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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Kaum, daß im Jahre ein Dutzend Stücke in Abschuß kommt, während der Zuwachs das Drei- und Vierfache betragen mag. Die Gehänge sind theilweise zu schwer zugänglich und bieten zugleich nach zu vielen Seiten hin bequeme Ausflucht, um die Jagd ausgiebig zu machen. Die zur Winterzeit silberweißen Schneehasen finden sich im obern Gebirge nicht häufig, zahlreicher im angelehnten Mittelgebirge bis gegen die Thäler hin, werden aber auch nicht häufig erbeutet. Bis zu den höchsten Gipfeln lebt das Schneehuhn in kleinen Ketten, während die prächtigen rothfüßigen Steinhühner (Pernisen), obwohl weit schöner als jene, auch in den Felsen und auf den Grasbändern der untern Berge zu finden sind. In allen Bergwäldern balzt im Frühjahr der Birkhahn und läßt sein sonores Kollern von Alp zu Alp ertönen; der herrliche Auerhahn ist überall seltener geworden; das schöne Haselhuhn, die Krone alles Wildgeflügels, erscheint fast überall in den gemischten Waldungen, wird aber nicht zahlreich erlegt. Der schimmernd gefärbte Alpenmauerläufer klettert unablässig an den Felswänden; die Schneefinken finden wir selten und zufällig, zur Winterszeit in ansehnlichen Flügen, während der zutrauliche Alpenflühvogel auf keiner Weide fehlt. Nur ein Alpenwald beherbergt den seltenen, gelbgescheitelten Dreizeherspecht in spärlichen Exemplaren; die nimmermüden Ringdrosseln aber erfüllen im Frühling schon vor Sonnenaufgang alle obern und mittlern Fichtenschläge mit ihrem weithinschallenden Geschmetter. Der König aller Alpenvögel, der kühne Steinadler („Berggyr“) hat wohl kein Dutzend Horste im ganzen Gebirgsstock und wird am seltensten erbeutet. Ein Horst ob dem Säntissee wird fast alljährlich der Jungen beraubt, ohne von den Alten aufgegeben zu werden. Unter den weißen und braunen Hasen und allen Hühnerarten richten diese Capitalräuber große Verwüstungen an und stoßen selbst auf ziemlich große Ziegen und Schafe. Die großen Raubthiere haben schon seit Beginn dieses Jahrhunderts unser Gebirge verlassen; in ältern Zeiten fehlte es weder an Luchsen noch Wölfen und Bären, und in der vorhistorischen Periode waren die kolossalen Höhlenbären hier zu Hause, die in der großen Höhle neben der Felseneinsiedelei des Wildkirchli’s ihre Knochen zahlreich zurückgelassen haben.

Gewiß, – ein interessantes Stück Alpenwelt, auf Vorposten gestellt; aber noch weit anziehender, als in seiner großartig malerischen Gebirgsbildung und seiner reichen Thier- und Pflanzenwelt, durch die so ganz verschiedenartig gestalteten, in sich abgeschlossenen Bevölkerungsfamilien, die sich rings am Fuße des Säntisstockes angesiedelt haben. Es ist als ob die Manigfaltigkeit der Naturbildungen sich in der Verschiedenartigkeit der menschlichen Cultur mit all ihren Contrasten abspiegle.

Im eigentlichen Schooße dieses Gebirges treffen wir gar keine ständigen menschlichen Bewohner. Kein Dörfchen, nicht einmal ein nennenswerther Weiler findet in der obern Bergregion hier die Bedingungen eines behaglichen Daseins, während doch das südliche Centralgebirge, namentlich im rhätischen Lande, noch Dörfer und Weiler in einer Meereshöhe zählt, die bis an tausend Fuß zum Säntisgipfel hinanreicht. Ringsum stehen hier die Dörfer am Fuße der Vorberge und Ausläufer, und nur die Sennen dehnen ihre sömmerlichen Streifzüge über alle Flanken hin bis in den Schooß des Gebirgsstockes aus.

