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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

nur seinem Gotte und seinem Gewissen Rechenschaft schuldet, sich unvermerkt in die Bankverfassung eingeschlichen hat. Die Bank spricht in ihrem Gesetze ihr Verdammungsurtheil über den Selbstmord aus. Und doch straft sie nicht den Unglücklichen, den Verzweiflung oder ein krankhaft umdüsterter Geist getrieben, in einer schmerzhaften That das Theuerste zu opfern, an das sich Millionen Menschen krampfhaft bis zum letzten Augenblicke klammern; sie straft seine Wittwe, seine Waisen, denen sie die Mittel der Existenz entzieht, die ihnen die Versicherungssumme gewähren würde. Ich glaube, die Gothaer Lebensversicherungsbank thäte wohl, diese dem großartigen Charakter ihrer Wirksamkeit und dem humanen Sinne ihrer Richtung widersprechende kleinliche Bestimmung aus ihrer Verfassung zu streichen.

Aber immerhin ist es vom höchsten Interesse aus jenen Tabellen zu ersehen, mit welchem scharfen psychologischen Blicke die Gothaer Bankverwaltung den Motiven der in ihrem Bereiche vor gekommenen Selbstmorde nachgeforscht bat. Unter den einhundert zweiundsiebenzig erwähnten Fällen stellten Schwermuth und Geistesverwirrung das größte Contingent, nämlich fünfundfünfzig; dann kommen zerrüttete Vermögensverhältnisse und Nahrungssorgen mit achtunddreißig Fällen; Cassenbeamte, die sich wegen Cassendefecte entleibten, waren siebenundzwanzig; kurz wir finden hier eine ganze Reihe von zum Selbstmord treibenden beiden und Leidenschaften. Beleidigter Ehrgeiz, selbst verschmähte Liebe und Eifersucht haben ihr Opfer geliefert.

Charakteristisch besonders ist die Wahrnehmung, mit welcher kaltblütigreinen Berechnung, namentlich in der sogenannten höheren Sphäre der Gesellschaft, der Selbstmörder oft bemüht ist seine That mit dem Mantel eines anständigen Zufalls zu bedecken, nicht blos um die Lebensversicherungssumme seiner Familie zu erhalten, sondern auch um vor der guten Gesellschaft mit Anstand von der Lebensbühne abzutreten.

Ich theile hier einen interessanten Fall mit, der vor einigen Jahren Aufsehen erregte.

Der *sche Hofmarschall, Graf **, Sproß einer der ältesten deutschen Adelsfamilien, hatte sein Leben zu Gunsten seiner Gattin mit einer beträchtlichen Summe in Gotha versichert. Er war ein Hofmann von feinster Tournüre, liebenswürdig und witzig im Umgang, aber auch hinsichtlich seiner Finanzen von cavaliermäßiger Sorglosigkeit. Der Fürst hatte zu verschiedenen Malen die Schulden des Hofmarschalls bezahlt. Allein das wollte wenig verschlagen. Das Spiel, dem der Graf besonders leidenschaftlich ergeben war, ließ ihn aus den immer auf’s Neue contrahirten Ehrenschulden gar nicht herauskommen. Er gerieth immer tiefer in ein Wirrniß finanzieller Verbindlichkeiten, der Wechselarrest war unvermeidlich. Der Graf kannte keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe als den Tod. Eines Tages fand er sich, wie gewöhnlich ein paar Mal wöchentlich, in den Nachmittagsstunden auf dem Schützenhause der Residenzstadt *** ein, wo er an den geselligen Schießübungen mit großer Vorliebe Theil zu nehmen pflegte. Es ging munter her, einer der Muntersten war der Hofmarschall. Es wurde gelacht und getrunken, während die Büchsen lustig aus den Schießständen knallten. Die Nummer des Hofmarschalls wird aufgerufen. Einer witzigen Anekdotenpointe, die er den Anwesenden zum Besten gegeben, noch nachlachend und sein Glas mit einem Zuge leerend, ergreift der Hofmarschall seine mit einer Spitzkugel geladene Büchse und verfügt sich nach dem Schießstande. Eine Minute. Der Schuft fällt, aber der Weiser markirt an der Scheibe keine getroffene stelle, obwohl der Hofmarschall selten Schwarz zu sehen pflegte. Niemand hat überhaupt die Kugel irgendwo drüben einschlagen gesehen. Da der Hofmarschall etwas lange im Schießstande bleibt, begiebt sich die nächste Nummer dahin. Ein Schreckensruf läßt sich vernehmen, die ganze Gesellschaft drängt sich herbei. Der Hofmarschall liegt auf dem Boden mit zerschmetterter Hirnschale. Die Lage der Leiche und der neben ihr liegenden Büchse zeigen, daß hier schwerlich eine unvorsichtige Handhabung der Schießwaffe den Tod herbeigeführt. Zum Ueberfluß interpretiren die stadtkundigen Geldverlegenheiten des Hofmarschalls, besonders die fälligen Wechsel, die ihm schon am nächsten Tage präsentirt werden sollten, den raschen Todesfall. Aber spricht nicht wiederum die heitere Unbefangenheit, mit welcher der Hofmarschall eben noch geplaudert und getrunken, gegen die Annahme eines Selbstmordes? Hat ein Mensch in der Minute, in welcher er durch eigene Hand sich in das Land befördert, „aus deß Bezirk kein Wandrer wiederkehrt“, einen frivolen Scherz auf den Lippen? – Die Gothaer Lebensversicherungsbank weigerte, auf Grund ihres Statutes, die Auszahlung der Versicherungssumme; sie konnte aber den juridischen Beweis eines verübten Selbstmordes nicht führen und mußte schließlich zahlen.

