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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Sie leugnet es, wie Du, weil sie mir gut ist. O, gäbe der Himmel, daß ich es nicht gewesen wäre! Ich bin es aber, ich bin es! Wenn ich an diese Schande denke, so können sich alle meine Gedanken verkehren und ineinander verwirren!“

„Kein Wunder!“ rief die Mutter jammernd. „Du sprichst im Fieber, Du mußt einen Löffel voll von den Tropfen einnehmen. Wo hast Du die Flasche? Das wird Dich ruhiger machen. Aber noch besser, ich schicke gleich hinunter zum alten Balthasar –“

„Ich will ihn nicht!“ fuhr Balbina ganz schreckenbleich zusammen. „Ich brauch ihn nicht! Willst Du mich todt machen?“

„Also nicht,“ versetzte die Mutter, allen Launen der Kranken nachgebend. „Sei ruhig; er soll nicht kommen, bis Du ihn haben willst!“

„Laß mich allein,“ sprach Balbina, „das hilft mir am Besten. Ich lege mich – ich bin so müde – ein Stündlein Schlaf und mir wird wieder gut werden, so gut, als es sein kann, wenn man in einer Kirche an die Wand gemalt ist!“

Sie taumelte bis an’s Bett und fiel hinein. Die Mutter nahm ihr die Golddraht-Haube und alle lästigen Kleidungsstücke ab, worauf sie sich entfernte, da Balbina inzwischen die Augen geschlossen und sich nicht mehr geregt hatte.

Als die Mutter dann herabgekommen war, sagte sie zur Kuhmagd:

„Sag’ mir, um Gotteswillen, was ist denn mit der Malerei in der Kapelle? Balbina ist wie närrisch!“

„Nichts ist es,“ versetzte die Kuhmagd. „Gar nichts. Ich habe es der Balbina auch schon gesagt. Sie rappelt! Sie rappelt, wenn sie es sagt! Keinem Menschen ist so Etwas in den Sinn gekommen, ich bin lange genug in der Kapelle vor dem Bild dagestanden. Aber, Frau, merkst Du denn nicht, was mit ihr ist? Ich bin jetzt den dritten Sommer hier und habe selbst gesehen, daß Balbina um Himmelfahrt herum jedesmal ganz aus dem Häuschen ist!“

„O, Du hast Recht, Du hast Recht,“ stimmte die Alte klagend ihr bei.

„Sobald aber die Zeit weiter kommt,“ fuhr die Kuhmagd fort, „wird es besser und geht vorüber, und so wird es auch diesmal sein.“

„Gott geb’ es!“ wünschte die Mutter, die Hände faltend. „Gott geb’ es!“

„Die Leute müssen doch Recht haben,“ sprach die Kuhmagd weiter, „wenn sie sagen, daß sie noch immer an den Veit denkt. Es soll gerade Himmelfahrt gewesen sein, als er auf und davon ist.“

„Sehr möglich,“ erwiderte die Frau, „aber an dem Unglück ist nur mein Mann – Gott hab’ ihn selig! – schuld. Er war zu streng, zu hart und konnte den Veit nicht leiden –“

„Nach so langer Zeit,“ bemerkte die Kuhmagd, „sollte es auch schon ruhen. Die gestrige Nacht kann Balbina auch nicht viel geschlafen haben. Ich hörte sie, so oft ich erwachte, über mir herumgehen und sich bewegen.“

„O ich auch, ich auch,“ sagte die Mutter. „Mein Gott, mein Gott! Ein einziges Kind hab’ ich, aber ich weiß nicht, ob ich mehr Sorgen hätte, wenn ich ihrer zehn, wie meine Schwester, hätte!“

Sie hatte sich darauf in die Stube begeben, wo sie sich zu den ersten Bissen zwang, da sie seit dem Morgen Nichts zu sich genommen hatte. Die Nacht war hereingebrochen und Balbina hatte sich in ihrer Kammer noch immer nicht gerührt, wie oft auch die besorgte Mutter heraufgekommen war und an ihrer Thür gelauscht hatte. Der Himmel hatte sich umzogen. Die Wolken gingen zwar noch sehr hoch, weissagten aber den Ausbruch eines Gewitters. Ein wüthender Sturm heulte an den Felswänden, die Bäume auf den Höhen rauschten, wie wilde Wasserfälle.

Die alte Frau hatte lange gewacht, um bei der Hand zu sein, wenn Balbina sich melden oder herunterkommcn sollte, bis ihr auf ein Mal die Augen von selbst zugefallen waren. Es war Mitternacht längst vorüber, als sie plötzlich munter wurde. Ohne Zweifel war sie von den Tritten geweckt worden, welche sie schon im leisen Schlafe mütterlicher Besorgniß durch die Decke hindurch vernommen hatte. Sie griff nach der Oellampe, um sich sogleich hinauf zu verfügen, als in dem Moment die ganze Zimmerdecke widerhallte, wie wenn in der oberen Kammer ein schwerer Gegenstand zu Boden geworfen worden wäre.

