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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

bestimmt und aus besten Quellen, daß der Dauphin keineswegs im Tempel gestorben, sondern gerettet sei. Steiger stand aber, wie bekannt, mit den höchsten Kreisen der royalistischen Emigration, wie auch mit den Generalen der Vendée, in engen Beziehungen.

Die gäng und gäbe Sage in Betreff der Rettung des Prinzen aus dem Tempel ist, daß dieselbe auf Betreiben von Josephine Beauharnais durch ihren damaligen Liebhaber Barras bewerkstelligt worden sei. Diesen zwei Personen wird, unter Mitwirkung von Hoche, Pichegru, Frotté und dem Creolen Laurent, die Retterrolle auch in der Geschichte des Uhrmachers Naundorff zugetheilt, welcher übrigens, nebenbei bemerkt, von Madame de Rambaud, Amme des Dauphin bis zu dessen Einkerkerung im Tempel, förmlich und feierlich als der echte Sohn Ludwig des Sechszehnten erkannt und anerkannt worden ist. Freilich, die ganze Rettungshistorie des Dauphin, wie Naundorff sie erzählte, ist ein solches Wirrsal von Abenteuerlichkeiten, Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten, daß man sie der Phantasie eines Victor Hugo entsprungen glaubt, welche bekanntlich toll geworden, so sie das nämlich überhaupt erst zu werden brauchte. (??) Es giebt aber auch noch andere Versionen dieser Historie. Eine derselben, von denen geglaubt und verbreitet, welche den geretteten Dauphin in der Person des Richemont erkannten und verehrten, lautet also: „Am 19. Januar von 1794 wurde der Prinz, mit Vorwissen und Beihülfe seines bestochenen Wächters Simon, durch die Herren Frotté und Ojardias, Emissäre des Prinzen von Condé, aus dem Tempel entführt, nachdem man an die Stelle des Entführten einen stummen Knaben von gleichem Alter gebracht hatte. Der gerettete Dauphin aber ward nach der Vendée gebracht, begab sich, nachdem sein angeblicher Tod im Tempel officiell bekannt gemacht worden, zur Armee des Prinzen von Condé und wurde von diesem später (1796) dem General Kleber anvertraut, der ihn für den Sohn eines Verwandten ausgab und ihn als Adjutanten bei sich behielt.“ Weiter brauchen wir diesen Mythus nicht zu verfolgen. Dagegen ist die Frage zu berühren, warum denn der gerettete Prinz nicht sofort bei sämmtlichen Anhängern der Bourbons laute und begeisterte Anerkennung gefunden habe. Hierauf wird uns die ziemlich plausibel lautende Antwort:

In der bourbonischen Familie herrschten bekanntlich schon vor dem Ausbruch der Revolution heftige Zerwürfnisse, und man schrieb insbesondere und allerdings nicht ohne Grund dem schlauen und ehrgeizigen Grafen von Provence, Bruder Ludwig’s des Sechszehnten und nachmals Ludwig der Achtzehnte, die planmäßig verfolgte Absicht zu, die Nachkommenschaft seines älteren Bruders, schon aus Haß gegen Marie Antoinette, zu Grunde zu richten. Als nach dem angeblichen Tode des Dauphin im Tempel der Graf von Provence von einem Theil der Royalisten als legitimer König anerkannt worden war, habe er natürlich Alles daran gesetzt, jedem von seinem geretteten Neffen etwa zu erhebenden Anspruch zum Voraus die Möglichkeit des Gelingens abzuschneiden. Zu diesem Zwecke hätten es Ludwig der Achtzehnte und seine sämmtlichen Anhänger zu einem Glaubensartikel gemacht, daß der Dauphin wirklich im Tempel gestorben sei. Um aber auch der Schwester des Prinzen, der Prinzessin Marie Therese Charlotte, von verzückten Royalisten als „die Waise des Tempels“ glorificirt, welche im December 1795 zum Austausch von Kriegsgefangenen an die Oesterreicher ausgeliefert wurde, die Annahme dieses Glaubensartikels zu belieben, trennte man ihr Interesse von dem ihres Bruders, indem man sie mit dem ältesten Sohne des Grafen von Artois vermählte und ihr damit, maßen Ludwig der Achtzehnte kinderlos, die Aussicht eröffnete, eines Tages Königin von Frankreich zu werden und zwar regierende Königin, da ihr Gemahl, der Herzog von Angoulème, eine entschiedene Null. Hieraus habe man sich denn auch den Umstand zu erklären, daß die Herzogin von Angoulème mit der ganzen Härte und Schärfe ihres Charakters gegen jeden Versuch, sie von der Rettung ihres Bruders aus dem Tempel, von seinem Fortleben, von seinem Dasein zu überzeugen, herb abweisend sich benommen hat.

