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hieß ihn aufstehen und nahm ihn mit in das Haus und in mein Zimmer. Hier erzählte er mir, daß er auf seinen Vater habe warten wollen, daß er darüber müde geworden und eingeschlafen sei; er bestätigte mir, als ich darnach fragte, Alles, was mir sein Vater über seine häuslichen Verhältnisse mitgetheilt hatte, und gab endlich auch zu, daß der letzte Rest von Brod am Morgen aufgezehrt worden sei. „Aber,“ so sagte er wörtlich, „daraus machen wir uns gar nichts, wenn ich mir meinen guten, lieben Vater mit nach Hause bringe.“

Das war nun allerdings nicht möglich; der Knabe beruhigte sich auch, als ich ihm dies erklärte und ihm außerdem noch sagte, daß sich sein Vater wohl befinde, daß dieser ihm Essen schicke, daß er dies seiner Mutter bringen und morgen Abend wiederkommen möge.

In einer Gefangnenanstalt bleiben alle Tage mehrere Portionen Essen übrig. Ich ließ alle vorhandenen Vorräthe zusammenthun, ein ganzes Brod zulegen und schickte den Knaben damit nach Hause. Der Gefängniß-Inspector konnte ja auch einmal durch Wohlthun sich Freunde schaffen.

Am andern Tage kam Clausthal zu meinem Bedauern in die Krankenstube. Es hatte sich bei ihm ein heftiges Fieber ausgebildet. Der Anstaltsarzt machte gleich bei der ersten Untersuchung ein äußerst bedenkliches Gesicht und sprach von „Draufgehen“ wegen zu schwacher Constitution oder Entkräftung, was wohl ein und dasselbe war. Seine Bemühungen und Verordnungen erzielten auch kein Besserwerden. Am siebenten Tage nach der Einlieferung war Clausthal eine Leiche.

Auf die Verwendung des Arztes war seiner Frau am Todestage der Zutritt gestattet worden. Sie fand sich ungefähr eine Stunde vor dem Ableben ein. Der Kranke war bei voller Besinnung und klarem Bewußtsein, während er vorher unausgesetzt getobt und gerast hatte. Die beiden Leute sprachen nur wenig, für ihr Leid und ihren Schmerz gab es keine Worte; sie hielten sich eng umschlungen, bis die Arme des Mannes schlaff herab fielen und das Herz im Tode erstarrt, der Lebensfaden zerrissen war. Die Frau drückte ihm die Augen zu, berührte noch einmal die erkalteten Lippen mit ihrem Munde und ging dann weinend aus der Krankenstube und aus dem Hause, in welchem der Verstorbene zurückbleiben mußte.

Wo fand diese so tief gebeugte Frau Trost? Sie war arm, sie war auch die Wittwe eines im Gefängnisse gestorbenen Verbrechers. Für die Gesellschaft sind dies leider noch immer keine Anziehungspunkte.

Clausthal ist nicht verurtheilt, nicht einmal von dem Untersuchungsrichter vernommen, allein er war in dem Moment ertappt worden, in welchem er von einem selbstgefälschten Wechsel hatte Gebrauch machen wollen. Daß ihn die äußerste Noth zu diesem Schritte gedrängt, das konnte vielleicht eine Milderung des Urtheils, doch keineswegs eine Befreiung von der Strafe zur Folge haben. Gewiß aber war er kein böser Mensch.




Das Werk eines deutschen Bürgers.
Von Ludwig Walesrode.
III.
Der letzte Betrug. – Ein Märtyrer der Lüge. – Der ewige Todescandidat. – Schneider Tomaschek. – Eine Lücke in den Statuten der Gothaischen Lebensversicherungsbank. – Der Selbstmörder im Schießstande. – Die unglücklichen Entenjäger. – Die Gothaer Lebensversicherungsbank als der Großstaat Thüringens. – Sein Departement des Inneren und des Aeußern.