Athemlos kam die Alte oben an. Die Kammer war stockfinster, aber der Schein der Oellampe zeigte ihr sofort Balbina, welche auf dem Rücken, der ganzen Länge nach, auf dem Boden lag.

„Balbina!“ rief die Mutter außer sich, allein ihre Mienen ebneten sich, als die Tochter auf den Ruf sich zusammengerafft hatte und sogleich emporgesprungen war.

Balbina’s Aussehen war verstört, das Haar wirr, das Gesicht von einer eigenthümlichnn, von höchster Aufregung zeugenden Blässe, auf der Stirn und um die Nase herum hingen leichte Schweißperlen.

„Gottlob, daß Du kommst, Mutter!“ rief sie mit wilder Lebhaftigkeit. „Um mich wär’ es sonst geschehn! Laß mich nie mehr allein, o es ist gräßlich, ich halte es nicht aus! Sie kommen – sie kommen gewiß wieder und schleppen mich mit sich fort! Laß mich nicht allein, liebste Mutter, oder Du siehst mich nie wieder! Sie kommen gewiß und passen mich ab – ach, lieber sollte mich der Satan anfassen, als diese Kerle mit solchen entsetzlichen Gesichtern!“

„Grundgütiger Heiland!“ schrie die Mutter, die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. „Bist Du bei Trost? Niemand will Dir Etwas thun, alle Leute haben Dich lieb, nur Du quälst Dich allein und mich mit Dir! Das ist sauber! Ich denke, Du schläfst –“

„Ich habe geschlafen,“ fiel ihr Balbina in’s Wort, „aber die Träume, die Träume! Das sollte nicht sein! Wie in Verzweiflung bin ich aus dem Bett gefahren und bin hier an das offene Fenster getreten und habe die Hände gefaltet und drüben auf die drei Kreuze geschaut und zum Erlöser gebetet und ihn mit Thränen inbrünstig um Hülfe angefleht, daß sich ein Stein meiner erbarmt hätte! Da – höre doch, Mutter! – da fangen sich drüben die Kreuze zu bewegen an, ja – schüttle nicht den Kopf – die Kreuze gingen herum, ich habe es nicht blos gesehen, sondern auch gehört, wie das schwere Holz auf den Steinplatten angeschlagen hat! Da kommen sie heran, immer näher, immer näher, und als ich ganz deutlich sehen kann, sind es nicht drei Kreuze, sondern nur zwei! Es sind die Kreuze, auf welchen die Schacher hängen – diese kommen heran, Christus hat sich garnicht gerührt, er allein hat sich von seinem Fleck nicht gerührt!“

„O hör’ auf!“ schrie die Mutter, die es kalt überlief.

„Wenn es nur aus wäre,“ fuhr Balbina noch exaltirter fort. „Die Schächer kommen und stellen sich hier an diesem Fenster ganz knapp vor mich hin. Ich war wie starr. Ihre Gesichter kann ich in diesem Leben nie wieder vergessen! Sie erheben die Köpfe, sie arbeiten sich einen Arm aus den Stricken los, mit dem andern halten sie sich an den Kreuzen – ich sehe, wie sie nach mir langen wollen, dennoch kann ich nicht vom Fenster fort! Ich habe Todesangst, ich will davonrennen, aber meine Füße sind Blei. Endlich kommen die zwei schrecklichen Arme fast bis an mich heran – da fall’ ich vor Entsetzen zurück und das war das Glück! Mit ihren Fingerspitzen haben sie mich schon berührt!“

„Unglückliche,“ klagte die Mutter, „aber doch nicht unglücklicher, als ich es bin! Wie soll ich Dir von diesen tollen Einfällen helfen! Komm’ und setze Dich auf das Bett neben mich und sage mir und beichte mir einmal aufrichtig, was Dir ist und was Dich auf solche Gedanken bringt! Vor Deiner Mutter sollst Du nicht immer wie das Buch mit den sieben Siegeln sein. Komm’, komm’, meine einzige Balbina!“

„Ja, Mutter,“ sagte Balbina mit einer beinahe schüchternen Fügsamkeit, als wenn ihr sonst starker Wille vollständig gebrochen wäre. „Doch sei so gut und schließe das Fenster zuvor recht fest zu!“

Die Mutter hatte das Fenster geschlossen und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett, auf welches sich Balbina bereits niedergelassen hatte.

„Nicht wahr,“ begann die Mutter vertraulich, „Du denkst immerfort an den Veit –“

„Ja,“ versetzte die Tochter, sehr lebhaft auffahrend, „an ihn und Alles, was darumhängt, und das ist mein Fluch!“

„So haben die Leute wirklich Recht,“ warf die Mutter hin.

„Die Leute haben Recht!“ sagte Balbina, „und auch der Maler hat Recht! Ich habe geschwiegen, so lange es Niemand gewußt hat, als ich allein, und wenn ich es Dir noch immer nicht gestehe, so hörst Du es morgen von allen Leuten an allen Ecken ohnedies! Hilf mir, rathe mir! Ich will es Dir so erzählen,

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