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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Günther vor. Dieser ging mit den besten Empfehlungen nach Dresden, wo sich ihm die ersten Kreise aufthaten. Seine einnehmende Persönlichkeit und sein anerkanntes Talent eröffneten ihm die besten Aussichten; er selbst war entzückt von dem Leben und Treiben der Residenz, wo unter dem verschwenderischen August ein Fest das andere drängte und täglich die glänzendsten Schauspiele sich dem Auge darboten. Alles hing jedoch für Günther von seiner Audienz beim Könige ab und von dem Eindruck, den er auf diesen machen würde.

Unglücklicherweise hatte er einen Mitbewerber um die einträgliche Stelle in der Person des schlechten Gelegenheitsdichters Ulrich König, der in alle Intriguen und Ränke des schlüpfrigen Hoflebens eingeweiht war. Derselbe lebte im vertrautesten Verhältnisse mit einer Opernsängerin, Jungfer Schwarz, welche es übernahm, ihren Galan von dem lästigen Nebenbuhler zu befreien. Da es ihr nicht an Connexionen und Verbindungen fehlte, so war es ihr nicht schwer gefallen, den Tag der Audienz zu erfahren. Hierauf und auf Günther’s Schwäche baute das würdige Paar seinen Plan, um ihn zu verderben. Zur bestimmten Stunde fand sich dieser pünktlich in den Vorzimmern des königlichen Schlosses ein. Da er längere Zeit warten mußte, ehe er vorgelassen wurde, bot ihm ein bestochener Bedienter freundlich ein Glas Wein an, der mit Brechtropfen gemischt war. Die Wirkung blieb nicht aus und als er zu dem König gerufen wurde, war er nicht mehr im Stande, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Mit Mühe nur gewann er die Thür, durch die er verzweifelnd fortstürzte. Seine Gegner verbreiteten das Gerücht, er sei betrunken gewesen, und natürlich konnte von seiner Anstellung nicht ferner mehr die Rede sein. –

Der Stolz und das Bewußtsein des unverschuldeten Mißgeschicks trösteten ihn jedoch bald über den Verlust seiner Aussichten. Zugleich erwachte in ihm die Sehnsucht nach der Heimath und nach Leonoren, die unterdessen Wittwe geworden war. Nach langer Abwesenheit kehrte er in das Elternhaus zurück, um seine Familie wiederzusehen. Hatte er auch nicht das Ziel seiner Wünsche erreicht, so trat er doch mit Ruhm bedeckt, als ein von ganz Deutschland genannter und anerkannter Dichter, seinem strengen Vater entgegen. Dieser aber blieb unversöhnt; er wollte von dem „Versemacher“, von dem „vagabundirenden Hungerleider“ nichts wissen und wies ihn grausam von seiner Thür, ungeachtet der Bitten der Mutter und Schwester. Tief erschüttert und von Neuem in seinem Glauben an die Menschheit wankend, suchte der arme Günther die Geliebte seiner Jugend auf. Es war ein schmerzlich freudiges Wiedersehen; Lust und Trauer wechselten wie Regenschauer und Sonnenschein. Leonorens blasse Wangen verriethen die schweren Leiden und Kämpfe ihrer Seele, aber die Schule des Unglücks hatte sie gereift und mild verklärt. Auf den stürmischen Liebesfrühling war ein sanfter stiller Herbst gefolgt. Hand in Hand saßen wieder die Liebenden, welche sich gegenseitig so viel zu verzeihen hatten und verziehen. Jedes maß sich die größte Schuld bei und suchte das Andere frei zu sprechen. Von der traurigen Vergangenheit war nicht mehr die Rede, sondern von den Hoffnungen der Zukunft. Der Anblick und tröstende Zuspruch Leonorens gaben dem Unglücklichen neue Kraft; er wollte sie verdienen, ihrer würdig werden. Selbst das Studium der Medicin, die ihm sonst so widerwärtig war, erschien ihm jetzt als ein Mittel, ihre Hand zu erwerben. Mit dem Entschlusse, nach Leipzig zurückzukehren, um dort den Doctorgrad zu erlangen, nahm er zum zweiten Male den zärtlichsten Abschied von der Geliebten seines Herzens.

Zunächst aber galt es, die nöthigen Geldmittel zur Ausführung seines Vorhabens sich zu verschaffen; weshalb er sich nach Breslau wandte, wo er alte Freunde und Gönner fand. Von allen Seiten wurde dem gefeierten Dichter die glänzendste Aufnahme zu Theil, welche seiner Eitelkeit schmeichelte. Leicht bewegt ließ er sich von Neuem von dem Strudel des Lebens fortreißen und vergaß im Genusse des Daseins seinen ernsten Zweck. Wie in Leipzig den edlen Mencke, so gewann er auch in Breslau einen väterlichen Freund in dem reichen und hochgebildeten Herrn von Breßler. Derselbe öffnete Günthern sein angesehenes Haus und auf dessen Zukunft bedacht, indem er ihn als Hauslehrer dem Grafen Schaffgotsch empfahl. Bald aber verscherzte Günther die Gunst seines Beschützers, dessen Eifersucht er vielleicht ohne seine Schuld erregte, da die junge, geistvolle Frau von Breßler, die selbst Dichterin war, sich für den talentvollen Poeten lebhaft interessirte. Böse Zungen besprachen das an sich reine und unverfängliche Verhältniß in gehässiger Weise, so daß Herr von Breßler sich veranlaßt sah, den Umgang mit Günther abzubrechen, ohne ihm jedoch seinen Schutz gänzlich zu entziehen. Er aber verließ Breslau und irrte, von nun an wieder den finsteren Mächten verfallen, zwecklos ohne Ziel von einem Ort zum andern, mit Sorge, Noth und Hunger kämpfend. Zu allem Ungemach trat noch Krankheit hinzu; sein kräftiger Körper drohte zu erliegen. An Leib und Seele zerrüttet, wähnte er sich von aller Welt verlassen und der Verzweiflung preisgegeben. In dieser Stimmung schrieb er an Leonoren den Scheidebrief seiner Liebe, indem er feierlich allen Ansprüchen auf ihre Hand und ihr Herz für immer entsagte.

