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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

und Handeln sich mißliebig gemacht, und als der bekannte Dörnberg’sche Aufstand in Hessen ausbrach, dem leider ein so rasches, trübes Ende wurde, war auch seines Bleibens nicht länger in der Stadt, und er verließ Cassel in eiligster Flucht, Frau und Kinder in drückendsten Nahrungssorgen zurücklassend. Louise nähte und arbeitete für Andere. Doch der Verdienst reicht nicht aus; ein Nervenfieber hat die Mutter ergriffen – die Sorge steht an der Thür. Jacob Grimm, der bewährte Freund des Hauses, kommt, er hat vom Geheimen Hofrath Harnier den Zustand der Frau und die Lage der Tochter erfahren. Linkisch, freundlich macht er sich am Clavier zu schaffen, ja, er ist sogar bemüht, unter verlegenem Lächeln mit einem Finger, wie Kinder zu thun pflegen, die mit vielsagendem Blick verstohlen am Instrument stehen, einzelne Töne anzuschlagen. Aber der tiefgelehrte, der unübertroffene, freundliche Kinder- und Hausmärchen Sammelnde und Erzählende bringt keine zusammenhängende Melodie, keine harmonische Tonfolge hervor, er wendet sich lächelnd ab, schließt das Clavier und sagt, sich zur emsig arbeitenden Louise wendend: „Ich würde Ihnen ein schlechter Schüler sein! Da sang vorhin, als ich kam, ein Junge Ihr Lied: ‚Nach Sevilla!‘ auf der Straße. Er brüllte es laut genug, aber ich habe dennoch keinen Ton gefaßt!“ Und freundlich, wie er gekommen, verließ er das Zimmer. Als Louise später ihr Instrument wieder öffnete, fand sie ein Sümmchen Geld wohl eingewickelt auf den Tasten liegen. Der kindlich-große Gelehrte hatte auf diese Weise seine milde Liebesgabe der jugendlichen Freundin zukommen lassen.

Als Louise später einsam nach Hamburg übersiedelte, um im Hause der Frau Sillem, empfohlen von dem berühmten Klasing, sich ihren Unterhalt durch Privatunterricht zu erwerben, war und wurde sie auch hier von ihren Freunden, zu denen sich auch der Wandsbecker Bote Claudius gesellte, nicht vergessen. Alle bewahrten der Vielgeprüften ein warmes, theilnehmendes Herz bis an ihr Lebensende.

Und als der Tag ihrer Auflösung nahte, der 17. November des Jahres 1826 kam, da war es ihre liebste, ihre beste Schülerin, die sie gebildet, die Polin Sophie Linsky, die frühere kühne Seiltänzerin, welche sich zum Instrument setzte und der Sterbenden das Weihnachtslied sang, das die Scheidende vor Jahren componirte: „Welche Morgenröthen wallen …“

Das Angesicht der Sterbenden verschönte sich, ein himmlisches Lächeln glitt über die sonst schmerzdurchfurchten Züge; auf den Schwingen der selbsterschaffenen Melodie entschwebte ihr Geist.

Draußen aber war es Nacht geworden, Stille herrschte für einen Augenblick auf der Straße. Burschen gingen vorüber. Sie sangen fröhlich und laut, heiter in die kalte Novemberluft hinein:

„In Sevilla, in Sevilla,
Weiß ich wohl ein reines Stübchen,
Helle Küche, stille Kammer,
In dem Hause wohnt mein Liebchen;
Und am Pförtchen glänzt ein Hammer:
Poch’ ich, macht die Jungfrau auf!“

Louise Reichardt hatte nicht umsonst gelebt. In ihrem Liede lebte sie fort. Es ist noch heute nicht vergessen.

Acht Jahre später aber, in der Mitte Februars des Jahres 1834 waren die Straßen Berlins, die zum Halle’schen Thore führten, mit einer unübersehbaren Menge Leidtragender und Schauender überfüllt. Schleiermacher war gestorben, man trug ihn zum Grabe hinaus.

Fr. Brunold.




Aus dem Tagebuche eines hypochondrischen Laien.
I.

Die Gartenlaube, diese Hausfreundin aller Stände und Lehrerin in allen Fächern, hat, in anerkennungswerther Fürsorge für Leib und Geist ihrer Leser, so oft schon Medicinisches und Diätetisches in ihren Spalten gebracht, daß sie auch die Erfahrung eines Laien zur Heilung eines Uebels nicht verschmähen wird, das von Aerzten, als lediglich solchen, selten richtig beurtheilt und darum selten auch geheilt wird; – ich meine das sehr verbreitete, in seinen Folgen so gefährliche und doch so wenig gewürdigte Uebel der Hypochondrie.

