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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Laß stets uns Deiner Pflege und Treu empfohlen sein;
So geben unsre Wege gewiß zum Himmel ein.“

Es war der letzte Vers aus dem schönen Gerhard’schen Liede:

„Befiehl Du Deine Wege etc.“

Diese Worte aus dem Munde des Kindes und die Andacht, mit welcher sie gesprochen wurden, waren wirklich ergreifend. Ich konnte nicht stehen bleiben, das Kind nicht im Auge behalten, ich mußte zurücktreten. Und auch da hatte ich keine Ruhe, ich mußte hinaus aus dem Zimmer und mir Beschäftigung suchen. Allein ich konnte anfangen und thun, was ich wollte, ich fand keine Zerstreuung, immer und immer trat mir das betende Kind vor Augen, und unzählige Mal wiederholte ich in Gedanken: „Mach’, Herr, ein fröhlich’ Ende mit aller unsrer Noth etc.“

An diesem Tage fühlte ich zum ersten Male die Schwere des mir anvertrauten Amtes. Ich hatte nur meine Pflicht erfüllt und dies auch mit möglichster Schonung gethan, aber ich wünschte doch, daß ich das nicht nöthig gehabt hätte, oder doch so viel Macht zu besitzen, um das Flehen des Kindes erfüllen, der Noth wirklich ein Ende machen zu können.

Am Abend nach acht Uhr revidirte ich die Zelle des Clausthal. Als ich eintrat, lag dieser bereits auf seinem Strohsacke. Er schlief nicht, die Augen standen weit offen, die Hände lagen gefaltet auf der Decke. Auf dem Tische stand das Essen vom Mittag und die Suppe vom Abend unangerührt, auch das Brod war noch vollständig vorhanden, es fehlte kein Krümchen, nur der Krug, der mit Wasser gefüllt gewesen, war leer.

In den Gefängnissen ist das durchaus keine seltene Erscheinung. Mir war es schon unzählige Male vorgekommen, daß Gefangene am ersten Tage ihrer Haft das Essen hatten stehen lassen. Einige von ihnen sagten nur, daß der Schmerz die Eßlust unterdrückt habe, Andere dagegen meinten, daß erst der Hunger den Ekel habe überwinden müssen.

Bei der musterhaften Reinlichkeit, mit welcher das Essen bereitet und verabreicht wurde, konnte bei der Annahme desselben ein Widerwille wohl kaum empfunden werden, ich hielt das wenigstens nicht für wahrscheinlich und deshalb auch nicht für glaubhaft. Dagegen konnte ich recht gut begreifen, daß der Verlust der Freiheit, das gewaltsame Herausreißen aus der Familie, aus dem Berufe und aus dem Gesellschaftsleben unter gewissen Verhältnissen namenlosen Schmerz bereiten und daß dieser Schmerz jedes leibliche Bedürfniß zum Schweigen bringen müsse.

Clausthal interessirte mich. Da er nicht schlief, sollte er mir Rede stehen, mir sagen, aus welchem Grunde er nicht gegessen hatte.

„Sie haben Ihr Essen stehen lassen,“ redete ich ihn an, „weshalb haben Sie das gethan?“

Er richtete sich sofort auf, blieb aber auf dem Strohsacke sitzen. Seine trockenen Augen, die in dieser Stellung noch tiefer zurückgesunken zu sein schienen, wendeten sich mir zu, und der Ausdruck seines leichenähnlichen Gesichtes verrieth Verlegenheit und Angst, für deren Entstehung ich augenblicklich keinen Grund auffinden konnte.

„Herr Inspector,“ entgegnete er nach einer kleinen Pause mit vielen Unterbrechungen, „Sie sind Familienvater, Sie haben Ihre Kinder und Ihre Gattin gewiß lieb, so recht von Herzen lieb, nicht wahr?“

„Nun?“ versetzte ich fragend, als Clausthal eine längere Pause machte.

„Wenn das so ist,“ fuhr dieser in größerer Verlegenheit mit fast tonloser Stimme fort, „so werden Sie, Herr Inspector, mich auch nicht mißverstehen, wenn ich Ihnen sage, meine Frau und meine Kinder sind mir in das Herz und in die Seele hineingewachsen.“

Clausthal hatte, während er das sagte, den Kopf auf die Brust niederfallen lassen. Die Erinnerung an Frau und Kinder hatte ihn sichtbar tief bewegt; er war der Sprache gar nicht mächtig und verharrte einige Secunden im Schweigen. Dann aber hob er mit einer gewissen Hast den Kopf wieder empor, und indem er einen Blick, in welchem sich der trostloseste Schmerz aussprach, auf mich richtete, sagte er mit wahrer Seelenangst und mit einer fieberhaften Geläufigkeit:

