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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Du nicht widerstehen kannst, mag auch Deine Vernunft sagen und schreien und raisonniren, so viel sie will. Der Himmel ist so ganz anders dort, so schwer, so verschlossen, wir athmen da nicht unter unserem blauen Firmamente, und unser gedrückter Geist klebt an den Schneeklumpen und kann sich nicht mit zwitschernden Vögeln weit über den irdischen Aberglauben hinaus in den sonnigen Aether erheben.

Aus Alledem folgt, daß die Nachricht von der „seltsamen“ Melancholie mich nicht allzu angenehm berührte, ja, daß ich einen Augenblick schwankte, ob ich mich mit dem guten Grafen George wirklich tête-à-tête in seinem Eulenneste begraben solle. Aber die Schilderung der wundervollen Orangerie, der prachtvollen Erard’schen Pianos und der weichen Schaukelstühle von Krasów (so hieß das Schloß des melancholischen George Kypreanitsch Kras …) bestimmte mich.

„Und übrigens kommen die Anfälle seiner Melancholie stets nur im Winter, sobald der Schnee wirbelt.“

Ich flog also mit dem ersten Sonnenstrahle nach Krasów. Das Schloß war einsam, altmodisch, der Park dicht, verwildert, in allen Ecken standen Rococokästen, in denen ich nach Belieben herumkramen konnte; auch waren stets Nachbargäste da, vor Allem der Arzt Dr. Plazowski aus dem nahen Städtchen Krasów, ein sehr finsterer, aber ausnehmend gelehrter Mann mit großem Erzählertalente, der neben seiner Berufsbeschäftigung hauptsächlich den Aberglauben der verschiedenen Völker studirte und sich besonders mit Vorliebe auf das Studium der Vampyre geworfen hatte, wodurch er beim Grafen natürlich hoch in Gnaden kam. Ganze Abende hindurch hielt er uns mit den blutrünstigsten Schilderungen in Schrecken, die mir, beiläufig gesagt, für den Zustand des Grafen ganz unpassend erscheinen wollten.

Im Sommer wird die Zeit nie zu lang und man hat für die Melancholie und die Langeweile selten oder nie eine Stunde übrig. Es liegt sich so gut im weichen Rasen, im blauen Schatten der breitästigen dunkelgrünen Linden und Kiefern, man zankt in sonnenstillen Höfen oder in kühlen Marställen mit faulen, blaugestreiften Bedienten herum und Abends spielt man die sehnsüchtigen Liebeslieder des unvergleichlichen Jerzy Lubomirski. Das hilft über manchen Tag hinweg.

Aber jeder Sommer macht endlich einem Herbste Platz. So auch jener. Als die ersten Blätter fielen, zerstoben die nachbarlichen Gutsbesitzer in alle vier Winde und spannen sich in ihre gemüthlichen Residenzpaläste ein. Einer nach dem Andern wirbelte davon, wie die dürren Blätter, die der Herbstwind im Parke unter meinem Fenster aufwirbelte, nur wir blieben noch immer in dem finster, kalt und unheimlich gewordenen Schlosse. Ich dachte übrigens auch an’s Fortfliegen.

„Suchen Sie den gnädigen Herrn bald in die Stadt zu bringen,“ flehte mich der alte Kammerdiener Jendrik an, „sonst haben wir die Hölle! Sobald der erste Schnee fällt, fängt die schwarze Melancholie an, und dann kann man nur wahnsinnig werden oder davonlaufen – eine andere Alternative giebt’s nicht. Wir wechseln fast jährlich die Zimmerbedienten. Und nur die Stadt und die Theater und die Bälle und die Zukiernien[1] zerstreuen den gnädigen Herrn. Er ist seit fünf Jahren nicht über den September hier außen geblieben – aber es hat ihn Ueberwindung gekostet, denn das Schloß übt gerade um diese Zeit eine unheimliche Anziehungskraft auf ihn aus – wie der Doctor Plazowski behauptet.“

Ich gähnte dem Grafen allabendlich in’s Gesicht; ich benahm mich unausstehlich und redete ihm zu, er solle nach Jassy, gehen – ich kündigte ihm meine eigene Heimreise nach Mähren an. Das Alles half nichts. „Sie dürfen mich jetzt nicht verlassen,“ sagte er mit seinem nervösen, zuckenden Lächeln, „das wäre undankbar von Ihnen. Ich muß wieder einmal einen Winter hier zubringen, denn der Doctor hält es für nöthig, mich wieder einmal zu ‚beobachten‘. Und allein halte ich’s hier nicht aus. Wenn’s einmal zu schneien angefangen hat, darf ich ja stets erst um zwei Uhr früh einschlafen, sonst würde man mich einmal todt finden. Und allein kann ich nicht wach bleiben. Sie müssen mir helfen, mir Geschichten erzählen, wir werden Schach spielen … Bleiben Sie!“

Der Graf sprach das ganze Jahr über sehr geistreich, sarkastisch und witzig. Es war das erste Mal, daß er wie ein Verrückter sprach. Der Armenier hatte Recht gehabt, als er mir von der totalen physischen und psychischen Veränderung erzählt hatte, die das Nahen des Winters bei dem Geisteskranken hervorbrachte. Das Zittern seiner Lippen war zu einem förmlichen Zucken geworden, seine Augen hatten, wie ich jetzt bei dem ungewissen Dämmerlichte halb furchtsam aufschaute, jeden Ausdruck und ihre schöne glänzend blaue Farbe verloren. Sie waren leer und stier geworden. Sein Gesicht war seltsam beweglich und seine Gesten waren hastig, unruhig. Vielleicht bildete ich mir das Alles nur ein, aber das widerhallende, dunkelgewordene Zimmer wurde mir mit einem Male unheimlich und ich trat auf den dämmerhellen Balcon hinaus, ohne das Gespräch fortzusetzen.

