jetzt nachdem sein Loos entschieden war, das blutende Herz. Zwölf lange Jahre ein Sträfling und für immer aus der Gesellschaft ausgestoßen – und doch wollte er es tragen! Wer im Bewußtsein seiner Unschuld eine Strafe leidet, ist übler daran, als der gemeine Taugenichts, mit dem er zusammengespannt wird. Es erfordert Seelenstärke seltener Art, nicht in dem Schlamm zu vergehen, der ihn umgiebt.

Die Strafanstalt zu Blackwell’s Island ist auf einer kleinen Insel im East River nahe bei New-York gelegen und gehört zu den humansten Anstalten, welche die Vereinigten Staaten besitzen; sie wird jedoch nur von schweren und lange internirten Verbrechern bevölkert, während das nahe Singsing die kleinen Diebe aufnimmt. Die Bewachung auf der Insel besteht aus regulärem Militär.

Der Abend des verhängnißvollen Tages sah unsern sich selbst aufopfernden Gibson in seinem neuen Wohnort, und als der kleine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_546.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)