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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Selbststudien machte, ließ ihn ein armer Landwirth Armstrong an seinem Tische mit essen und gewährte ihm einen Platz am wär­menden Kaminfeuer. Lincoln war schon Congreßmitglied und ein berühmter Advocat, als er hörte, daß der Sohn dieses alten arm gebliebenen Freundes des Mordes angeklagt sei. Auf der Stelle bot er sich als Vertheidiger an. Die Sache schien hoffnungslos zu sein, die bestimmtesten Zeugnisse lagen vor, die öffentliche Meinung war ganz gegen den Angeklagten. Der Tag der Ver­handlung kam; blaß, ein Bild der Hoffnungslosigkeit saß der An­geklagte da und bog sich unter der Wucht der Beweise, die jede neue Zeugenaussage auf ihn wälzte. Der Staatsanwalt hatte nur ganz kurz gesprochen, als Lincoln sich erhob. Seine klare Geschichtserzählung beseitigte die künstliche Verwirrung, die man zum Verderben des Schuldlosen hervorgerufen hatte. Noch eine Zeugenaussage lag lastend in der Wagschale des Schuldig, und diese warf Lincoln mit einem Schlage zu Boden. Der Zeuge hatte den Angeklagten im Mondlicht erkannt, und Lincoln bewies, daß der Mond zu der angegebenen Zeit noch nicht aufgegangen sei. „Wenn noch Gerechtigkeit ist,“ schloß er, „so wird die Sonne, ehe sie untergeht, den Angeklagten als freien Mann bescheinen.“ Und die Sonne stand noch am Himmel, da führte Lincoln den Freigesprochenen der weinenden Mutter zu.

Wie er selbst Stufe auf Stufe erstieg, so führte er auch die Sache, der er sich mit Leib und Seele gewidmet hatte, stufenweise aufwärts. Illinois war ein demokratischer Staat, Lincoln machte ihn zu einem republikanischen. Sobald er in seinem Wohnort Springfield festen Fuß gefaßt hatte, war für ihn der Punkt des Archimedes gefunden, von dem aus er das feste Gefüge der De­mokratie aus den Angeln hob. Er forderte Douglas, den „klei­nen Riesen des Westens“, zu einem Zweikampf auf der Redner­bühne heraus und besiegte den berühmten Obmann der Demokra­ten. In den Congreß gewählt, war er unter denen, welche das Verbot der Sclaverei in dem neuen Staate Texas forderten, der Unermüdlichsten einer. Je klarer das Streben der südlichen Ba­rone wurde, mit Hülfe ihrer Schildknappen im Norden die Scla­venstaaten in die Mehrheit zu bringen, um so eifriger arbeitete Lincoln ihnen entgegen. Um Illinois durch einen Republikaner im Senat vertreten zu lassen, entsagte Lincoln 1855 der eigenen Candidatur und bestimmte alle seine Freunde, den Republikaner Trumbull, dessen Anhang die gute Sache mit einer Stimmenzersplitterung bedrohte, zu wählen. Die Uebergriffe der Sclaven­halter begannen nun die Deutschen, die er stets geachtet und geliebt hatte, zur republikanischen Partei hinüberzuführen. Zu einem Feste in Chicago, dem er beizuwohnen verhindert war, schickte er folgenden Toast: „Unsere deutschen Mitbürger – stets der Frei­heit, der Union und der Verfassung treu, treu der Freiheit, nicht aus Selbstsucht„ sondern aus Princip, nicht der Freiheit für be­sondere Classen von Menschen, sondern für alle Menschen, treu der Union und der Verfassung als den besten Mitteln, jene Freiheit zu fördern – sie leben hoch!“

Nicht als ein Nothbehelf, zu dem man zu greifen gezwungen ist, nein, als einer der besten und edelsten Männer der Partei, wurde Lincoln 1860 von den Republikanern als Candidat für die Präsidentschaft aufgestellt. Kaum war seine Wahl erfolgt„ so beschleunigten die Sclavenhalter in richtiger Würdigung dieses Tod­feindes der Sclaverei ihre Vorbereitungen zum Abfall. An der Schwelle des Weißen Hauses empfing ihn der Bürgerkrieg und schwoll bald genug, von Zehntausenden von Leichen genährt, zu einem Ungeheuer an. Als Lincoln starb, waren dem riesigen Scheusal die Sehnen durchschnitten, Wir haben diesen großen Erfolg mit erlebt und oft gesagt, unter welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten er erreicht worden ist. Aber unsere Blicke haben doch mehr auf den kämpfenden Heeren und Flotten geruht, als auf den Staatsmännern in Washington; das Getöse der Schlach­ten hat uns mehr beschäftigt, als die stille und wenig sichtbare Arbeit des Cabinets, und so werden wir uns wohl jetzt erst bewußt, daß der größere und schönere Antheil des Erfolgs auf die Seite Lincoln’s und seiner Gehülfen fällt. Denn seiner Geduld, Mäßigung und Milde ist es gelungen, den Bundesgenossen zu entwaffnen, ohne den der Süden seinen Aufstand nie begonnen hätte und mit dessen fortdauernder Unterstützung er alle Verluste und Niederlagen hätte ausgleichen können. Lincoln hat durch seine Politik die Demokratie des Nordens besiegt und gesprengt.