Ein anderer Selbstmordfall, der vor einigen Jahren die Gothaer Versicherungsbank in einen Proceß verwickelte, ist von erschütternder Tragik. Zwei von Jugend auf einander innig befreundete Männer fuhren auf dem Damm’schen See, bei Stettin, in einem von einem Schiffer geruderten Boote auf die Entenjagd. Mitten auf dem See hatte der eine das entsetzliche Unglück, durch eine unvorsichtige Handhabung seiner Doppelflinte dem Freunde eine Kugel durch das Auge zu jagen, so daß dieser auf der Stelle leblos zusammensank. In demselben Momente fast – nur einen einzigen Blick, in welchem eine Welt herzzerreißender Verzweiflung lag, warf der unglückliche Mann auf den entseelten Freund – entlud sich der zweite Schuß – und im Boote lagen zwei Leichen. Der Schiffer, welcher Zeuge der erschütternden Scene war, vermochte nicht anzugeben, ob auch dieser zweite Schuft durch eine unvorsichtige Bewegung sich entladen hatte, oder ob er in der Absicht einer Selbstentleibung abgeschossen worden. So rasch war Alles gegangen. Die Gothaer Bank, in welcher das Leben des letztern versichert war, nahm mit der ganzen öffentlichen Meinung einen Selbstmord an. Die Sache wurde schließlich durch einen Vergleich mit den Erben erledigt.

Da grundsätzlich die Verwaltung der Gothaer Lebensversicherungsbank in allen Selbstmordprocessen, sogar bei der festesten Ueberzeugung von dem Rechte der von ihr verfochtenen Sache, jeden vom Richter ihr zuerkannten sogenannten „Glaubenseid“, als unter der Würde des von ihr vertretenen Institutes, zu leisten ablehnt, so können derartige Processe selten zu Gunsten der Bank ausfallen. Schon aus diesem Umstande geht hervor, wie wenig das Budget der Gothaer Lebensversicherungsbank durch Aufhebung des Selbstmord Paragraphen beeinträchtigt werden würde. Indeß so lange jenes Gesetz nicht verfassungsmäßig aus dem Statut der Gothaer Lebensversicherungsbank ausgemerzt ist, muß man es vollkommen gerechtfertigt finden, daß die Bankverwaltung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln für die Aufrechthaltung dieser Bestimmung wie für die jeder andern eintritt. Denn in der unverbrüchlichen Treue, mit welcher die Bankverwaltung an ihrer Verfassung hält; in dem immer offenen Auge, mit dem sie den feinberechneten, kunstreichen Organismus vor jeder Unregelmäßigkeit überwacht; in der festen Hand, mit welcher sie die großartige, nimmer rastende Arbeit des Instituts leitet, liegen die Garantieen ihrer großen nationalen Bedeutung und einer glorreichen Zukunft, deren Dimensionen sich schwer ermessen lassen.

In der That erscheint uns das stattliche Gebäude der Lebensversicherungsbank zu Gotha, dessen Bureaus wir eben durchwandert haben, als der Regierungssitz, das Capitol eines modernen Gesellschaftsstaates, dessen Angehörige sich freiwillig selbst besteuern, um der Wohlthat theilhaftig zu werden, für welche die vereinte Kraft des Gemeindewesens Allen und Jedem haftet. Ein Staat allerdings ohne Territorialbesitz, da seine Bürger über aller Herren Länder unseres deutschen Vaterlandes zerstreut sind, aber hinsichtlich seiner Statistik ein ganz respektabler. Seine circa siebenundzwanzigtausend besteuerten, d. h. versicherten, und dem Gesetz der Bank unterworfenen Bürger, repräsentiren mit ihren Familien und den andern an der Versicherung betheiligten Personen mindestens die achtfache Kopfzahl. Dazu kommen noch die vielen Tausende, deren Grund und Boden für die dargeliehenen Capitalien der Gothaer Lebensversicherungsbank verpfändet ist und die derselben in dem zu zahlenden Zins gewissermaßen als Tributpflichtige angehören. So dürfte man in gewisser Beziehung den Gothaer Lebensversicherungsstaat als den größten sämmtlicher thüringischen Staaten bezeichnen. Seines glänzenden Jahresbudgets, in welchem die Einnahme mehr als das Zweifache der Ausgabe beträgt, haben wir bereits Erwähnung gethan. Sein Staatsschatz (Bankfonds) von weit über zwölf und eine halbe Millionen dürfte den Neid sämmtlicher Groß- und Kleinstaaten Europas erregen, in deren Haushalt das Deficit und die Staatsschuld chronische Uebel geworden sind. – Die Verfassung (das Statut) dieses auf Gegenseitigkeit seiner Mitglieder begründeten Staates ist eine republicanisch-demokratische. Die Regierung geht hervor aus der freien Wahl der männlichen Interessenten der thüringischen Wahlbezirke, für

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