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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

F. war darüber wahnsinnig geworden. Schon im Jahre 1856 fiel einem Departements-Rath bei Gelegenheit der Revision der Anstalt das eigenthümliche Benehmen des F. auf. Er nahm davon Notiz und die Bezirks-Regierung forderte die Anstalts-Direction auf: den F., der damals schon seit längerer Zeit in der Isolir-Zelle untergebracht war, wenigstens in ein helleres Local unterzubringen. In Folge dessen wurde F. durch den Anstalts-Arzt untersucht. Der letztere bestritt, daß Wahnsinn vorliege; der Director berichtete dies und erklärte sich gleichzeitig „außer Stande“, dem Gefangenen ein anderes Local anzuweisen.

Im Jahre 1857 kam der Departements-Rath wieder zur Revision und fand auch diesmal den Geisteszustand des F. besorgnißerregend. Der Anstaltsarzt, seinerseits zur Erklärung aufgefordert, wollte indeß noch immer nichts davon wissen, behauptete Simulation und versprach nur, den Gefangenen öfter zu beobachten. Nichtsdestoweniger war F. in der That damals schon gemüthskrank und seinen Mitgefangenen, wie auch denjenigen Beamten der Anstalt, die ihn täglich sahen, war dies vollkommen bekannt. Von früherher galt er – das sagen auch die Führungs-Zeugnisse – als ein frecher und verschmitzter Mensch, verrichtete indeß im Allgemeinen seine Arbeit gut und wußte sich in die Disciplin der Anstalt zu finden. Dies Zeugniß wird ihm mehrfach gegeben. Das Strafverzeichniß haben wir gelesen; sehen wir uns seit dem Jahre 1860, wo die Symptome des Irrsinns immer unzweifelhafter hervortraten, die Acten genauer an.

Am 25. Februar 1861 zeigte der Geistliche der Anstalt an:

„Da der inhaftirte Melchior F. durch sein scandalöses Benehmen während des Gottesdienstes nur Aergerniß giebt und trotz meiner vielfachen Ermahnungen keine Besserung zeigt, so beantrage ich, denselben von dem Besuche des Gottesdienstes auszuschließen.“ Z.

Das geschah denn auch. Vom 25. November 1861 befindet sich bei den Acten folgende Anzeige eines Anstalts-Beamten: „Der Strafgefangene Melchior F., als Weber in der Isolir-Zelle beschäftigt, ist zwar ein sehr fleißiger, aber auch sehr flüchtiger Weber. Wenngleich seiner Arbeit Egalität nicht abgesprochen werden kann, so ermangelt sie doch der Qualität, die sie verkäuflich macht, indem sie stets zu leicht ausfällt und nie den vorgeschriebenen Schuß enthält.“

„Mit Rücksicht auf seinen Geisteszustand (!) sind zeither nur Verwarnungen angewandt und ihm nur ein niederes Material zur Verarbeitung verabfolgt, aber auch dieses ist erfolglos geblieben und fortwährend kommen seine Gewebe um vier bis fünf, ja noch darüber unterm Gewichte heraus, wie das gehorsamst beigefügte Arbeitsbuch ergiebt. Da hierüber bereits vielfach vom Fabrikanten geklagt worden ist und der Werkmeister Anstand nimmt, demselben weiter Kattun zu verabreichen, so verfehle Einer königlichen Direction ich nicht, dieses hiermit zur weiteren Bestimmung gehorsamst anzuzeigen.“

K., den 25./11. 1861

Dieser Beamte constatirt also ausdrücklch, daß der Geisteszustand des Gefangenen zweifelhaft sei. Auf seine Anzeige erging folgende Verfügung:

D.

„F. muß, wie sich von selbst versteht, … (unleserlich) für die zeitherige schlechte Arbeit, demselben 6 Tage Latten-Arrest bei Wasser und Brod.

27.11. 1861. M.“

darunter: „demselben publicirt und das Erforderliche veranlaßt etc.“

Am 28. December 1861 zeigte der Werkmeister wieder an, daß F. schlechte Arbeit geliefert habe. Der Arzt bemerkt daneben:

„Der Melchior F. ist züchtigungsfähig bis zu 10 Hieben.“

Darauf empfängt der Wahnsinnige auf Anordnung der Direction 10 Hiebe und muß den verursachten Schaden mit 4 Thaler 25 Silbergroschen ersetzen!

Am 5. Juni 1862 wieder schlechte Arbeit.

Arzt: Züchtigungsfähig bis zu 10 Hieben.
Verfügung: zwölf Tage Latten-Arrest bei Wasser und Brod.

Am 12. November 1863 wurde F. nochmals ärztlich untersucht. Der Anstaltsarzt hält ihn noch immer für einen Simulanten und empfiehlt nur: ihn bei körperlichen Züchtigungen zu berücksichtigen. Latten-Arrest sei zulässig.

