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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

verirrte Handwerksbursche fallen in die überschneiten Dollinen. So ist’s gar nicht möglich, das Unheil, das die Bora alle Jahre anrichtet, zu Buch zu bringen.“

„Sie hatten Recht,“ nahm der Capitain wieder das Wort, „die Bora mit einem springenden Raubthier zu vergleichen. Das Springen ist ihr auch bequem genug gemacht. Der Birnbaumer Wald, auf dessen kaltem, wildem Rücken der Volksglaube die Bora entstehen läßt, erreicht durchschnittlich eine Höhe von zweitausend Fuß; der Nanos, an dessen Wänden der Sturm anprallt, ist über viertausend Fuß hoch; fünfhundert Fuß tiefer, als der Birnbaumer Wald, streckt die Karsthochebene sich in einer Länge von zehn und einer Breite von drei bis vier Meilen aus, und zwölf- bis fünfzehnhundert Fuß unter den Karsthöhen liegt Triest und das Meer. Das sind die Riesenstufen, auf welchen das wüthende Raubthier Satz um Satz herniederstürmt mit wachsender Wucht, bis es im Gischt der Adria verlobt und verendet. – Würden wohl die classischen Schriftsteller der alten Griechen und Römer über diese Naturerscheinung, die sich ihren Schiffen doch bemerklich genug gemacht haben müßte, geschwiegen haben, wenn sie damals schon ihre heutige Macht entfaltet hätte?“

„Sicherlich nicht,“ antwortete der Gefragte; „aber wie möchte diese ausfällige Erscheinung zu erklären sein?“

„Sehr einfach,“ erwiderte der Capitain. „Wir verdanken die Bora vielleicht schon den späteren Römern, aber hauptsächlich den Venetianern. Der Karst war offenbar in alter Zeit so gut bewaldet, wie die Gebirge, die hinter ihm liegen. Die Venetianer bedurften aber Holz, und viel Holz, zu ihren massenhaften Schiffs- und sonstigen großen Bauten. Dieses holten sie am liebsten da, von wo sie am nächsten zur See kommen konnten, und das war das gebirgige Hinterland von Triest, das sie fünf bis zehn Meilen weit von der Küste ausbeuteten. Wie für die Lawinen, ist auch für die Stürme der Wald die sicherste Mauer; diese Wäldermauer hat die Habgier der Venetianer niedergerissen und dem Sturme freie Bahn gemacht – und nun haben die Nachkommen zu büßen, was die Vorfahren hier sündigen ließen. Dieselbe Wälderverwüstung, dieselbe Verödung der Abhänge und Hochebenen des Gebirgs, dieselben offenen Bahnen für Stürme, Lawinen oder Gletscher finden wir am ganzen Südabhang der Alpen. Holz war Unkraut, man hat das Unkraut ausgerodet und damit viele goldene Saat in den Thälern vernichtet. Sehen Sie jetzt die Flora des Karst und seiner Abhänge. Unter dem Hauche der Bora verdorrt aller Pflanzenwuchs, selbst wo ihre Wirkung etwas gebrochen ist, verkrüppeln die Bäume und haben nur auf der Südseite wenige belaubte Zweige. Es ist ein Anblick zum Erbarmen.“

„Und doch wagt es die Cultur, trotz der Bora dem Boden treffliche Früchte zu entlocken, ja, der Bora selbst Trotz zu bieten.“ Mit diesen Worten trat ein deutscher Kaufmann aus Triest in unsern Kreis. „Sie haben in Ihrer Unterhaltung mehrmals von den Dollinen gesprochen. Diese trichterförmigen Vertiefungen, die eine Haupteigenthümlichkeit des Karstbodens sind, dienen als die ersten Anhaltspunkte zur Wiederbefruchtung desselben. Sie kommen sehr zahlreich vor und sind bald klein, nur wenige Fuß im Durchmesser haltend, bald aber auch so groß, daß ihre Kessel, oft bis zu sechszig Fuß Tiefe, kleine Thäler bilden. Offenbar sind es Erdstürze, veranlaßt durch die unterirdischen Gewässer, welche in der Tiefe Höhlen auswuschen, deren Wände und Decke endlich zu schwach wurden, um die Oberfläche zu tragen, und zusammenbrachen. Viele dieser Trichter stehen noch durch Spalten und Löcher mit tiefer liegenden Höhlen in Verbindung, wie sich aus Nachgrabungen ergeben hat! Zuerst sammelt sich nun auf dem Boden dieser Versenkungen eine Schicht Dammerde an, die aus dem verwitterten Gestein und den Pflanzenresten sich bildet, welche das von oben in den Trichter einfließende Wasser mit sich hinabführt. Hier beginnt nun der fleißige Mensch wieder die ersten Anpflanzungen, bis der Boden sich mehrt oder fruchtbare Erde mit viel Mühe und Kosten herbeigeschafft wird, um auch die Wände des Trichters oder des Thälchens fruchtbar zu machen. In den kleinsten Dollinen stehen wenigstens einige Obstbäume, in den größeren wird schon Getreide, Gemüse und Wein gebaut, ja, den köstlichsten Wein ganz Illyriens, den Champagner von Prosecco, kocht die Sonne in einer solchen Dolline, die der über sie hinbrausenden Bora lacht. Man ist schon einen Schritt weiter gegangen, indem man Trichter, die nicht tief genug sind, um von der Bora unbehelligt zu bleiben, durch Steinmauern gegen sie schützt. In jüngster Zeit ist sogar der Plan zur großartigen Inangriffnahme der Bepflanzung des Karsts aufgetaucht; doch weiß ich, da ich soeben erst von einer größeren Reise heimkehre, nicht, wie weit man damit gediehen ist.“

