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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Die Versicherungssummen, mit welchen der Mann in verschiedenen Gesellschaften „eingekauft“ wurde, waren sehr beträchtlich, es hieß, zum Belang von mehreren tausend Pfund Sterling, und mithin, da Stadtsecretair Ch–y, wie erwähnt, bereits in vorgerücktem Lebensalter stand, die zu zahlende Prämie eine sehr hohe. Die Versicherer, die außerdem aus zuverlässiger Quelle von einem tödtlichen organischen Leiden, an dem der Versicherte litt, erfahren haben wollten, hielten den Mann für so anständig, daß er ihnen nicht zumuthen würde, eine zweite Jahresprämie für sein Leben zu bezahlen. Allein der kleine Mann war so unbescheiden, noch ein zweites Jahr weiter zu leben und noch ein drittes, viertes, fünftes und so fort, immer hüstelnd, immer gebeugten Hauptes und eingefallener Brust, hinfällig erscheinend bis zum Erlöschen und doch immer lebend, zur Verzweiflung der unglücklichen Policeninhaber, die Jahr nach Jahr ihre enormen Prämien zu zahlen hatten. Der Stadtsecretair Ch–y machte durchaus keine Miene zu sterben; seine mumienhafte Trockenheit schien ihn zu conserviren. Endlich, es war etwa Anfangs der fünfziger Jahre, schöpften seine unglücklichen Lebensversicherer, denen durch Späher die leiseste Veränderung in den Lebensfunctionen des Stadtsecretairs zugetragen wurde, wieder Athem. Ch–y fing ein wenig zu kränkeln an.

Ein angesehener Arzt, an den er sich wandte, erklärte sein Leiden für eine Folge der sitzenden Lebensweise und empfahl ihm eine sechswöchentliche Cur in Karlsbad als das einzig wirksame Mittel. Karlsbad – das ist für einen mäßig besoldeten Stadtsecretair leicht verordnet – aber wie durchzuführen? Um den Urlaub war ihm nicht bange, doch woher das Geld nehmen zu einer so kostspieligen Reise nebst sechswöchentlichem Aufenthalt für sich und seine Tochter, deren Pflege er nicht entbehren konnte? Aber, wenn die Noth am größten, ist ein guter Einfall am nächsten. Ch–y ließ sich von dem besagten Arzte den ihm ertheilten Rath zur Badereise als ein förmlich medicinisches Gutachten ausfertigen und schickte dieses an die Directionen der betreffenden englischen Gesellschaften mit einer Eingabe, in welcher er vorstellte, daß er die Mittel zu der ihm so dringend empfohlenen Badecur nicht besäße und er es daher den Direktionen anheimgebe, mit Rücksicht auf den Werth, den seine Gesundheit auch für sie hätte, durch ihre Unterstützung ihm und seiner Tochter, die er zu seiner Pflege nicht entbehren könne, diese Reise zu ermöglichen. Die Herren Directoren fanden diese Argumentation sehr plausibel und bewilligten, nach gemeinsam gesagtem Beschluß, dem Petenten eine recht anständige Summe für seine Cur. Diese that wirklich Wunder. Der kostbare Stadtsecretair kehrte neugestärkt auf seinen Posten zurück und erhielt seitdem alljährlich von seinen Versicherungsgesellschaften dieselbe Summe für sich und seine Tochter zu einer sechswöchentlichen Cur- und Ferienreise.

Die Lebensversicherungspolicen auf den Stadtseeretair Ch–y wurden jetzt zu sehr niedrigen Course ausgeboten. Aber Niemand mochte sie kaufen, weil die Prämien gar zu hoch waren und kein Ende für das Leben dieses Mannes abzusehen war. So mußten denn die dupirten Lebensversicherer die Hoffnung, endlich doch noch einen Theil ihres geopferten Capitals zu retten, mit so hohen Wucherzinsen bezahlen, wie sie selbst, beim besten Willen, niemals solche erhalten hatten, und sich noch obendrein von der schadenfrohen Stadt über diese verunglückte Speculation auslachen lassen. Mein Stadtsecretair hüstelte noch im Jahre 1854, in welchem ich K. verließ, unverändert, wie im Jahre 1841, in welchem er als hoffnungsvoller Todescandidat von der Lebensversicherungsbande berücksichtigt worden war, er trug seinen Kopf noch ebenso gebückt, die Brust noch ebenso eingefallen und verwaltete, Dank den jährlichen Badereisen, sein Amt mit ungeschwächten Kräften. Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er vielleicht heute noch, wie es sonst wohl im Märchen heißt.

