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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

zechte, hatten seine Baillifs und Seneschalls im ganzen Umfange von Frankreich schon seine strengen Befehle in Händen, mit dem kommenden Tage, dem 13. October, mittels List oder Gewalt aller Templer auf französischem Boden sich zu bemächtigen und dieselben einzukerkern, sowie sämmtliche Besitzthümer, liegende und fahrende Habe des Ordens mit Beschlag zu belegen.

So geschah es, und was am 12. und 13. October von 1307 vorging, gehört mit zu den schnödesten der im Buch der Geschichte verzeichneten Verräthereien. Der hierauf folgende Templerproceß war sowohl als Ganzes wie in seinen Einzelnheiten selbst für jene aftergläubische, recht- und sittenlose, zugleich barbarisch-stupide und tückisch-grausame Zeit ein häßliches Brandmarkmal, eine der höchsten Schandsäulen, welche Königthum und Papstthum mitsammen sich errichtet haben. Es war ein gräuliches Verfahren. Die Folter fungirte als Untersuchungsrichter. Wie sie arbeitete, mag schon das eine Beispiel beleuchten, daß einer der gefolterten Templer im Wahnwitz der Qual und Pein ausgeschrieen hat, er bekenne sich schuldig, den Heiland an’s Kreuz geschlagen zu haben. Das ist ganz analog der Thatsache, daß in deutschen Hexenprocessen als Hexen verklagte neun- und siebenjährige Mädchen auf der Folter bekannten, sie seien zu dem Teufel in Verhältnissen gestanden, welche ganz unmöglich, ja undenkbar waren, auch den Glauben an die Existenz eines Teufels vorausgesetzt. Die Hinrichtungen der Tempelbrüder, welche die Qualen des Kerkers und der Marterbank überlebten, waren massenhaft. In Paris allein erlitten einhundert und dreizehn den Feuertod. An einem und demselben Tage, am 12. Mai von 1310, wurden vierundfünfzig Templer an vor dem St. Antonsthor aufgerichteten Brandpfählen mit langsamem Feuer zu Tode gequält, allesammt inmitten der Pein bis zum letzten Athemzug ihre Unschuld betheuernd. Dies that in feierlichster Weise auch der Großmeister Jacques de Molay, welcher, zugleich mit ihm der Großpräceptor der Normandie, am 11. März von 1313 auf der kleineren Seineinsel, da, wo später die Statue Heinrich’s des Vierten aufgestellt wurde, errichteten Scheiterhaufen bestieg. Dieser Angesichts des Todes abgegebene Protest ist historisch. Die Sage aber, welche in ihrer poetischen Weise der herben Tragik der Geschichte häufig einen versöhnenden Zug beizumischen liebt, will, der unglückliche Molay habe aus den Flammen des Holzstoßes hervor den Papst und den König vor den Thron Gottes geladen. Gewiß ist, daß Clemens der Fünfte am 20. April von 1314 zu Roquemaure an der Rhone starb und Philipp der Schöne am 29. November desselben Jahres zu Fontainebleau.

„Ich werde die Missethaten der Väter strafen an ihren Kindern und Kindeskindern bis in’s siebente Glied.“ Ein schrecklicher Spruch, erbarmungslos, grausam und rachsüchtig, wie der alttestamentliche Judengott, welchem derselbe in den Mund gelegt ist. Und doch, die Bestätigung desselben findet sich auf zahllosen Blättern des Buches der menschheitlichen Geschicke. Denn mit Alles vor sich niederwerfender Gewalt schreitet durch die Weltgeschichte die Vergeltung. Spät kommt sie manchmal, häufig, am häufigsten sogar; aber sie kommt, unerbittlich, taub allem Flehen, mit der eisig-ruhigen Majestät eines Naturgesetzes das Richter- und Rächeramt übend. Ach, wenn an jenem 12. October von 1307 vor den Augen König Philipp’s, als er im großen Tempelthurm von Paris den verrathenen Tempelherren zutrank, für einen Moment der Schleier der Zukunft zerrissen worden wäre, so daß er hätte hinausblicken können durch die Jahrhunderte auf den 13. August von 1792, würde da der todhauchende Odem der Vergeltung nicht seine Seele angeschauert haben? Es war nicht Zufall, nein, es war die Logik der Weltgeschichte, daß der große Thurm des Tempels, in welchem eine der größten Ruchlosigkeiten des aufstrebenden französischen Königthums geplant und abgespielt worden, an dem genannten Augusttag dem französischen Königthum zum Kerker angewiesen wurde.[1]

Der Tempelthurm, dessen Inneres die jammervolle Agonie Ludwig des Sechszehnten und seiner Familie sah, ist von der Oberfläche der Erde verschwunden; aber niemals wird er aus dem Weltgeschichtsbuch verschwinden. Da steht er für alle Zeit, finster, drohend, wie der warnend emporgehobene Finger einer Riesenhand. Ist die Warnung bislang von Jenen, welchen sie gilt, beachtet worden? Nein. Wird sie in der Zukunft beachtet werden? Schwerlich, denn die Geschicke müssen sich erfüllen.