Und doch war es dieselbe Prinzessin, welche mittelst einer Stelle der berühmten Denkschrift, worin sie ihre Erlebnisse im Tempel aufgezeichnet hat – („Recit des évènements arrivés au Temple“, par Madame Royale) – für die Behauptung, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden und zwar an dem schon erwähnten 19. Januar von 1794, einen sehr bemerkenswerthen Stützpunkt beibrachte. Die gemeinte Stelle ist diese: „Am 19. Januar hörten wir (d. h. die Prinzessin und ihre Tante Elisabeth) bei meinem Bruder – (d. h. im Zimmer desselben) – ein großes Geräusch, welches uns auf die Vermuthung brachte, daß mein Bruder den Tempel verließe, und wir wurden dessen überzeugt, als wir, durch das Schlüsselloch unserer Gefängnißthür blickend, Gepäckstücke wegtragen sahen. An den folgenden Tagen hörten wir die Thür des Zimmers, worin mein Bruder sich befunden hatte, öffnen und vernahmen die Schritte von darin Herumgehenden, was uns in dem Glauben, daß er weggegangen – (will sagen, weggebracht worden sei) noch bestärkte.“

Wir sind aber mit diesem 19. Januar von 1794 noch nicht fertig. Denn es ist eine festgestellte Thatsache, daß gerade an diesem Tage der verrufene Schuster Simon, welcher das Wächteramt bei dem armen Dauphin mit einer Anstellung als Municipalbeamter vertauschte, mit seiner Frau und mit Sack und Pack den Tempel verließ. Thatsache ferner ist es, eine im Verlaufe der oben erwähnten Proceßverhandlung von 1851 als wohlbezeugt erhärtete Thatsache, daß die Wittwe Simon’s, Marie Jeanne Aladame, welche erst am 10. Juni von 1819 gestorben ist und zwar in dem Frauenspital der Sèvres-Straße, den barmherzigen Schwestern, welche daselbst die Krankenpflege besorgten, wiederholt und umständlich erklärt hat, der Dauphin sei nicht im Tempel gestorben, sondern daraus entführt worden, mit ihrer und ihres Mannes Beihülfe, und zwar an demselben Tage, wo sie ihren Auszug bewerkstelligten, am 19. Januar von 1794. Die Entführung sei aber so bewerkstelligt worden. Unter anderem Spielzeug habe man für den Prinzen ein großes Pferd von Pappendeckel anfertigen lassen. In dem Bauche dieses Pferdes wurde das (stumme) Kind, welches man der Person des gefangenen Dauphin unterschob, in den Tempel gebracht. Der Prinz aber ward in einem großen Weidenkorb mit doppeltem Boden verborgen, dieser Korb sodann auf den Wagen gebracht, welcher das Mobiliar Simon’s aus dem Tempel führte, und mit einem Haufen Wäsche bedeckt. Die Wache am Tempelthor untersuchte zwar den Wagen und machte Miene, auch die Wäsche zu durchstöbern; allein Frau Simon wandte dies glücklich ab, indem sie mit gutgespielter Entrüstung die Männer zurückwies, sie bedeutend, das sei ihre schmutzige Wäsche. Also sei der Inhalt des Weidenkorbes ohne weitere Anfechtung aus dem Tempel geschmuggelt worden.

Nun haben freilich alle diejenigen, welchen irgendwie daran liegen mußte, die Ansicht, der Dauphin sei im Tempel gestorben, als die allein richtige aufrecht zu halten, die Behauptung aufgestellt, die Wittwe Simon’s sei, als sie die citirte Mittheilung machte, verrückt gewesen; aber für diese Behauptung ist nicht ein Schatten von Beweis beigebracht worden, während im Gegensatz hierzu die Zeugnisse der barmherzigen Schwestern, die Wittwe Simon habe, als sie ihre Angaben machte, dies bei vollem Verstande gethan, ganz bestimmt lauten. Dieser Einwurf gegen die Erzählung der Frau wäre also beseitigt. Aber war die ganze Aussage vielleicht nur eine Dichtung, mittelst welcher die Wittwe Simon’s die Wucht des gerechten Abscheus mindern wollte, welche auf ihr selbst und auf dem Andenken ihres Mannes lastete? Eine bestimmte Bejahung dieser Frage ist ebenso unmöglich, wie eine bestimmte Verneinung. Indessen muß doch hervorgehoben werden, daß die Ansicht, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden, in den höchsten und allerhöchsten Hofkreisen mißfällig, sehr mißfällig war und daß, wenn Irgendwer, die Wittwe Simon’s sich zu scheuen hatte, das Mißfallen der Machthaber von damals auf sich zu ziehen. Es ist daher durchaus unstatthaft, anzunehmen, die Frau habe ihre Phantasie angestrengt, um Etwas zu ersinnen, was ihr keinen Dank, sondern möglicher Weise nur Verfolgung eintragen konnte.

Die Entführung des Prinzen in der Erzählung der Wittwe Simon’s hätte offenbar das Einverständniß und die Mitwirkung von damals, d. h. im Jahre 1794, einflußreichen Männern zur Voraussetzung gehabt. In dieser Beziehung ist von verschiedenen Seiten her auf Cambacérès hingewiesen worden. Der über gar Manches, was hinter den Coulissen der Revolutionsbühne vor sich gegangen, wohlunterrichtete Verfasser der „Histoire secrète du Directoire“ – man schreibt sie dem Grafen Fabre de l’Aude zu – meint: „Es scheint gewiß, daß man das Publicum hinsichtlich der Zeit und des Ortes, wann und wo Ludwig der Siebzehnte gestorben, getäuscht hat. Cambacérès gab das zu; aber niemals wollte er mittheilen, was er über diese Angelegenheit

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