Es stand mir frei, den andern Tag schon abzureisen. Aber hätte ich mich nicht selber auslachen müssen? Es wäre ja eine förmliche Flucht gewesen und wirklich undankbar – ja mehr als undankbar: lächerlich. Und wenn der Aufenthalt in dem Schlosse auf den furchtsamen melancholischen Grafen den Zauber des Schlangenblickes ausübte, so schien er mich wahrhaftig ein wenig angesteckt zu haben, denn auch ich hatte ein seltsames, gruselndes Vergnügen an meiner eigenen Furcht und an meiner sich so unheimlich gestaltenden Umgebung.

Und die Herbstblätter fielen dichter, und die Tage vergingen und wurden finsterer und kälter und trauriger, und ich hüllte mich täglich in dickere Plaids, und Graf George und ich wurden auf unseren Spaziergängen täglich schweigsamer und schweigsamer. Eines Nachmittags hatten wir den Park verlassen und gingen stumm nebeneinander den kleinen See entlang, dessen Oberfläche ganz mit gelben und braunen Blättern bedeckt war. Die Aeste der Bäume starrten schon kahl und leer in die Höhe, und der Himmel lag schwer und weiß und niedrig über uns.

Plötzlich blieben ich und George zugleich stehen und starrten in die Nebelluft hinaus und mein Herz begann stärker zu pochen und ich faßte unwillkürlich seinen Arm. Ich erschrak sonderbarerweise vor einer ganz natürlichen Sache: leichte weiße Schneeflocken umwirbelten uns, anfangs spärlich, dann immer dichter – es war der erste Schnee in diesem Jahre. Ich schaute auf den Grafen. Er war noch blässer als sonst und folgte den tanzenden Flocken mit seinen leeren, unruhigen Augen. – Wenn ich gewußt hätte, dieser Schnee sei der Vorbote einer freien Nacht, in welcher alle bösen Geister ihr Spiel haben durften, und daheim erwarte uns hinter der Thür des Salons ein grinsendes Gerippe mit dem eigenen Kopfe unter dem Arme, ich hätte nicht mehr erschrecken können, als jetzt, wo ich der Worte des alten Jendrik gedachte: „Mit dem ersten Schnee kommen die ersten Anfälle der Melancholie.“

„Kehren wir um?“ fragte ich, unwillkürlich leiser sprechend.

George Kypreanitsch antwortete nicht. Er schüttelte nur den Kopf, nahm meinen Arm unter den seinigen und zog mich weiter. Wir spazierten in dem leichten Gestöber noch eine Stunde herum, bis nach dem Wäldchen hinaus und durch den Park wieder zurück. Als wir im Schlosse ankamen, war es schon ganz finster geworden. Die Diener, die uns in den Gängen begegneten, schauten uns mit stummen, furchtsamen Blicken an, der alte Jendrik, der die Lampe vorantrug, nickte mir zu. Beim Souper klapperten die Messer und Gabeln wie Todtenbeine und George Kypreanitsch sprach noch immer kein Wort.

„Ich fühle mich heut unwohl. Sie werden auf meinem Zimmer

    und aus dem Grabe des Vampyrs ertönt ein Schmatzen, als ob sich ein Schwein am vollen Troge sättige. In den Gängen des bedrohten Hauses braust der Sturm, als sei er darin gefangen und suche einen Ausweg, die Hunde verkriechen sich und die entsetzten Bewohner schleppen Heiligenbilder aus der Kirche herbei und besprengen die Thüren mit Weihwasser.
    In Polen herrscht der Glaube, daß man auch durch die Kleider eines Vampyrs den Vampyrismus erben könne. In der Moldau und der Bukowina gräbt man die Vampyre aus, schneidet ihnen den Kopf ab, mischt ihr Blut mit Mehl und macht Kuchen daraus, deren Genuß vor dem Vampyrismus schützen soll. Im Orient reißt man den verdächtigen Leichnamen das Herz aus der Brust. In Weißrußland schlägt man vielen Gestorbenen einen Nagel in den Kopf, um sie unschädlich zu machen. Auch legt man ihnen einen Rosenstock mit in’s Grab, weil man glaubt, daß sie dadurch am Aufstehen gehindert werden, da das Kleid sich in den Dornen verwickeln muß. Am Grauenhaftesten ausgeschmückt und am Tiefsten im Volksglauben eingewurzelt erscheint dieser Spuk in den rumänischen Ländern, auf den griechischen Inseln und im Balkangebirge. Bei den Serben heißen die Vampyre Bukodlaken, bei den Walachen Muróni, in Griechenland βροντoλάκκοι oder τυμπανιτα, bei den Moslim heißen sie Guls, in Polen upirowe.

  1. Zuckerbäckerläden, welche die Stelle der Kaffeehäuser vertreten.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_411.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)