Der Versuch, die Bankverwaltung hinter’s Licht zu führen wird oft schon bei den Meldungen zur Aufnahme gemacht, indem das Individuum, dessen Leben versichert werden soll, einen Gesundheitszustand simulirt, der in strictem Widerspruche gegen die körperlichen Uebel steht, mit denen es behaftet ist und wegen welcher die Bank, nach statutenmäßiger Bestimmung, ihm die Aufnahme versagen mußte. Der Bank gegenüber kehrt sich das Verhältniß um, das bei Recrutenaushebungen stattzufinden pflegt, wo Conscriptionspflichtige durch Simulirung von Krankheiten der ihnen zugedachten Waffenehre zu entgehen suchen. In vielen, vielleicht den meisten Fällen mag eine solche Absicht die Bank zu täuschen aus menschlich verzeihlichen Motiven entspringen. Den mittellosen Familienvater, der den Keim eines nahen Todes in sich fühlt, treibt die quälende Sorge um das Loos der Seinigen, denen er sein Erbe zu hinterlassen hat, zu diesem „letzten Betruge“. Aber nicht selten steckt auch eine rasffinirte Gaunerei dahinter. Schlaue Speculanten z. B. versuchen das Leben einer Person, deren Gesundheitszustand sie als einen höchst bedenklichen kennen oder zu kennen meinen, auf eine hohe Summe zu versichern, indem sie, in der Hoffnung auf die baldige Empfangnahme der Versicherungssumme, die Prämien für die in ihren Besitz übergebende Police zahlen und die in Rede stehende Person für die Rolle, welche sie zu spielen hat, entschädigen.

Um sich gegen derartige Manöver zu schützen, werden Seitens der Bank die eingebenden Versicherungsanträge mit großer Vorsicht behandelt. Die Person, auf deren Leben eine Versicherung abgeschlossen werden soll, muß zunächst eine Reihe articulirter sachgemäßer Fragen in einer ihr vorgelegten Declaration schriftlich beantworten, bei Strafe, daß jede später nachzuweisende wahrheitswidrige Angabe die Richtigkeit der Versicherung zur Folge habe. Zwei glaubwürdige Zeugen müssen diese Declaration unterzeichnen. Dann hat der Arzt des Individuums, welches in die Lebensversicherungsbank aufgenommen werden soll, ein ausführliches, gerichtlich beglaubigtes Attest über dessen Gesundheitszustand auszustellen. In Orten, wo von der Bank ein Agenturarzt bestellt ist, müssen außerdem die zu versichernden Personen sich von diesem untersuchen lassen. Daraus wiederum hat der Bankarzt in Gotha die mit den Versicherungsanträgen eingehenden ärztlichen Atteste zu prüfen und zu begutachten, und schließlich werden alle diese ärztlichen Atteste dem Endurtheil eines ebenfalls bei der Bank angestellten ärztlichen Revisors unterbreitet. Erst dann entscheidet das Bankbureau, als die Verwaltungsbebörde der Anstalt, nach Einsicht sämmtlicher Papiere, ob der gestellte Antrag statutengemäß anzunehmen oder abzulehnen sei.

Man muß gestehen, daß kaum ein sorgfältigeres, gewissenhafteres Verfahren als dieser im Interesse der Bankangehörigen festgestellte Aufnahmemodus denkbar sei. Bei alledem ist die Bank aber nicht ganz vor Täuschungen sicher. Sie ist nicht selten genöthigt, wegen wahrbeitswidriger Declaration, den Inhabern einer durch Todesfall erloschenen Police die Auszahlung der Versicherungssumme zu weigern und es im Wege des Processes auf die richterliche Entscheidung ankommen zu lassen. – Leider hält es die Bank nicht für angemessen, die unbedingte Oeffentlichkeit, welche sie für das weite Bereich ihrer geschäftlichen Thätigkeit adoptirt hat, auch auf die zur Wahrung ihrer eigenen Sicherheit geführten Processe auszudehnen. Eine Sammlung derartiger Rechtsfälle wäre von hohem juridischen wie psychologischen Interesse.

Ich erwähne hier nur eines seiner Zeit viel besprochenen merkwürdigen Falles von einer erschlichenen Lebensversicherung. Die Geschichte ist etwa zehn Jahre her.

Auf dem medicinischen Lehrstuhle einer deutschen Universität war Professor *** einer der gefeiertsten Lehrer, der sich auch wegen seiner Schriften auf dem Gebiete der Pathologie unter seinen auswärtigen Fachgenossen eines bedeutenden Rufes erfreute. Bereits im sogenannten besten Mannesalter hatte der Professor eine zahlreiche Familie zu ernähren, was ihm, da er sonst kein Vermögen besaß, trotz seines Gehaltes als Ordinarius, der nicht unbedeutenden Collegiengelder von seinem immer dichtbesetzten Auditorium und der Honorare für seine schriftstellerischen Arbeiten, nicht leicht wurde. Er war eben eine geniale Natur, welche über die Wissenschaft die Genüsse dieser Welt nicht verachtete. Er lebte gut und ließ gut leben. Die offene, unbeschränke Gastlichkeit, die in seinem Hause herrschte, war nicht nach jenem frugalen Zuschnitte eingerichtet, wie er sonst, nothgedrungen oder grundsätzlich, in den Professorenhäusern des Ortes üblich war. Mit einem Wort, es ging bei „Professors“ so hoch her, daß sich das Budget seines

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