Die Ungeduld seiner eigenen Partei zu zügeln, wurde ihm vielleicht noch schwerer, als jener Sieg über seine Gegner. Die Republikaner betrachteten ihn als einen Bevollmächtigten, der einen übernommenen Auftrag rasch und vollständig auszuführen hat. Mehr als einmal suchte man ihn zu zwingen, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, indem man diesen oder jenen General be­stimmte, die Initiative in Abschaffung der Sclaverei zu ergreifen. Lincoln erklärte dann die voreilige Handlung für ungültig und fuhr fort, den rechten Tag und die rechte Stunde abzuwarten. Sah er den günstigen Augenblick gekommen, so handelte er, ohne daß er um eine Linie über die Grenze hinausging, die ihm von dem momentanen Stande der öffentlichen Meinung gezogen wurde. Um das große Ziel ganz sicher zu erreichen, wollte er von dem Volk Alles dahin mitnehmen, was sich überzeugen und gewinnen ließ. In wie hohem Grade er das erreicht hat, beweist die un­geheure Mehrheit, die bei der Präsidentenwahl des vorigen Spät­herbstes für ihn stimmte. Sein überlegener Geist hatte ihm jetzt Vertrauen, seine fleckenlose Rechtlichkeit Achtung, sein warmes Herz Liebe verschafft. Es war jetzt Jedem bekannt, daß dieser Mann, gegen den der Haß seine Pfeile in Wolken fliegen ließ, nicht Gleiches mit Gleichem vergalt und in denen, welche gegen die Union kämpften, nur verirrte Brüder sah. In den letzten Momenten seines Lebens beschäftigte er sich mit nichts so sehr, als mit Abwehr von Handlungen der Rache gegen den Süden, der sich zum Fall neigte. In denselben Berathungen im Angesicht von Petersburg, die den Plan der letzten Entscheidungsschlacht feststellten, schrieb er den Generalen die Bedingungen vor, welche sie dem Gegner gewähren sollten. Wir kennen sie aus Lee’s Ca­pitulation. Der Südländer, gleichviel ob General oder Soldat, der die Waffen niederlege, sollte in die Brüderschaft der Union zurückkehren, als ob nichts geschehen sei. Eben hatte er auf den von Blut rauchenden Schlachtfeldern die Palme des Friedens ge­pflanzt, als die Kugel des Mörders ihn traf. Wie beneidens­werth ist ein Leben, das mit einem solchen Act der Feindesliebe geschlossen hat!

Die Rede, die Lincoln am 12. April in Washington gehalten hat, ist als sein politisches Testament zu betrachten. Sie zieht in großen Zügen die Linien der Politik, die er dem Süden gegen­über beobachten wollte. Alle Kräfte müßten aufgeboten werden, um die praktischen Beziehungen zwischen den abgefallenen Staaten und der Union wieder herzustellen. Man möge sich nie einmischen, wenn man zu gewahren glaube, daß einer jener Staaten sich der neuen Ordnung der Dinge nicht ganz füge. Was sei in Louisiana geschehen? Man habe ihn getadelt, daß er die Verfassung jenes Staates nicht beseitigt, den Farbigen nicht das Wahlrecht bewilligt habe. Allerdings würde es ihm lieber sein„ wenn es dort statt zwölftausend Wähler fünfzigtausend gäbe. „Aber diese zwölftausend Männer des ehemaligen Sclavenstaates haben der Union gehuldigt, eine freie Verfassung angenommen, Schwarzen und Weißen die gleichen Wohlthaten der öffentlichen Schulen ge­schenkt und dem Gesetzgeber die Vollmacht ertheilt, den Farbigen das Wahlrecht zu ertheilen. Wenn die neue Verfassung Louisia­na’s im Verhältniß zu dem, was sie sein sollte, das wäre, was das Ei ist im Verhältniß zum Huhn, kommen wir dann schneller zum Huhn, wenn wir das Ei zerbrechen, oder wenn wir es aus­brüten?“

Nur ein paar Tage verflossen, nachdem Lincoln diese Politik der Selbstconstituirung des Südens empfohlen hatte, und er war als „Tyrann“ ermordet. Sein Werk aber war gethan, zerbrochen waren die Ketten von vier Millionen Sclaven und wieder flatterte das Banner der Union über Charleston und Richmond. In den dankbaren Herzen der Schwarzen wird „Vater Abe“ fortleben für alle Zeiten, die Bürger der Union werden ihn gleich Washington und Jefferson verehren und die Geschichte wird ihn den wenigen Staatsmännern zuzählen, die rein und makellos ihre Bahn gegangen sind und vielleicht in einem Uebermaß von Güte gefehlt, aber nie eines Mißbrauchs der Gewalt sich schuldig gemacht haben.



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