Meine beiden Zöglinge, frische Jungen von vierzehn und sechszehn Jahren, hatten der aufregenden Unterhaltung mit leuchtenden Augen gelauscht. Ich sah ihnen an, wie sie sich heimlich auf so einen Borasturm freuten. Und sie sollten ihn genießen, zu ihrer und meiner unauslöschlichen Erinnerung. Eine erste Probe derselben stand uns aber bereits bevor, während wir uns eben dem Anschauen der neuen vor unseren Augen auftauchenden Herrlichkeit hingaben. Triest, die amphitheatralisch an ihren Höhen aufsteigende, mit dem burgartigen Castell gekrönte Stadt, hob sich vor uns aus dem Meere. Selbst die tiefen Golfe von Monfalcone zur Linken und Capodistria zur Rechten vermochten uns nicht mehr zu fesseln, die Stadt allein zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Da – wir hatten bereits den Leuchtthurm zu unserer Rechten und erkannten den Molo San Carlo, auf welchem stets zahlreiche Gruppen der Ankunft des Dampfers harren – da rief plötzlich der Capitain: „Wir haben den Teufel an die Wand gemalt, und da ist er! Herren und Damen, die Kopfbedeckung fest halten! Es kommt Bora! Sehen Sie die Staubwolke auf Optschina!“ Die Matrosen riefen „Bora! Bora!“ und beeilten sich, das Leinwanddach des ersten Decks einzuziehen. Die meisten Frauen flüchteten in die Kajüten. Wir waren dem Molo so nahe, daß wir die einzelnen Gestalten unterscheiden konnten. Plötzlich ungeheure Bewegung und Flucht – ein förmlicher Regen von Hüten und Mützen und selbst Damenhüten flog dort in’s Meer. Ehe wir zur Landungsstelle kamen, war der Platz von Zuschauern ziemlich geräumt, – die handfesten Facchini, die Triestiner Dienstmänner oder Eckensteher, waren dagegen um so zahlreicher herbeigeeilt, um für ihre Dienstleistung heute eine doppelte Ernte zu halten.

Auch wir hatten den ersten Gruß der Bora deutlich genug empfangen; doch tröstete der Capitain, daß sie noch schwach sei. Um so mehr eilte Alles, an’s Land und unter Dach und Fach zu kommen. Eine halbe Stunde später saß ich mit meinen Zöglingen in der Corona serrata (Gasthof zur eisernen Krone), wo unser Aufenthalt auf anderthalb Monat sich ausdehnte. – Wir fanden nun Gelegenheit, so ziemlich Alles zu erproben, was der Triestiner Bora auf dem Lloyddampfer Uebles nachgesagt worden war. Wir erlebten sie vom schwächsten bis zum äußersten Grade, wo ihr Wüthen den Verkehr in denjenigen Straßen der Stadt, die ihr in ihrer ganzen Länge besonders ausgesetzt sind, förmlich schloß, wo Geschirr und Menschen, die diese Straße passiren wollten, niedergeworfen und auf dem glatten Boden fortgerissen und gerollt wurden, wo selbst die Seile, die man in solchen Straßen an den Trottoirs hin befestigt, nur von den stärksten Männern zum Vorwärtskommen benutzt werden konnten, wo, wenn die Bora Tage lang wüthete, kein Segelschiff in den Hafen kam, sondern ganze Flotten sich hinter Pirano sammelten, um, wenn endlich Ruhe eintrat, zu sechszig, ja hundert Segeln zugleich den Einzug auf der Rhede zu halten, ja, wo wir des Nachts bei fest geschlossenen und verstopften Fenstern und Fensterläden und selbst unter doppelten und dreifachen Decken im Bette froren, so Alles durchdringend ist der fürchterliche Eishauch der Bora. Wir sollten sie aber in ihrer ganzen Machtfülle bewundern lernen, als wir endlich die Heimreise über den Karst antreten mußten.

Ich will gleich zur Sache selbst schreiten, wie sehr es mich auch verlocken möchte, von unserm Norddeutschen, der wieder unser Reisegefährte wurde, und von dem alten armen Türken, der nach Wien zum Kaiser wollte und mit dem Turban auf dem geschornen Schädel und mit Pantoffeln an den Füßen, in diese wilde Gegend gerieth, sowie von den Leiden auf der Gebirgsreise auch ohne Bora zu erzählen; nur das muß ich vorausschicken, daß, natürlich vor der Eröffnung der Karsteisenbahn in bedeutend stärkerem Grade als jetzt, das viele Fuhrmannsgeschirr den Winterverkehr auf der Straße zwischen Triest und Laibach außerordentlich beschwerlich, oft gefährlich machte. Mehr als in Triest selbst gewinnt man einen Begriff von der Wichtigkeit dieses Hauptseehandelsplatzes der österreichischen Monarchie beim Anblick der oft unabsehbaren Wagenreihen, welche, mit Waaren beladen, landein, oder auch mit Baustämmen befrachtet, seewärts fahren. Die Wagen

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