Endlich, am 17. Januar 1864, wird der Wahnsinn durch ein Attest des nämlichen Anstaltsarztes anerkannt. Am Schlusse desselben heißt es:

Dabei arbeitet er jedoch fleißig und liefert sogar Ueberpensa. Das Betragen des Kranken ist weder gegen die Sitten anstößig, noch der eigenen oder der Sicherheit Anderer gefährlich.“

F. wurde nun nach der Provincial-Irrenheil-Anstalt in O. gebracht, wo er sich bis auf Weiteres jetzt noch befindet.[1] Dort erklärte man ihn für unheilbar. Die Krankheit wurde festgestellt als hallucinatorischer Wahnsinn, „der schon seit langen Jahren“ sich ausgebildet habe. Die Ursachen waren verschiedener Art. F. hatte noch eine lange Strafzeit vor sich.

Seit dem 15. September 1853 war er in der Isolir-Zelle. Trotz angestrengter Arbeit, trotz des von den Beamten anerkannten Fleißes kam er nicht weiter, wurde oft und hart gezüchtigt und mußte seinen Ueberverdienst sich auf Schadenersatz abziehen lassen. Dabei mag ihn oft der Gedanke an seine heimathlichen Verhältnisse beunruhigt haben. F. war verheirathet; seine Frau hatte eine Bauernwirthschaft in die Ehe gebracht. Als er das erste Mal zu Zuchthaus verurtheilt wurde, kam das Grundstück wegen der schuldigen Gerichtskosten zum öffentlichen Verkauf. Die Frau gerieth in große Noth und wandte sich einige Male an den Mann mit der Bitte, ihr ein paar Gulden von seinem Arbeitsverdienst zu schicken. Zuletzt hörte der Briefwechsel auf, die Frau mußte entweder gestorben oder nach einer andern Gegend verzogen sein.

In seinen verworrenen Phantasieen bezeichnete sich F. als einen Menschen, der von Jugend auf zum Stehlen angeleitet worden sei. Er glaubte sich fortwährend beobachtet, von bösen Geistern umgeben u. s. w. Man denke sich diesen Unglücklichen in der Einsamkeit seiner dunklen Zelle, wie ihm in Groll über seine Wehrlosigkeit, über das rohe Unrecht, das man ihm thut, allmählich die Sinne schwinden. Den Hoffnungslosen umnachtet der Wahnsinn. Er hat sein Schicksal erfüllen müssen. Trotz alljährlicher Revisionen, bei Gelegenheit deren der Wahnsinn des F. schon im Jahre 1856 erkannt wurde, trotz der Gewissenhaftigkeit des Anstaltsarztes, der den Gefangenen hartnäckig als Simulanten bezeichnet und seinen Irrthum erst im Jahre 1864 eingesteht, wird zur Erleichterung des Kranken nichts gethan, ihm nicht einmal eine hellere Zelle gegeben. Die Sache ist für die Verwaltung vollständig in Ordnung – es befindet sich in den Acten, die sonst sehr vollständig sind, nirgends eine Rüge gegen diese Verwaltung, und der Zuchthaus-Director M. hat seiner Zeit, als er jene Direction niederlegte, den Ruf eines sehr tüchtigen Beamten mit sich genommen.

Wohl möchte man wünschen, die Registraturen und die Strafverzeichnisse der deutschen Zuchthäuser einmal durchgehen zu können. Nach diesem einen Fall, in dem nicht einmal eine Regelwidrigkeit gerügt worden ist, scheint die Vermuthung begründet, daß jene stillen Mauern, in denen ein „tüchtiger Verwaltungsbeamter“ die souveräne Peitsche führt, viel geheimes Unrecht bedecken – trotz der wohlwollenden Absichten des Gesetzgebers und der humanen Richtung des Jahrhunderts. Der Schrei der Unglücklichen dringt nicht über ihre Zelle hinaus; ihre Klage hat nur ein beschränktes Recht – für sie giebt es weniger Recht, sondern nur die Disciplin. Beim Wollezupfen siechen sie langsam dahin, mit gebrochener Kraft kehren sie in ihre Heimath zurück; gewöhnlich befreit sie der Tod schon früher, und stärkere Naturen – übermannt nicht selten der Wahnsinn.

Wir brechen die Reflexion ab – die erzählten Thatsachen eines einzigen, zufällig zu unserer Kenntniß gelangten Falles machen sie überflüssig.

* * *



  1. Man stellt jetzt seine Heimathsverhältnisse fest und wird ihn wohl der betreffenden Commune zuschicken, die dann sehen mag, was sie mit ihm anfängt.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_297.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)