Unter diesen Anwohnern des Säntis unterscheiden wir deutlich vier verschiedene Volksfamilien mit ausgesprochenem Culturcharakter.

Längs der ganzen Ostkette wohnen die Rheinthaler tief am Fuße derselben, echte Tiefthalleute. Ihr Gelände, ein reicher, theilweise noch nicht entwässerter Alluvialboden, wird vom Vater Rhein bespült und gelegentlich auch überfluthet, und die Eisenbahn vom Bodenseegestade her durchzieht es seiner ganzen Länge nach bis zur Pforte der rhätischen Alpen, immer noch harrend der Fortsetzung über und durch diese nach dem sonnigern Wälschland. Wir haben also hier ein vorgeschrittenes Culturvölklein, aber doch noch wesentlich agricoler Art. Auf reichem Ackerboden baut es seinen Mais, sein Getreide und seine Kartoffeln, und an den sonnigen Halden, in denen der Bergzug im Tiefthale aufsteht, zieht es seinen würzigen und feinen Rothwein in Fülle. Die Gemeinden und Corporationen sind reich an Grundbesitz, die Einzelnen durchschnittlich ziemlich wohlhabend; die Industrie tritt sporadisch auf, Handel und Wandel bezieht sich wesentlich auf Naturproducte und Bedürfnisse des täglichen Lebens; in den Rheinufergemeinden lockt der verführerische Schmuggel Viele auf gefährliche Pfade. Die confessionell gemischte Bevölkerung ist intelligent, im Besitze ziemlich guter Schulen, aber, wie das häufig bei gutem Klima und Boden der Fall ist, ohne allzugroße Rührigkeit.

Die zweite Gruppe, am Südfuße des Gebirgsstockes, bewohnt das ganze Hochthal der Thur, den obersten Theil des „Toggenburgs,“ zwischen dem Säntisstock und der Churfirstenkette. Es ist ein vorwiegend protestantisches Hirtenvölklein, alten Sitten und Gebräuchen zugethan, in rauhen Höhen dem kargen Boden mühsam des Lebens Nothdurft abgewinnend. Das oberste, freundliche Dörflein Wildhaus liegt dreitausend vierhundert Fuß über dem Meere; es ist der Geburtsort des großen Schweizerreformators Ulrich Zwingli, in dessen Charakter sich die echte Toggenburgerart, der verständige praktische Blick, die rührige Energie, die einfache Sitte, das ernste, fromme Gemüth seiner Landsleute so treu widerspiegelt. Das Völklein ist nicht wohlhabend, aber ohne allzugroße

