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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

die sich im Centrum zu einem großen, von stattlichen Bauten umstandenen Platze erweitert und über den breiten Oberthorcanal hinweg in der Richtung von Dornach für’s Auge verliert. Links und rechts von dieser Kaiserstraße liegen, durch kleine Gärten von ihr getrennt, allerliebste einstöckige Häuschen, gewöhnlich je vier zu einem völlig freistehenden quadratförmigen Pavillon vereinigt, seltener zu längeren Zeilen aneinandergelehnt, deren Axe dann senkrecht auf der Straße steht. Allenthalben bezeichnet die Farbe des Bewurfs, den inneren Scheidewänden entsprechend, die Grenzen der in sich abgeschlossenen Einzelwohnungen, deren röthliche Thüren und grüne Läden gar frisch und freundlich von dem durchweg lichten Maueranstrich abstechen. Diesseit des Canals fast nur aus zwei Reihen von Gebäuden bestehend, geht jenseit desselben die Cité zu einem weiten Rechteck auseinander, das sich erst zu beiden, dann nur noch auf einer Seite der Hauptstraße hinzieht und dessen Seitenstraßen großen Gartenwegen gleichen, wie gemacht zu behaglichem Lustwandeln. Das Ganze liegt da im Angesichte des prächtigen „Tannenwaldes“ mit herrlicher Fernsicht nach allen Seiten so offen und sicher, so luftig frei, wie – ja, wie die Villen der Nabobs auf dem Berge dort, und wir konnten uns einer ernsten Rührung nicht erwehren, als ein Orgelmann, dem die Kupfermünzen reichlich zuströmten, seinem Kasten gerade hier die Melodie: „Freut Euch des Lebens“ entlockte.

Wir waren der Straße bis zum äußersten Ende gefolgt und wieder umgekehrt, ohne auf irgend eine Einzelheit zu achten; höchstens waren uns die freundliche Salle d’Asile und die eleganten größeren Bauten um die Place Napoleon, wie am Ende der Cité mehrere Häusergruppen besonders aufgefallen, die nur aus einem Erdgeschoß bestanden und statt der Gärtchen bloße Höfe hatten. Erst jetzt fühlten wir uns unbefangen genug, das Auge auf etwas Bestimmtes zu heften, und begannen also unsere Wanderung auf’s Neue. Die durch Hartriegelhecken und grüne Lattenzäune von der Straße und von einander getrennten Gärtchen, verschieden gestaltet, aber von gleicher Größe, schienen uns gar zu lieb mit ihren Linden zur Beschattung des Trottoirs und den Obstbäumen im Innern, an denen hier und da Trockenseile mit sehr präsentabler Wäsche hingen. Und was wir bisher ganz übersehen hatten, diese Gärten glichen sich doch nicht allzusehr. Die einen waren so einfach und vortheilhaft wie möglich in rechtwinklige Beete getheilt und dienten offenbar nur zum Gemüsebau; die andern entfalteten bereits den Schiller’schen Spieltrieb in Form von Blumenrondeelen, gewundenen Spazierwegen, zum Sitzen ladenden grünen Bänken, ja in Dauben und Glorietten, in denen sich’s gar heimlich plaudern muß. Und als wir, dadurch aufmerksam gemacht, einen schärferen Blick auf die Häuser richteten, fand sich gar bald, daß auch hier die abstracte Gleichheit Chimäre sei. Nicht nur, daß der Anstrich bald frischer, bald verwitterter auftrat; offenbar hatten manche dieser Häuschen überhaupt mehr Freude am Leben und standen förmlich herausgeputzt, fast kokett da. Farbige Einfassungen um Thüren und Kreuzstöcke, Doppelfenster mit vor Sauberkeit blitzenden Scheiben und wohlgepflegten Blumen im Zwischenraume, dahinter weiße Vorhänge oder bunte Draperien oder gar Beides zugleich – das machte ja nicht nur den Eindruck der Wohnlichkeit, sondern den des Ueberflusses, des Reichthums!

Ich stand entzückt; der Pfarrer schrieb schon wieder rechts.

„Was wetten Sie,“ sagte ich, „daß diese neiderregenden Wohnungen gekauft, die andern blos gemiethet sind?“

„Nichts!“ erwiderte er; „aber gehen wir doch in eine hinein!“

Ueber die Wahl konnten wir nicht lange zweifelhaft bleiben. Vor einem der nettsten Häuser war ein Mädchen damit beschäftigt, die Hausthür von außen abzuwaschen; ohne weitere Verabredung und unbemerkt, da sie uns den Rücken zuwandte, schritten wir durch das entsprechende Gartenthor auf sie zu. Es war eine kräftige Gestalt über Mittelgröße mit reichem, dunkelbraunem Haarwuchs, in sauberem, etwas crinolinirtem Kattunkleide; um den gebräunten Hals war trotz der Winterkälte nur lose ein leichtes Tüchlein geschlungen. Unwillkürlich dachte ich sie mir schön, als sie sich aber umkehrte, um unsern Gruß überrascht zu erwidern, fand ich mich in etwas enttäuscht. Die Stirn war zu niedrig, die Nase zu formlos, Mund und Kinn zu voll, und die einander fast berührenden Augenbrauen vollendeten den Ausdruck derber Sinnlichkeit, der mir unter andern Umständen unbequem gewesen wäre, hier aber als tröstlicher Gegensatz gegen die bleichsüchtig kränkelnden Gesichter der Arbeiterinnen, wie sie uns gewöhnlich in Roman und Wirklichkeit begegnen, wahrhaft wohl that. Und dazu war das Auge so frisch, so frei, so froh! Gleich im ersten Blicke, den sie auf uns warf, lag etwas so schalkhaft Uebermüthiges, daß er uns heiter gemacht hätte, wären wir’s nicht schon gewesen, und jedenfalls der Unterhaltung von vornherein etwas Lachendes gab.