Am 21. Januar von 1793 machte der entthronte König vom Tempelthurm aus seine Todesfahrt zum Revolutionsplatz. Am 1. August wurde Marie Antoinette aus dem Tempel in die Conciergerie gebracht, von wo der entsetzliche Karren sie am 16. October zum Schaffot führte. Am 10. Mai von 1794 hält dieser Karren wieder vor dem Tempelthor, um eines der reinsten, beklagenswertesten Opfer des Terrorismus, die Prinzessin Elisabeth, zur Guillotine zu bringen. Am 8. Juni von 1795 starb im Tempelthurm ein armer, körperlich und geistig verkümmerter, rhachitischer und bis zur Stummheit schweigsamer Knabe, Louis Charles, dem König von der Königin Marie Antoinette am 27. März von 1785 zu Versailles geboren, erst Herzog von der Normandie, dann nach dem Tode seines älteren, im Juni 1789 verstorbenen Bruders Dauphin von Frankreich.

Aber war der am 8. Juni von 1795 im Tempel gestorbene Knabe wirklich der Dauphin?

Diese Zweifelfrage erhob sich sofort, leise und laut, und sie ist bis auf den heutigen Tag noch nicht so beantwortet oder so zu beantworten, daß jeder Zweifel verstummen müßte. In Wahrheit, wir haben hier ein ungelöstes Räthsel vor uns, das immer wieder zu Lösungsversuchen reizt. Mag der nachstehende für das angesehen werden, für was er sich giebt: eine unbefangene Zusammenstellung und Werthung der Thatsachen, welche die historische Kritik zur Aufhellung des dunkeln Problems bis jetzt an die Hand gegeben hat.


2. Das Räthsel.

Thatsache ist zuvörderst, daß alle die Betrogenen oder Betrüger oder betrogenen Betrüger, welche nach einander als Dauphin Louis Charles oder als Ludwig der Siebenzehnte aufgetreten sind, Hervagault, Bruneau, Naundorff, Richemont, Williams, Glauben und Anhänger gefunden haben; zum Theil innigst überzeugte und leidenschaftlich begeisterte Anhänger. Dies muß auf den Umstand zurückgeführt werden, daß im Jahre 1795 die Sage ausgegangen und Bestand gewonnen hatte, der angeblich im Tempel gestorbene Dauphin sei ein untergeschobenes Kind gewesen, der wahre und wirkliche lebe und sei aus dem Kerker gerettet. Man darf sogar behaupten, daß diese Anschauung die öffentliche Meinung war, wodurch freilich nichts bewiesen wird. Denn was ist zumeist die „öffentliche Meinung“? Nichts als ein verworrenes Geräusch, das aus dem Zusammenstoß der so oder anders angestrichenen Breter entsteht, welche die Menschen vor ihren Stirnen tragen. (Eine Ansicht, welche die Redaction nicht vertritt.)

Indessen ermangeln wir doch nicht ganz solcher Anhaltspunkte, die beweisen, daß man auch in Kreisen, welche wissende genannt werden können, von dem Tode des Dauphin nicht überzeugt gewesen ist. Herr Labreli de Fontaine, ehemals Bibliothekar der Wittwe des Herzogs von Orleans-Egalité, hat in einer von ihm unterzeichneten und veröffentlichten Flugschrift erklärt, die verbündeten Monarchen seien im Jahre 1814 so zweifelhaft gewesen, ob Ludwig der Siebenzehnte nicht noch am Leben sei, daß sie zwar öffentlich Ludwig den Achtzehnten als König anerkannt, im Geheimen aber und sogar vertragsmäßig sich verpflichtet hätten, dem möglicher Weise lebenden Sohne Ludwig des Sechszehnten den französischen Thron noch zwei Jahre lang offen zu halten. Sollte sich für diese Behauptung nicht ein vollgültiger urkundlicher Beweis beibringen lassen? Fest steht wenigstens, daß ein Theil der Royalisten, welche nach dem factischen Untergange der französischen Republik, d. h. nach dem 9. Thermidor von 1794, eifrig an der Wiedereinsetzung der Bourbons arbeiteten, an den Tod des Dauphin nicht glaubte. Ein sehr glaubwürdiges Zeugniß hierfür wurde noch im Jahre 1851 beigebracht, bei Gelegenheit des Processes, welchen die Hinterlassenen Naundorff’s bei den französischen Gerichten anstrengten. Dieses Zeugniß rührte von Herrn Brémond her, dem ehemaligen Geheimsecretair Ludwig des Sechszehnten, und besagte, daß er, Brémond, im Jahre 1795, von dem Schultheiß Steiger zu Bern vernommen habe, er, der Schultheiß, wisse ganz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_217.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)
  1. Unser großer Seher, welcher von allen seit Shakespeare und Milton aufgestandenen Dichtern, obgleich oder vielmehr weil er ein Idealist war, am meisten historischen Sinn besaß, hat gegenüber dem geistes-mechanischen Zufallsglauben die weltgeschichtliche Logik schön erkannt und anerkannt, indem er seinen Wallenstein sagen ließ:

    „Es giebt keinen Zufall,
    Und was uns blindes Ungefähr nur dünkt,
    Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“