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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 17. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.

„Und wirst Du nicht für den Winter in die Stadt ziehen, lieber Onkel … es ist ja ganz unmöglich, es den Winter über in dieser Einsamkeit auszuhalten!“

Der junge Mann, der diese Worte sprach, stand mit dem Arm an einen Kaminsims gelehnt und blickte dabei auf einen schlanken Herrn mittlerer[WS 1] Größe im Alter von etwa fünfundvierzig Jahren nieder, der sich bequem in einen Lehnsessel gestreckt hatte und in die Flamme blickte, welche im Kamine flackerte und sich sehr wohlthätig in dem kleinen alterthümlich eingerichteten Salon fühlbar machte … draußen herrschte eine feuchte, kühle Nebelluft und verkündete das Nahen des Herbstes.

„Mein lieber Max,“ versetzte der Angeredete, „ich will Dir eine Antwort auf Deine Frage geben und sie mit einer moralischen Nutzanwendung für Dich begleiten, wenn Du mir noch eine von den Cigarren giebst, welche Du rauchst und welche so viel besser sind, als die Deines Onkels …“

„In der That,“ versetzte lächelnd der Neffe, „Du hast eben nicht das Glück, einen Onkel zu besitzen, der so freigebig für Deine Bedürfnisse sorgt, wie ich, und mußt deshalb schlechtere Cigarren rauchen – recht schlechte, nebenbei gesagt – hier ist mein Etui!“

Der Onkel wählte sich eine der Cigarren aus, worauf sein Neffe ihm Feuer darreichte, und dann sagte er mit einem leichten Seufzer: „Sieh, Max, das Leben ist eine lange und schmerzliche Uebung im Verzichten. Ein großes fortgesetztes Entbehren von guten Cigarren und von höheren Glücksgütern, das ist es, was uns die große Welt täglich, stündlich empfinden läßt. Sie zeigt uns unaufhörlich die ganze Fülle der Dinge, denen wir entsagen müssen. Also, was kann man Klügeres thun, als aus der großen Welt fortbleiben? Sich abwenden von dem, was uns einen Stachel in die Seele drückt, weil wir uns dabei sagen: Das Alles, Alles ist nicht für dich! Und deshalb habe ich mich entschlossen, der Welt den Rücken zuzuwenden und sie zu vergessen. Ich werde den Winter hindurch in dieser Einsamkeit bleiben.“

„Ich finde Deine moralische Nutzanwendung nicht ganz moralisch, lieber Onkel, und noch weniger philosophisch. Die große Welt kann nichts haben, was stachelnde Wünsche in einem Manne wie Du hervorriefe, und irdische Güter können unmöglich das Gefühl eines schmerzlichen Entbehrens in Dir erregen!“

„Es ist sehr hübsch, wie Du mir den Text liesest, Max,“ erwiderte lächelnd der Onkel. „Ich habe es immer gesagt, wenn wir Aelteren nichts taugen, so kommt es nur daher, weil unsere jungen Leute uns nicht gut erzogen haben! Und Du, Max, wenn Du Dich um die Erziehung Deines Onkels ein wenig mehr gekümmert hättest, würdest schon längst wahrgenommen haben, daß bei ihm von Philosophie gar nicht zu reden, daß bei ihm ein höchst bedauerlicher Mangel daran zu beklagen ist.“

„In der That, Onkelchen … ist das Dein Ernst?“ versetzte Max lachend. „Nun, Du siehst mich bereit, alles Mögliche zu thun, um Dich in philosophischem Entsagen auf alle Arten von Lebensgenüssen zu stärken … ich werde Dein Theil davon auf mich nehmen und gewissenhaft mit dem meinigen ausschöpfen!“

„Und unterdeß, glaubst Du, werde das Entbehren hier in der Einsamkeit mich zum Philosophen machen? Ach, Ihr junges Volk, wie wenig wißt Ihr davon, wie es uns Aelteren eigentlich um’s Herz ist! Philosophie! Ihr, Ihr habt gut Philosophen sein! So lange man jung ist, so lange man in dem Traume befangen, was wir entbehren, ersehnen, wonach unser ganzes Sein strebt, das Alles werde uns das Leben in der nächsten Zukunft schon ganz pflichtschuldig bringen, da ist es leicht zu harren, sich zu gedulden. Wenn wir aber, wie ich, so ein Jahrzehnt nach dem andern in die Zukunft hinein geharrt und uns in’s Alter hineingeträumt haben – da kommt plötzlich eine Stunde, wo die Geduld ein Ende erreicht. Geht denn dieser Vorhang nie auf, sagen wir uns, vor dem wir so lange saßen und auf dessen Aufrollen wir sehnsuchtsvoll warteten, als ob dahinter eine Fülle glänzenden Glücks verborgen sei? Wann beginnt endlich das Stück Leben, in dem wir eine glänzende Rolle spielen sollen, wie uns das ja schon an der Wiege gesungen ist, wie es unsere Träume ausmalten, unsere Aspirationen uns gewährleisteten? In der That, der Vorhang geht nicht auf, nie; das Stück spielt nicht; die Censur des Schicksals hat es gestrichen! – Sieh, Max, das ist ein sehr unangenehmer Augenblick im Leben, wo wir uns das sagen, wo wir uns nicht mehr verhehlen können, daß wir die Stunden, in denen wir dem Leben hätten abgewinnen können, was es allenfalls noch bietet, in einsam pinselhaftem Hoffen und Sehnen und Warten auf viel höheres, unendlich idealeres Glück verloren haben … und bei dieser unangenehmen Entdeckung mögen viele wohlgeschulte und achtungswerthe Seelen sich den Trost der Philosophie gefallen lassen; sie mögen mit einem alten Autor, etwa mit Boëthius de consolatione philosophiae zu Bett gehen und sich in den Schlaf lesen. Aber es giebt auch Seelen, die anders fühlen und für die ein alter Autor mit allem seinem Troste – ein alter Tröster ist, den sie ingrimmig in die Ecke schleudern, verzweifelnd mit Faust ausrufend:

Und Fluch vor allem der Geduld!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: mittler
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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_257.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2022)