Aber nicht blos gegen das Simuliren von Gesundheit hat sich die Lebensversicherungsbank bei Aufnahmeanträgen vorzusehen, sondern auch gegen lügnerisch vorgegebenes Verstorbensein. Ich erinnere die Leser an den eine förmlich europäische, ja, man kann sagen, eine Weltheiterkeit erregenden humoristischen Betrug, den vor einigen Jahren der Schneider Tomascheck in Berlin vollführte. Um die auf sein Leben versicherte beträchtliche Summe noch während seines Lebens zu genießen und des lästigen Prämienzahlens enthoben zu sein, ließ sich bekanntlich der gedachte Schneidermeister, nachdem er angeblich plötzlich erkrankt und verstorben sein wollte, in Gestalt eines Plättbretes und einer gehörigen Menge Rindskaldaunen (die den Leichengeruch hergeben mußten) gehörigst einsargen und, gefolgt von Leichenbittern und weinenden Angehörigen, nach dem Kirchhof führen, wo er unter der rührenden Grabrede eines Geistlichen der Erde übergeben wurde, um hinterher in Kopenhagen seine fröhliche Auferstehung zu feiern und mit der Versicherungssumme, welche seine ihm dahin gefolgten Angehörigen erhalten hatten, ein neues flottes Leben zu beginnen. Der Streich war vollkommen gelungen. Er wurde erst nach geraumer Zeit durch Zufall entdeckt und der geniale Schneidermeister, dessen humoristischer Einfall an Jean Pauls Armenadvocaten Siebenkäs erinnerte, wurde aus dem Jenseits wiederum dem Arme der irdischen Gerechtigkeit ausgeliefert, um hienieden abzubüßen, was er hienieden gesündigt.

Aber das sind nur kurzweilige Episoden in den Annalen der Lebensversicherungsbanken. Wie oft bildet die Lebensversicherung den Kernpunkt der blutigen Schauerdramen, die vor den Schranken der Criminaljustiz in Scene gesetzt werden! Der Umstand, daß mit dem Tode eines versicherten Menschen gewissermaßen ein auf dessen Kopf gesetzter Preis ausgezahlt wird, ist für die Habgier, die dringende Geldnoth, die verschwenderische Liederlichkeit der Policeninhaber ein gar verführerischer Antrieb einem Leben ein Ende zu machen, das der Ungeduld der Betheiligten viel zu lauge dauert. Auch in dem in frischem Andenken stehenden Demme-Trümpy’schen Processe spielt eine Lebensversicherungspolice mit. Und doch, wie manch derartiges Verbrechen mag ungesühnt mit dem Todten für immer begraben bleiben! Nicht jeder Ibycus findet seine Kraniche!

Die langwierigsten Rechtshändel jedoch, welche die Gothaer Lebensversicherungsbank zu führen hat, entstehen durch die Bestimmung ihres Statuts, daß die Versicherungssumme verloren geht, wenn die versicherte Person ihren Tod durch Selbstentleibung bewirkt hat.

Diese Bestimmung ist der einzige Punkt in der sonst so trefflichen Verfassung der Gothaer Lebensversicherungsbank, mit welchem wir uns nicht einverstanden zu erklären vermögen. Wir können uns nicht überzeugen, daß die Sicherheit der Bank gebieterisch ein Gesetz fordert, dessen Härte dem humanen Grundgedanken dieser Anstalt widerspricht. Die statistische Tabelle über die Selbstmorde, welche seit dem vierunddreistigjährigen Bestehen der Bank unter deren Versicherten vorgekommen (hundert einundsiebenzig unter achttausend achthundert siebenundzwanzig Todesfällen) giebt der Bankverwaltung die beruhigende Ueberzeugung, daß sie mit der Streichung jenes Paragraphen keine sonderliche Gefahr läuft, vor Allem wenn man erwägt, welche beträchtliche Kosten der Bank aus so manchen verlorengehenden Processen entwachsen, in die sie durch jene Statutsbestimmung verwickelt wird.

Wir wollen zugeben, daß mit der Aufhebung jenes Paragraphen mancher Selbstmord gerade in der Absicht verübt werden könne, durch rasche Abkürzung des eigenen Lebens eine darbende Familie in den Besitz der Versicherungssumme zu setzen; daß Mancher, der mit dem Gedanken des Selbstmordes umgeht, eben aus diesem Grunde vor der Ausführung dieser That sein Leben versichert. Aber daß ein solcher „Betrug“, der mit dem Leben gebüßt wird, nicht viele Nachahmer finden werde, dafür bürgt der Bank die dem Menschen innewohnende Liebe zum Leben um jeden Preis. Zur Noth würde ein Amendement zu jenem Gesetz genügen, daß bei einem Selbstmord, der binnen eines halben Jahres von den, Eintritte der betreffenden Person in die Lebensversicherungsgesellschaft stattfindet, die Bank keine Zahlungspflicht anerkenne. Es scheint aber auch gar nicht, als ob die Bank bei dieser Statutsbestimmung sich von einer derartigen Rücksicht auf einen berechneten Selbstmord habe leiten lassen, da das Statut ausdrücklich erklärt, daß im Falle eines Selbstmordes die Versicherungssumme verloren gehe, gleichviel, ob diese Selbstentleibung im zurechnungsfähigen oder nichtzurechnungsfähigen Zustande begangen worden; nur daß im letztern Falle dem Inhaber der Police außer den rückständigen Dividenden der Betrag der auf dieselbe treffenden Reserve vergütet werde.

Was mithin konnte die Bank zur Ausstellung einer so rigorosen Bestimmung veranlaßt haben?

Wir können nur annehmen, daß eine intolerante religiöse oder ethische Gewohnheitsanschauung, die sich das unbarmherzige Richteramt auch über Handlungen anmaßt, für welche der Mensch

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