Ja, die Hypochondrie ist eine Krankheit, nicht eine eingebildete, wofür sie selbst von Aerzten oft irrthümlich erkannt wird, sondern eine wirkliche, eine meist traurig wirkliche.

Während aber die meisten andern Kranken einer dreifachen Wohlthat genießen: des ärztlichen Beistandes, einer rücksichtsvollen Behandlung und Pflege und der Wahrnehmung aufrichtigen Mitleids, theilt der an Schwermuth Leidende meist keine dieser Wohlthaten: er sucht ärztlichen Rath nicht, weil er sein Leiden nicht für ein körperliches hält; es wird nicht die nöthige Rücksicht auf seinen Zustand genommen, weil die Nothwendigkeit solcher Rücksicht nicht klar genug erkannt wird; er genießt endlich auch der wohlthuenden Theilnahme nicht, weil sich sein Schmerz nicht sichtbar genug äußert, weil Niemand die Größe desselben auch nur entfernt ahnt, – weil der an Schwermuth Leidende nicht, wie andere Kranke, jammert und stöhnt, über seinen Zustand mehr verschlossen als mittheilsam ist.

Und wie die Hypochondrie eine Krankheit ist, so giebt es für diese Krankheit auch Heilmittel, die in Nachstehendem mitgetheilt werden sollen, nachdem zuvor die Begriffsbestimmung der Hypochondrie festgestellt, die Quellen derselben aufgesucht und die Folgen gezeigt sein werden.




Wie der Arzt einen Kranken nicht mit gutem Erfolg zu behandeln vermag, wenn er nicht die Krankheit, die er verbannen soll, an ihren Merkmalen deutlich erkannt hat, so ist auch keinerlei Selbstheilung möglich, wenn der Leidende sich nicht über seinen Zustand klar ist, wenn er sein Uebel nicht mit dem rechten Namen zu benennen weiß. Die Begriffsbestimmung ist daher auch bei einem Rathgeber gegen Hypochondrie wesentlich, damit man das Eintreten des Krankheit schon an ihren Symptomen erkenne und vorbeuge, oder die Krankheit selbst an ihrem bereits ausgebildeten Charakter und die zweckdienlichsten Heilmittel anwende.

Hypochondrie ist, nach der Ansicht eines hypochondrischen Laien, derjenige Zustand eines Menschen, in welchem die Thätigkeit des Nervensystems in den Unterleibsorganen, bald durch äußere Veranlassung, bald ohne dieselbe, herabgestimmt, dagegen dieselbe Thätigkeit nach andern Richtungen hin erhöht wird, wodurch daher das an diesem Uebel leidende Individuum empfindlicher und reizbarer ist, als es vor diesem Zustande zu sein pflegte, so daß das Bewußtsein, welches der Hypochondrist von äußeren oder von inneren Eindrücken erhält, meistens ein krankhaft gesteigertes ist.

Nur durch den Grad und die Dauer des Uebels unterscheidet sich die Hypochondrie von der Melancholie; denn auch unter dieser verstehen Psychologen eine vorherrschende Neigung zur Traurigkeit bei vollkommenem Bewußtsein und ohne wirkliche Störung der Geistesthätigkeiten, oder diejenige Art des gestörten Gefühlsvermögens, welche in einem fortwährenden Festhalten irgend einer trüben Idee besteht, wobei sich die Geistesthätigkeiten von der Außenwelt meistens ab und fast ausschließlich auf eben diese Idee richten.

Beide Uebel gleichen sich also darin, daß derjenige, welcher daran leidet, durch seine innere Beschaffenheit geneigt ist, immer irgend Etwas zu fürchten, während sie sich dadurch unterscheiden, daß der Hypochondrist zeitweilig durch vernünftige Vorstellungen seine trübe Idee fahren läßt, ja selbst, ohne daß seine Lage und seine Verhältnisse sich irgendwie günstiger gestaltet hätten, durch einen oft nur höchst geringfügigen äußeren Umstand zur ausgelassensten Heiterkeit sich gestimmt fühlt, bei dem hingegen, welcher an Melancholie leidet, nichts den von falschen Grundbegriffen entspringenden Ideengang, der sich immer innerhalb eines angenommenen Kreises bewegt, zu hemmen im Stande ist. Schwermuth also haben beide Zustände gemein, nur steigert sich derselbe bei der Melancholie zu einem steten, starken Trübsinn. Der Weg der Hypochondrie führt zur Melancholie, nicht umgekehrt.

Die Hypochondrie hat entweder einen physischen oder einen psychischen Grund.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_458.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)