Noch einmal jedoch schien das Glück dem armen Dichter zu lächeln; in seiner höchsten Noth lernte er einen Herrn von Rimptsch kennen, der sich für ihn lebhaft interessirte und ihm in dem Städtchen Kreuzburg die Stelle eines Arztes, für die allerdings Günther am wenigsten geeignet war, verschaffte. Um ihn zu einem regelmäßigen Leben zu gewöhnen, schlug ihm sein neuer Gönner eine Partie mit der Tochter seines Pfarrers Domoratius vor. Günther war schwach genug, darauf einzugehen, erhielt jedoch anfänglich von dem Mädchen und auch von dem Vater einen Korb. Erst auf wiederholtes Zureden des Herrn von Rimptsch entschloß sich Phyllis, welche schon einmal Braut gewesen und betrogen worden war, sich mit Günther zu verloben, unter der Bedingung, daß er sich mit seinem Vater zuvor versöhnen sollte. Es war wohl unbewußte Vorbedeutung, daß er seiner Braut einen Verlobungsring mit einem Todtenkopfe überreichte.

Das Verhältniß mit Phyllis dauerte nur kurze Zeit; das Bild Leonorens mochte ihn wohl von ihrer Seite scheuchen. Er war nicht mehr für ein ruhiges, bürgerliches Leben geschaffen; wieder ergriff er die Flucht und irrte unstät umher, bald ein Unterkommen bei verschiedenen Herrn von Adel suchend, bald vor den Thüren der Gutsbesitzer und Landgeistlichen als Bettler pochend. So kam im Spätherbst noch einmal der verlorene Sohn in das Vaterhaus. Sein Anblick flößte den Seinigen Schrecken und Entsetzen ein; nur mit Mühe ließ sich seine Schwester bewegen, ihn einige Tage versteckt zu halten, da er dem Vater nicht unter die Augen treten durfte. Er wandte sich schriftlich an ihn in einem herzzerreißenden Gedichte, welches zu dem Bedeutendsten gehört, was Günther geschrieben hat. Der Anfang lautet:

„Und wie lange soll ich noch, Dich, mein Vater! selbst zu sprechen
Mit vergeblichem Bemühn, Hoffnung, Glück und Kräfte schwächen?
Macht mein Schmerz dein Blut nickt rege, o so rühre dich dies Blatt,
Das nunmehr die letzte Stärke kindlicher Empfindung hat!
Fünfmal hab ich schon versucht, nur dein Antlitz zu gewinnen,
Fünfmal hast du mich verschmäht!“

Seine Bitten waren umsonst, der harte Vater ließ ihm sein Haus für immer verbieten. Günther aber machte noch einen Versuch, gegen den Willen des Grausamen einzudringen. Elend und gebrochen, mit gefalteten Händen trat er ihm entgegen, auf den Knieen seine Verzeihung anflehend; der Vater aber stieß ihn mit eisener Unbarmherzigkeit zurück, während die kranke Mutter im Bette ihre Hände verzweifelnd rang und die Schwester sich weinend zwischen Beide stürzte. Furchtbar tönte der Fluch des Vaters in den Ohren des Ausgestoßenen, der, wie von Furien gepeitscht, in dunkler, stürmischer Nacht, unter Regen, Schnee und Wind auf der Landstraße weiter irrte, bis er zu Tode erschöpft in Jena anlangte. Ein schleichendes Fieber warf ihn auf das Krankenlager, aber Wochen lang noch zögerte der Tod, den müden Dulder zu erlösen. In diesen bangen Tagen erwachte Günther’s ganze edle Natur, läuterte sich seine Seele von den irdischen Schlacken, richtete er seine Blicke auf die Ewigkeit. Voll Ergebung bereitete er sich auf sein nahes Ende vor, keine Klage, kein Vorwurf entschlüpfte seinen Lippen, sein Herz war voll milder Vergebung, sein Geist voll Sehnsucht nach dem Göttlichen. Die Muse, um die er so schwer gelitten, war ihm allein treu geblieben und tröstete ihn in der bitteren Todesstunde. Wie der Schwan im Sterben, sang auch der Dichter im Angesicht des Grabes seine schönsten und reinsten Lieder, auf deren Schwingen er sich zum Himmel hob. Er selbst setzte sich die folgende Grabschrift:

„Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte.
Mein Pilger, lies geschwind, und wandre deine Bahn,
Sonst steckt dich auch sein Staub mit Lieb’ und Unglück an.“

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