Auf unsere Bitte, sie möge uns das Innere des Hauses zeigen, sprang sie flink von ihrem Schemel, stieß die Thür auf und mahnte uns durch eine Gebehrde, einzutreten. Wir ließen sie vorausgehen und kamen durch die mit ordentlichem Heerde versehene, weil als Küche benutzte Hausflur, an deren Wänden das Porcellan-, Zinn- und Kupfergeschirr blinkend aufgestellt war, in die rechts daranstoßende, mit zwei Fenstern nach verschiedenen Richtungen versehene, geräumige Wohnstube, in der ein Knabe mit einem Canarienvogel spielte, dessen rothlackirter Käfig zwischen Geranien und Heliotropen an einem der Fenster hing. Das rundliche Bürschlein, das sie uns als ihren Taugenichts von Brüderchen vorstellte, hatte sein Erstaunen über unsere Erscheinung rasch verwunden, schlug keck in die ihm entgegengestreckten Hände und schloß sich uns auf unsrer ferneren Wanderung ganz unbefangen an. Wir betrachteten das hinter der Wohnstube liegende Schlafzimmer der Eltern, das neben zwei mächtigen Betten noch Raum zum Auf- und Abgehen hatte, und tauschten, als wir die beiden Räume so überschauten, flüsternd – denn so etwas sagt man nicht gern laut – das Geständniß aus, daß wir schon schlechter gewohnt hätten. In der That war trotz der blos hölzernen Möbel, des einfachen Ofens und der baumwollenen Vorhänge und Bettüberzüge Alles so bequem, so behaglich, so satt, die Luft so rein, das Licht so klar und der Ausblick in den Garten so traulich, daß einem das Herz aufging.

„Hier ist’s schön!“ sagte tief athemholend der Pfarrer.

„Oben gefällt’s mir noch besser,“ meinte das Mädchen, „man sieht dort freier um sich.“

Und damit stand sie schon wieder in der Küche und überließ es uns, ihr die hinter derselbe emporführende Wendeltreppe hinauf zu folgen.

„Da ist der Keller,“ rief der nachstolpernde Bube und zeigte auf den Eingang unter der Treppe.

Wir konnten es uns nicht versagen, die wenigen Stufen rasch hinunterzusteigen und den ebenfalls hellen, trockenen und wohlgedeckten Raum, der zugleich als Vorrathskammer und Holzmagazin diente, mit großer Zufriedenheit zu betrachten; dann erst folgten wir unserer freundlichen Führerin in den ersten Stock, wo sie mittlerweile zwei Thüren sperrangelweit geöffnet hatte.

„Da rechts,“ sagte sie, und zeigte auf das größere Zimmer, dessen Wände mit Maschinen- und architectonischen Zeichnungen bedeckt waren, schlafen meine Brüder: der Gamin da (dem sie zugleich die Wange tätschelte) und unser Niklas, der in der Ecole industrielle ist. Er soll Mechanicus werden,“ setzte sie sich aufreckend hinzu.

Ich wollte fragen, ob denn der Vater vermögend sei, um das so einrichten zu können, fürchtete aber, sie durch die Nothwendigkeit, eine verneinende Antwort zu geben, in Verlegenheit zu setzen. Ich folgte also meinem Gefährten zwischen den musterhaft gemachten Betten durch an eines der Fenster und fand den früheren Ausspruch des Mädchens reichlich bestätigt. Nach Schwarzwald und Vogesen hin schweifte der Blick fessellos über eine unermeßliche, reich bebaute und mannigfach wechselnde Ebene, die sich nach Norden in einem rosig angehauchten Dufte verlor. Wandelnde Menschen, in der Sonne glitzernde Fenster, dampfende Kamine, fließende Wasser und ein leichter Wind, der die Bäume schaukelte, verbreiteten Leben überall, und doch war wieder Alles still, geräuschlos, feierlich.

Da müsse sich dichten lassen, meinte ich, aber der Pfarrer hörte mich nicht; er schrieb hastig drauf los, immer rechts, und trat dann schweigend in das zweite Gemach, das unsere Führerin als das ihrige bezeichnete. Wenn ich schildern müßte, wie es aussah, würde ich sagen: wie das Mädchen selbst. Nichts Empfindsames, Schwächliches, Weiches; ein robustes Bette, robuste Schränke und Stühle, Alles makellos sauber und lustig gefärbt, und über dem Bette zwei biderbe Bilder: der Dr. Martin Luther mit einem wahren Bullenbeißer-Gesicht und – ein martialischer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_303.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)