    auch nicht ganz zu vollziehen vermag. Dicht unter der höchsten Spitze birgt sich in der Felswüste eine aus rohen Steinmauern gefügte enge Herberge, um die zahlreichen Besucher aufzunehmen, welche das ungeheure Panorama der Spitze zu bewundern kommen. Der Zugang zu dieser ist so sicher und leicht, daß ihn sehr häufig auch das schöne Geschlecht wagt.
    Gegenüber aber starrt mit seinen finstern, gigantischen Felsenwänden der zweithöchste Gipfel des Gebirgsstockes, der unwirthliche Altmann (7444 Fuß über dem Meere) empor. Seine höchste Kuppe ist eine schmale, langgedehnte Wand, fast ohne alle Vegetationsansätze, aus grobzerrissenem, und millionenfältig feingespaltenem, gelbem Kalk bestehend, früher für unersteiglich gehalten – in der That nur durch mühseliges, nicht ganz gefahrloses Klettern erreichbar.
    Vom Säntisgipfel streicht nordöstlich ein steiler Binnenzug bis zum Seealpthal hinaus. Auf jeder Seite desselben liegt eine Alp; aber auch diese Alpen contrastiren in den schärfsten Formen. Während die Meglisalp eine weite grüne Wanne bildet mit einem Alphüttendörfchen und sanften, ihrer köstlichen Futterkräuter wegen berühmten Weiden, hängt die parallele Mesmeralp rauh und zerrissen, hütten- und weidearm, von Schrattengräthen und Schrunden durchfurcht, steil an wilden Bergflanken.
    Die vier Seelein des Gebirges bilden wiederum vier verschiedene Typen von Alpenteichen. Keines gleicht dem andern, aber von jedem finden wir im Bereiche der Centralalpen zahllose Copieen. Das Wildseelein (7000 Fuß über der Meeresfläche) ist eine todte Schneemulde, die oft Jahre lang nicht aufthaut. Der fischlose Fählensee birgt seine dunkeln, grünblauen Fluthen in einer langen, tiefen, auf dem Grunde stark zerklüfteten Felsenschale, mit spärlicher Vegetation an seinem Saume. Der Säntissee dagegen ist ein seichter Teich in flachem kahlem Rietboden. Er lehnt sich an die östliche Hauptkette und steht durch ein enges Wasserthor mit einem tief im Innern des Berges liegenden, wahrscheinlich weit größern Wasserbecken in Verbindung und ergießt seinen Ueberfluß jenseits in’s Rheinthal. Zu diesem innern Bergsee vermag kein Menschenauge vorzudringen; aber die auffallend blassen, fast weißlich gefärbten Forellen, die zeitweise aus dem innern See hervorkommen und im äußern gefangen werden, zeugen von jenen lichtlosen, orkischen Fluthen. Den vierten Typus endlich stellt uns der Seealpsee vor Augen, ein tiefblauer Spiegel, in dem sich die herrlichen Felsterrassen und Gipfel seiner Umgebung widerspiegeln, der einzige Appenzellersee, dessen Ufer, wenigstens zum Theil, malerische Buchwaldgruppen schmücken. Er ist tief und beherbergt große Forellen. Früh im Winter pflegt er zuzufrieren, und die zahlreichen Gemsen, die sich dann gerne aus den Flühen in das von Menschen nicht besuchte Seealpthal zurückziehen, kreuzen auf dem überschnellen Eisspiegel unbedenklich, meiden aber sorgfältig die Nähe der lebendigen warmen Grund- und Uferquellen.
    Wir könnten die reichen Contraste, in denen sich die herrliche Gebirgswelt des Säntisstockes unaufhörlich individualisirt, viel weiter verfolgen; doch genüge hier das kurz Angedeutete und wir fügen nur noch bei, daß auch ihre Pflanzen- und Thierwelt eben so mannigfaltig ist, und in den höhern Regionen einen echt hochalpinen Charakter verräth. Oberhalb der Waldgrenze, die auch hier, wie fast überall im schweizerischen Alpengebiete, leider von Jahrzehnd zu Jahrzehnd immer tiefer thalwärts zurückweicht, krönt die Krummholzkiefer häufig lothrechte Felswände und öde Flühen; in den Weiden wuchern auf den hochfetten Hüttenplätzen die Alpenampfern, Bühnen, Germerstauden und Eisenhüte; die hohe punktirte und die gelbe Gentiane sind durch die Wurzelgräber selten geworden; die Alpenrosen kleiden mit ihrem schmucken Blattgrün und ihren zierlichen Glockensträußen überall die Felsköpfe und Halden aus und steigen an verborgenen Stellen bis tief gegen das Thal hinunter. Sobald der Schnee weicht, sprießen aus dem fahlen Alpenboden die feingezahnten Glöcklein der Soldanellen und bald darauf auch die tiefblaue, großblumige Gentiane, die herrliche außen grauwollige, röthliche Frühlingsanemone, während die duftigen gelben Aurikeln, dann die zahlreichen Steinbrecharten, die leuchtende Hauswurz sich an die Felsen heften. Höher im Gebirge schmückt das Edelweiß, für das der Wanderer eine wunderliche Vorliebe hegt, die vanilleduftende Mannstreu, Schnee- und Eisgentiane, die rosenartige Silene, der niedliche Mannsschild, die niedrigen Schafgarben, die kleinen Arelien etc. noch zahllose Humusplätzchen, wo alle reichere Vegetation längst zurückgeblieben ist.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_524.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)