„Herr Inspector, ich bin ein armer Mann; ich habe Alles verloren, Alles hingeben müssen, um nur die Meinigen nicht Hungers sterben zu lassen. Mir ist nichts, gar nichts geblieben, nicht einmal mein ehrlicher Name. Und doch, eins besitze ich noch. Dies Eine ist die Liebe der Meinigen. Ich habe diese nicht versetzen und nicht verkaufen können, kein Mensch würde sie mir abgenommen, kein Mensch ein Stückcken Brod mir dafür gegeben haben, sie hat ja für Andere keinen Werth. Diese Liebe ist für mich eine Quelle, aus welcher ich Trost und Beruhigung schöpfe. Wenn ich auch leide und furchtbare, entsetzliche Schmerzen ertrage; wenn der Verlust meiner Freiheit und meiner Ehre mich auch quält und peinigt, ich bin dennoch glücklich, denn die Liebe meiner Frau und meiner Kinder, für die ich leide, tröstet und beruhigt mich mit wunderbarer Kraft.“

„Aber,“ sprach ich, als Clausthal wiederum eine längere Pause machte, „Sie sollen mir sagen, weshalb Sie nicht gegessen haben?“

„Ja so,“ erwiderte er mit einem Anflug von Beschämung, „ich rede zu viel von meiner Armuth und von meiner Liebe. Sie müssen mir das verzeihen. Das Herz ist mir davon zu voll, und da ist es ja kein Wunder, daß der Mund übergeht. Beides, meine Armuth und meine Liebe, ist ja auch schuld, daß ich nicht gegessen habe. Ich weiß, meine Frau und meine Kinder müssen heute hungern, denn sie haben keine Lebensmittel und auch kein Geld, und noch viel weniger Credit. Kein Mensch wird sich ihrer annehmen, kein Mensch sich ihrer Noth erbarmen, sie werden von keiner Seite eine Unterstützung erhalten, denn sie werden nicht den Muth haben, eine Unterstützung zu verlangen, wie ich nicht im Stande gewesen bin, meine Armuth, meine grenzenlose Noth vor den Leuten zu bekennen. Glauben Sie, Herr Inspector, daß ich essen könnte, wenn die Meinigen hungern? Nein, Sie können das nicht, Sie müssen mir Recht geben, wenn Sie die Ihrigen wahrhaft lieb haben. Gestatten Sie mir nur, daß ich mit den Meinigen theile, oder vielmehr, daß ich den Meinigen zukommen lassen darf, was dort Eßbares auf dem Tische steht. Ich kann ganz gut warten bis morgen, ich habe warten gelernt, mir wird der Hunger nicht lästig, wenn ich nur weiß, daß Frau und Kinder sich sättigen können.“

Clausthal hatte während des Sprechens, ohne daß ich dies zu hindern vermochte, seine Stellung verändert. Die abgezehrte Gestalt kniete zuletzt auf dem Strohsacke und streckte die ineinander geschlungenen Hände mir entgegen.

Ich wußte in Wirklichkeit nicht, was ich thun, was ich antworten sollte. Die Bitte war ganz eigenthümlicher Art. Es war mir noch niemals vorgekommen, daß ein Gefangener einen Theil seiner kärglichen Kost hatte hinaussenden wollen, die Mehrzahl verlangten Zuschüsse von außen, weil sie mit dem, was ihnen gereicht wurde, nicht auskommen konnten. Ein Verbot bestand jedoch nicht, ein solches war jedenfalls deshalb nicht erlassen worden, weil man den Fall überhaupt nicht für möglich gehalten hatte; ich riskirte also nichts, wenn ich die Bitte gewährte.

Als ich mir das klar gemacht hatte, sagte ich Clausthal, daß ich das Essen diesmal abgeben würde, wenn sich einer von seinen Angehörigen bei mir einfinden sollte. Seine Freude über diesen Bescheid war ohne Grenzen.

„Ach,“ sagte er nach vielfachen Dankesäußeruugen, „haben Sie nur die Güte, vor dem Hause nachzusehen, ich bin davon überzeugt, daß meine Frau oder mein Sohn in der Nähe ist.“

Da Clausthal auf nochmaliges Befragen dabei verblieb, daß er von dem Essen nicht das Geringste annehmen werde, ließ ich dies von einem Unterbeamten nach der Küche tragen, ich selbst ging aber vor das Haus, um hier nachzusehen, ob wirklich ein Glied der Clausthal’schen Familie dort verweilte.

Es war fast vollständig dunkel. Ein starker, dichter Nebel ließ das Sternenlicht nicht zum Durchbruch kommen und benahm auch dem Lichte der vor dem Hause brennenden Laterne den Schein, so daß man nicht zehn Schritte weit vor sich sehen konnte. Dennoch gab ich mir Mühe, die Dunkelheit nach allen Richtungen hin zu durchdringen. Als mir das nicht gelingen wollte, ging ich auch noch ein Stück vorwärts, dann rechts und links, über den ganzen Platz hinweg, ich konnte aber nichts wahrnehmen, der Platz war leer. Verdrießlich über die vergebliche Bemühung kehrte ich nach dem Hause zurück und wollte schon in dasselbe eintreten, als mir in einer Ecke, welche die an dieser Stelle etwas vortretende Mauer bildete, ein an der Erde liegender dunkler Gegenstand in die Augen fiel. Ich ging darauf zu und erstaunte nicht wenig, den Sohn des Clausthal zu finden, der sich gegen die Mauer gelehnt hatte und in dieser Stellung eingeschlafen war. Ich machte ihn munter,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_151.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)