Seite:Die Gartenlaube (1865) 173.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

zu erkennen, ein finstrer Ernst lag auf vielen Gesichtern, und dennoch schien es, als zöge alle diese unwilligen, trübseligen, trotzigen Leute eine geheime Kraft nach einem gewissen Punkte der Stadt, wo Etwas vorgehen sollte, das die Kinder der großen Nation noch nicht gesehen hatten.

Am 3. September 1815 sollte laut Armeebefehl König Friedrich Wilhelm’s des Dritten von Preußen in der besiegten und eingenommenen Hauptstadt die Vertheilung und Verleihung von Fahnen an diejenigen Regimenter der Linie und Landwehren stattfinden, welche den großen Sieg erfochten hatten, ohne Fahnen, die Heiligthümer eines jeden braven Regimentes, zu besitzen. Diejenigen Regimenter aber, vor welchen her schon das Banner mit den preußischen Farben seit alter Zeit flatterte, wenn sie in den Kampf zogen, sie sollten zum Zeichen ihres Muthes, ihrer Hingebung in die Fahnenspitzen das eiserne Kreuz erhalten. Tags vorher war in dem Quartier König Friedrich Wilhelm’s des Dritten, dem Hotel des Vicekönigs von Italien in der Straße Bourbon, eine große, festliche Versammlung gewesen. Die hervorragendsten Führer der alliirten Armeen hatte der König an seinem Tische vereinigt, sein erster Becher galt dem Wohle der siegreichen Armeen, die nach gewaltiger Blutarbeit den größten Gegner niedergeworfen hatten, der wohl jemals im Sturme und Graus der Schlachten wider die Völker der Erde gestritten. Gegenüber der Tafel lagen auf langen, mit kostbaren Decken gezierten Tischen dreizehn Fahnen. Sie harrten ihrer ehrenvollen Bestimmung, sie waren nur noch ein Stiel, ein geschmückter, mit Bändern und Farben gezierter Streifen Zeug. Der Tag sollte erst kommen, der in diesen todten Stoffen das Leben erweckt, das Leben der Begeisterung, das in dem muthigen, unverzagten Herzen des Trägers wohnt, aus den feurigen Blicken der Tausende sprüht, welche nach der Fahne gerichtet sind, und das sie flattern und rauschen macht in der Sonne eines blutigen Entscheidungstages.

Neben diesen Neulingen ruhten die alten Banner; verschossen – staubig – matt das Silber, das Gold – gebleicht die einst so lebhaften Farben, aber ehrwürdig mit ihren durch Kugeln zerfetzten, löcherigen Tüchern, Reliquien aus bewegten Tagen, die Preußens Waffen zum Kriege geführt, die schon unsäglichem Schmerze, kühnem Entsagen, großherziger Selbstaufopferung zugewinkt und deren Fetzen ganzen Schaaren von Kriegern gezeigt hatten, an welcher Stelle im Gewühle des Kampfes Sieg oder Tod zu finden sei.

Diese alten Banner führten in ihren Spitzen in durchbrochner Arbeit das Zeichen des eisernen Kreuzes. Nicht weit von den also ruhenden Fahnen saßen fünfundneunzig Männer, gebräunte, schlicht aussehende, freudig ernste Männer. Sie gehörten ursprünglich den verschiedensten Ständen an, man konnte aber heute keinen Unterschied gewahren, sie glichen sich einander, sie schienen einer Familie entsprossen, der Dienst des Vaterlandes hatte sie zu Brüdern gemacht. Es waren neunzehn Feldwebel und Wachtmeister, neunzehn Unterofficiere und siebenundfünfzig Gemeine, Alle schmückte der Rock des siegreichen preußischen Soldaten, nur die Abzeichen der Regimenter schieden sie äußerlich.

Sie waren geladen zur Tafel der Herrscher, der Führer. Sie stießen ihre Gläser an das ihres Königs und Kriegsherrn. Es war ein lauter, heller Klang, der sein Echo finden mußte im fernen deutschen Vaterlande, das diese Männer hatten befreien helfen vom fremden Joche, echte Kinder des Volkes, Alles verlassend auf den Ruf: „Rettet das Vaterland!“

Es war ein erhebender Tafelschluß in dem großen Hotel der Straße Bourbon am 2. September 1815 zu Paris, als unter den Klängen kriegerischer Musik die Nägel in die neuen Fahnen geschlagen wurden, als die Farben Preußens sich entfalteten in der eroberten Hauptstadt. Diese Vorgänge hatten nur dazu beigetragen, die gedrückte Stimmung der Franzosen in eine schmerzerfüllte zu verwandeln. Das große, sieggewohnte Volk sah den Feind zum zweiten Male in seiner Mitte. Und heute, am 3. September, sollte ein Schauspiel stattfinden, so neu, so demüthigend für die Kinder Frankreichs, daß selbst der Feind, der siegreiche, einen Ausbruch des empörten Nationalstolzes fürchtend, die Vorsichtsmaßregeln in der Stadt verdoppelt hatte.

