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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

großen geordneten Staats nicht aus, wie derselbe zuerst unser Vaterland in der fränkischen Monarchie mit umfaßte und sich dann als Deutsches Reich selbstständig daraus loslöste. Vielmehr stellte sich die Nothwendigkeit einer einheitlichen Gesammtmacht nach außen, sowie einer höchsten Gewalt im Innern eines solchen großen Reichskörpers bei den häufigen Völkerzusammenstößen und bei der furchtbaren Verwilderung jener Zeit unabweisbar heraus. Das Gebot staatlicher Centralisation, einer Stellung der Staatsgewalt über jenen Stammes- und Gau-Verbänden, behielt daher die Oberhand, weil damit allein die Möglichkeit gegeben war, die auf das Höchste gefährdete nationale Existenz zu behaupten. Mehr und mehr ging daher die Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten in die Hände des Königs und der von ihm eingesetzten Beamten über. Der Gaugraf oder besondere Sendgrafen entboten und beeinflußten den Ding, der bald nicht mehr aus dem Umstand aller Freien, sondern aus theils gewählten, theils berufenen Schöffen bestand. Der Herzog und der Pfalzgraf standen den Stammesangelegenheiten vor, der erstere als Führer des Heerbannes und höchster Verwaltungsbeamter, der letztere an der Spitze der Rechtspflege, Beide in des Königs Namen die Gewalt übend. Hand in Hand damit ging die Veränderung des Heerwesens. Durch die unaufhörlichen weiten und langen Kriegszüge an den Grenzen des weitausgedehnten Reichs wurde der Heerbann, die allgemeine Wehrpflicht aller Freien mit Selbstbewaffnung und Selbstverpflegung immer weniger durchführbar. Dazu kam die Aenderung in Kampfart und Bewaffnung durch Einführung der schweren Reiterei, als Kerntruppe des Heeres, welche viel mehr Uebung und Kostenaufwand erforderte, als der bisherige Dienst zu Fuß. So geschah es, daß sich besondere Classen zu bilden anfingen, von denen die eine den Kriegsdienst zu ihrer Hauptbeschäftigung machte, während die andere, die der Hof- und Reichsbeamten, sich vorzugsweise der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten widmete, worin beide durch die erwähnten Umstände so begünstigt wurden, daß sie sich dieser wichtigen Berufszweige mehr und mehr ausschließlich bemächtigten.

Wenn daher durch diese Umwandlung in der Verfassung unseres Volkes sein politisches Dasein gerettet wurde, so ging sie nicht ohne schwere Einbuße für dasselbe vor sich. Durch Verfall des alten genossenschaftlichen Gemeinwesens mit Betheiligung aller seiner Glieder bei Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten erhielten die altdeutsche Gemeinfreiheit und das darauf gegründete gemeine Volksrecht einen schweren Stoß. Zunächst entwöhnte sich das Volk der Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten. Der Geist der Selbstregierung und Wehrhaftigkeit begann zurückzutreten vor dem sauern Kampf um das äußere Dasein. Ja die ganze sociale Stellung der großen Masse wurde herabgedrückt, und in nothwendigem Zusammenhange damit fiel ihre politische Gleichberechtigung. Wie überhaupt in damaliger Zeit, so waren auch bei unseren Vorfahren Wirthschaft und Erwerb, der ganze Bestand der Gesellschaft im Wesentlichen auf den Ackerbau und seine Nebengewerbe gegründet, bestand das Vermögen hauptsächlich in Grund und Boden, und das bewegliche Eigenthum kam fast nur als Zubehör des letzteren in Betracht. Die wirthschaftliche Selbständigkeit, die Leistungen an Staat und Gemeinde hingen sonach lediglich vom Grundbesitz ab, und dieser war deßhalb auch die unerläßliche Bedingung jeder politischen, ja selbst der privaten Geltung und Vollberechtigung. Nur der freie Mann auf freiem Erbe stand in der Gau- und Volksgemeinde, hatte das Waffenrecht, vollen Rechtsschutz und eine Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten, gegen Uebernahme der öffentlichen Lasten. Wer auf fremdem Grund und Boden, auf dem Eigenthum eines Anderen saß, selbst der Freigeborene, der wurde dem Grundherrn zum Mindesten zins- und dienstpflichtig, schied aus dem gemeinen Recht und wurde dem Hofrecht, der Voigtei jenes unterworfen, der ihn, als seinen Hintersassen, sowohl dem Staate gegenüber, wie in privatrechtlicher Beziehung vor Gericht zu vertreten, ihm Schutz zu gewähren hatte. – – –

War es nun früher schon nicht selten, daß das den Vorvordern bei der Besitzergreifung einer Gegend ertheilte Landloos für den Nachwuchs zu klein wurde, so stürzten jetzt die vielen Aufgebote zu weiten Heerzügen eine Menge kleiner und mittlerer Grundbesitzer in Schulden, daß sie sich auf ihrer Hufe nicht zu behaupten vermochten. Während ein Theil von ihnen geradezu von den Gläubigern aus seinem Besitze vertrieben wurde und durch die Schuldhaft sogar in völlige Knechtschaft gerieth, gaben Andere, um diesem Schicksale zu entgehen, ihre Güter den mächtigern, meist adligen, Grundbesitzern in deren Obereigenthum, indem sie sich nur die Nutzung davon vorbehielten und zu Dienst und Zins verpflichteten. Da sanken denn Viele oer bis dahin Freien in die verschiedenen Grade der Unfreiheit und Hörigkeit bis zur Leibeigenschaft und förmlichen Knechtschaft herab.