Stumm dehnten sich die Reihen der Zuschauer von dem Champ de Mars aus bis zur Straße Bourbon hin. Inmitten des Marsfeldes sollte die Weihe der Fahnen geschehen, welche den Regimentern für ihren Sieg über französische Heere zum Lohne gereicht wurden. Welche wunderlichen Gruppen unter diesen Zuschauern! Finstere Mienen gewahrte man, dunkelgefärbte Gesichter, die sich über die vordersten Zuschauerreihen erhoben. Man erkannte auf den ersten Blick an der Haartracht, dem Barte, an der eigenthümlichen Art der bürgerlichen Kleidung den verkappten Soldaten. Diese Männer wollten sich überzeugen, ob es Traum oder Wirklichkeit sei, daß Feinde, siegreiche Feinde, in den Straßen von Paris als Herren schalteten, nachdem der große Meister der Schlachten, Napoleon, vernichtet, geflohen – gefangen war. Ihr Kaiser! Ihr Feldherr! Viele dieser Männer hatten die Siegeslaufbahn des Gewaltigen von Anbeginn mit ihm durchzogen. Sie waren ihm gefolgt in die Wüsten Aegyptens, in die lieblichen Gefilde Italiens, in die Eissteppen Rußlands, in die gesegneten Fluren Deutschlands. Sie waren zurückgekehrt von Elba, sie hatten mitten im Tosen des Kampfes gesehen, wie das „Mißgeschick von Waterloo“ die Schwingen des kaiserlichen Adlers lähmte, und jetzt sahen sie zwei doppelköpfige und einen einfachen Adler in der Hauptstadt[WS 1] ihre siegreichen Krallen wetzen. Das war ein tiefer, echt soldatischer Schmerz, der durch die Seele der alten Krieger zog. Sie traten dicht zusammen, sie flüsterten nur. Mit Verachtung sahen sie auf eine andere Gruppe lachender Gesichter; sie bestand aus Leuten, denen die Umänderung eben recht war; diese Leute waren es, die „Vivent les Alliés“ riefen, die aber ebensogut „Vive Napoleon“ gerufen hatten, als der Kaiser von Elba zurückkam. Sie werden auch bald „Vive Louis XVIII.“ schreien, zum zweiten Male schreien – und eine gehörige Anzahl von ihnen wird noch am Leben bleiben, um fünfzehn Jahre später, am 30. Juli, schreien zu können: „A bas les Bourbonrs! vive Louis Phillippe! vivent les Orléans!“

Eine dritte Gruppe von Menschen, am 3. September 1815 zum Schauen versammelt, verhielt sich fast theilnahmlos. Sie kreuzten die Arme über die Brust, oder hielten sie auf dem Rücken, oder steckten ihre Hände in die Hosentaschen und stellten sich breitbeinig hin. Auf den Gesichtern dieser Leute entdeckte man auch eine gewisse Heiterkeit, aber es war weder die Heiterkeit des Schmeichlers, noch die des Beglückten. Es war das Lächeln des Hohnes. Die Physiognomien dieser Art von Zuschauern zeigten Furchen, Falten, gekreuzte Linien. Große Bewegungen hatten die Züge dieser Leute mit fortwährendem Zucken, unheimlicher Lebendigkeit begabt, was doppelt auffiel, da ihre Körper sich sehr ruhig hielten.

Die Augen dieser Menschen blickten ebenfalls lauernd und unstät. Um ihre Mundwinkel spielte das höhnische, schadenfrohe Lächeln. Trotz ihres gravitätischen Gebahrens trugen sie eine gewisse Nachlässigkeit in ihrer Kleidung, förmlich absichtlich, zur Schau, und ihr ganzes Wesen schien zu sagen: „Noch sind wir hier. Da habt Ihr’s. Wir haben voraus gewußt, daß es so kommen würde.“ Diese Leute waren die alten Republikaner von 1792. Sie freuten sich über den Einmarsch der Fremdlinge, den sie als eine Strafe für die Nichtanerkennung ihrer Principien betrachteten. Sie zuckten die Achseln und murmelten voll stiller Hoffnung auf die Wiederkehr der Conventsherrschaft: „Wer weiß, wie es noch kommen wird?“

Zwischen allen diesen verschiedenartig bewegten Menschen vertheilten sich nun die überaus zahlreichen und überall vorhandenen Neugierigen, die Menge, welche weder liebt noch haßt, die nur zusammenläuft und schreit, ohne irgend einen Grund zu haben, die immer da ist und immer wieder verschwindet, diese große, erbärmliche Sippschaft, die Niemand besser charakterisirt hat, als Cromwell, dem man Compliinente machte, daß bei seinem Einzuge so viele Zuschauer anwesend seien. „Bah!“ sagte der große Staatsmann. „Wenn ich einziehe, kommen hunderttausend, wenn ich gehängt werde, laufen dreimalhunderttausend zusammen.“

„Eiswasser, Cocoli, Früchte, frische Pasteten!“ So tönte es mitten in all den Wirrwarr, in alle Seufzer, Erwartungen und Verwünschungen hinein. Auf und nieder liefen die Verkäufer. „Frische Blumen!“ riefen Bouquetièren der Straße St. Honoré und der Boulevards. „Liquour à la Russie!“ heulte die heisere Stimme eines alten Branntweinschenkers. Die Gleichgültigen aßen, tranken und kauften. Immer lebendiger wurde die Unterhaltung. Man konnte bemerken, daß die Leute mit den soldatischen Gesichtern heftig agitirten, daß die alten Republikaner hetzten, daß die Bourbonisten abmahnten. Schon seit mehrern Wochen ahnten die Herrscher der siegreichen Armeen, daß sich eine Erhebung vorbereite; nächtliche Anfälle der Patrouillen, Zusammenrottungen, kaltes, erzwungenes

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Haupstadt
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_173.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)