So entstanden neben und aus den alten Geburtsständen der Adligen, Freien und Knechte allmählich geschlossene Berufsstände, welche die verschiedenen Functionen und Rechte der Freien im öffentlichen Leben, wie sie die letztern bis dahin in ihren Genossenschaften geübt, unter Begünstigung der Staatsgewalt mehr und mehr an sich zogen. Insbesondere bildete sich, wie wir schon andeuteten, neben einem besonderen Kriegerstande ein Stand der Hof- und Reichs-Beamten, und beide wußten sich bald in dieser Stellung und den ihnen als Sold dafür verliehenen Staatsgütern und Gefällen erblich zu machen. Ihnen gesellte sich der Priesterstand zu, außer seiner kirchlich-religiösen Bestimmung zugleich hauptsächlicher Träger der Zeitbildung und Gelehrsamkeit. Und alle diese Stände schlossen sich gegen die große Masse des Volkes vollständig ab, schieden aus der Gemeinschaft des politischen und des Rechtslebens mit demselben völlig aus, indem sie, gegen Uebernahme gewisser, besonderer Pflichten und Leistungen für das gemeine Wesen, sich gewisse besondere Rechte und Befugnisse beilegten. Diesen Sonderrechten gegenüber wurde das gemeine Volksrecht mit seiner Vertheilung der gemeinen Lasten mehr und mehr unhaltbar, ja, zur unerträglichen Bürde, so daß die Befreiung, die Exemtion davon – die Immunität – als das werthvollste Privilegium galt, welches dem hohen Adel und den kirchlichen Würdenträgern auf ihren großen Landgütern zustand und den königlichen Pfalzen und Kammergütern anklebte.

So bildete sich der Ständestaat aus dem Volksstaate, der Staat der Vorrechte an der Stelle des Rechtsstaates, in welchem das Recht nur in Form von Privilegien, als Ausnahme für Einzelne, anstatt als Regel für Alle, zur Geltung kam. Die ganze gesellschaftliche Existenz, alle politische Geltung knüpfte sich an den Stand. Rechts- und Vermögensfähigkeit, Rechtsschutz und Rechtsverfolgung, Sicherheit der Person und des Eigenthums, die Stimme in den öffentlichen Angelegenheiten, wie die Fähigkeit zu öffentlichen Aemtern, waren nicht Dinge, die Allen aus dem Volke zukamen, vielmehr hingen sie von der Angehörigkeit zu einem Stande ab, dem sie besonders verliehen, kraft eines Privilegiums beigelegt waren. Und diese Unterschiede stellten sich mit der Zeit immer härter heraus, die Lage der niederen Classen wurde immer unleidlicher, je fester sich der Ständestaat gründete und im Feudalstaate seinen Höhepunkt erreichte. Was ursprünglich eine amtliche Thätigkeit im Auftrage der Staatsgewalt war, zum Zweck des gemeinen Wesens, wurde allmählich zum erblichen Privatbesitz gewisser Familien in den privilegirten Ständen, und man kann denken, wie sie diese Stellung bei Handhabung der öffentlichen Gewalt für sich ausnutzten. Immer klaffender that sich der Zwiespalt auf in der bürgerlichen und wirtschaftlichen Stellung, in Recht und Besitz zwischen den bevorrechteten Ständen und der niederen Volksclasse, welche zur völligen Rechtlosigkeit herabsank, und bei der allgemeinen Rohheit jeder Vergewaltigung ausgesetzt war. – Gleich verhängnißvoll zeigte sich die Rückwirkung auf das gemeine Wesen, auf den politischen Bestand des Reichs. Das, was anfangs sich als Rettungsanker der Nation erwiesen hatte, die staatliche Centralisation mit ihrer einheitlich zusammengefaßten Volkskraft, welcher die Volksfreiheit geopfert war, schlug in das Gegentheil um und fand in den von ihr eingesetzten Reichsbeamten, besonders den großen Kronvasallen, sobald diese sich die Erblichkeit angemaßt hatten, ihre gefährlichsten Gegner. So wurde das kaum geschaffene Band gelockert, aber nicht die alte Volksfreiheit trat wieder in ihr Recht, die furchtbarste Knechtschaft brach zugleich mit dem Verfall der Reichsmacht über das Volk herein. Denn indem die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten – so kennzeichneten wir schon oben das Wesen des Feudalstaateszum nutzbaren Privateigenthum privilegirter Stände geworden war, wurden die Gesammtinteressen

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