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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

bot zwar eine Unannehmlichkeit, aber keine eigentliche Beschwerde. Und das Joch hinauf konnte die Decke nicht immer so dicht sein. Wer Stunden lang in sehr tiefem Schnee watet, macht die Bemerkung, daß es dann keine Kälte giebt, welche ihn verhindert, zu schwitzen, denn die Gymnastik des Herausziehens der Beine aus der tiefen, zähen Flockenschicht hält ihn mehr als warm. So war es auch bei mir; noch ehe ich an den Fuß des Berges kam, war ich vor Hitze roth, als ob statt der zwanzig Grad Kälte die Sonne eine Temperatur aus den Hundstagen herabschickte. Oft blieb ich einen Augenblick stehen, um mich durch einen Schluck Wein zu stärken; war dieser natürlich auch kalt wie Eis, so hielt ich doch nicht an, um vorher auszuschnaufen, einestheils weil die Zeit drängte, und dann weil jeder Fuß- und insbesondere Alpenreisende weiß, daß die Gefahr vom Trunk in der Hitze eine Fabel ist, vorausgesetzt, daß gleich darauf wieder die entsprechende Bewegung eintritt.

Die Art von Steg, welche der Herzog von Coburg, der Besitzer dieser felsigen Jagdgründe, über das Blumserjoch anlegen ließ, war auch unter der Schneehütte nicht schwer zu entdecken. Außerdem bemerkte ich hier die Fuststapfen jenes famosen Holzknechtes, der seinen Uebergang acht Tage vorher bewerkstelligt hatte, und so wand ich mich, oft in die gefrorenen Höhlungen tretend, die von seinem Schuh zurückgelassen waren, allmählich das Joch hinan. Das Steigen hatte freilich allerlei Schwierigkeiten.

Manchmal lagen gewichtige Lawinen da, welche von einem früheren Thauwind herabgeworfen worden, jetzt aber vom Frost mit spiegelglattem Eis überzogen waren; es war mühsam über die zertrümmerten schlüpfrigen Brocken hinüber zu klimmen. Je mehr ich mich der Jochhöhe näherte, desto dünner wurde allerdings die Schneeschicht, allein die schwache Kruste, in welche sie zusammengeschmolzen und dann gefroren war, machte dafür den Fuß bei jedem Schritte vorwärts um drei nach rückwärts ausgleiten. Nun bereute ich es, keine Steigeisen mitgenommen zu haben. Ich war schon im Begriff gewesen, sie einzupacken, als ein der Gegend sehr kundiger Jäger mir davon abrieth, indem er sagte, es werde sicherlich auf dem Joch kein Eis liegen. Dazu wird das Blumser Joch, je näher man dem Grate kommt, immer steiler, so daß es zuletzt nothwendig wurde, für den Fuß vorher mit dem Bergstock eine kleine Höhlung zum Anhalt in’s Eis zu schürfen. Plötzlich konnte sich mein Hund mit seinen spitzen Krallen auf der schiefen Eiswand nicht mehr halten; er kam in’s Rutschen und blieb einige hundert Fuß tiefer an einem Legföhren-Gebüsch hängen – noch einige Schritte weiter und er wäre über eine fast hundert Fuß hohe Wand hinter jenen Föhren hinabgestürzt – ein lehrreicher Fingerzeig für das, was aus mir werden konnte, wenn ich einmal meine Stütze auf dem Eis verlor! Nachdem ich meinen vierfüßigen Begleiter mit der größten Anstrengung wieder heraufgebracht und danach noch ungefähr eine Stunde fortgeklettert war, erreichte ich endlich die Jochhöhe. Man kann sich denken, daß ich bis hierher ungemein vorsichtig und langsam zu Werk gehen mußte – denn abgesehen von der Gefahr eines tiefen Sturzes konnte ja schon die einfachste Verrenkung in einer solchen Einöde verderblich werden. Aber das, was ich fürchtete, geschah nicht, und das, was ich nicht ahnte, geschah.

Als ich auf der Jochhöhe stand, ging die Sonne unter. Ein blutrother Schein hing noch an den umstehenden Bergriesen und ferne aus dem Zillerthal und von Stubai herüber glänzten die Gletscher wie Kohlengluth vor dem Erlöschen. Alles Uebrige schimmerte weiß in der frostigen Dämmerung, in den Thälern lag schwarze Nacht. Ein lauer Wiud strich über die Höhe, auf welcher ich neben einem Kreuze ausruhte. Drohend, wie ein klaffender Abgrund, lag das finstere Thal unter mir, in welches ich jetzt hinüber sollte – nur der zackige Gemskar zeigte auf seinen höchsten Spitzen noch einen Wiederschein der hohen Abendröthe. Eine lange, lange Strecke an jähen Abgründen, durch Wälder und über gefrorene Achen hin lag noch vor mir – über die erstarrte Welt war die Nacht heraufgestiegen; aber konnte ich zurück? – Nun ging es also auf der andern Seite bergab. Bald machte ich zu meiner Bestürzung die Entdeckung, daß hier, auf der Westseite des Gebirgsrückens, der Schnee in viel gewaltigeren Mengen angeweht war, als drüben. Aber welcher Schnee! Die hohe Lage in der trocknen Luft begünstigt die Ausstrahlung der Feuchtigkeit – es ist also keine zusammenhängende Masse, keine feuchte Flockenschicht, wie in der Ebene, sondern eine unermeßliche Anhäufung von Rhomboedern und Nadeln von reinem Eis. Wenn man hineinstürzt, raschelt es, als ob man auf einen Strohsack fiele. Und nun begann das Stürzen und Sinken mit jedem Schritt. Denn, um nicht hart an den Rändern der jähen Abhänge gehen zu müssen, an denen ein Fehltritt in der Dunkelheit mich, der Himmel weiß wohin, befördert hätte, mußte ich mich stets auf der Bergseite halten, an welcher die Eiskrystalle aber fortwährend bis zur Höhe eines mittelgroßen Menschen aufgehäuft waren. Da war jeder Schritt eine Mühsal und eine Stunde brachte mich nicht weiter, als ich ohne diese Schneewehen in fünf Minuten gekommen wäre.

Uebrigens war das noch immer nicht das Aergste. Denn auf jenen hohen Stellen, wo es keinen Baumwuchs mehr giebt, hatte ich doch den fahlen Glanz vom Himmel und den hell glänzenden Sternen und eine weite Rundschau, soweit sie eben eine heitere Winternacht zuläßt. Und diese ist in jenen klaren Höhen heller, als in der dumpfen Luft der Niederungen. Als ich aber wieder in die Waldregion herabkam, welche schon am Tage einen dämmerigen Schatten auf die Bergwand wirft, hörte das Sehen fast auf und es blieb mir überlassen, durch den Bergstock zu unterscheiden, wo sich der Abhang hinunter und die Felswand aufwärts zog. Die Fußstapfen des Holzknechts hatten hier ganz aufgehört, denn neuer Schnee mußte sie fußhoch überrieselt haben. So mußte ich, bis über die Schenkel im Schnee, oft gegen Stämme und Aeste stoßend, von undurchdringlicher Finsterniß umgeben, einen Abhang hinab, dessen Tiefe mir das undeutliche Summen der Wasserstürze verrieth, welches aus der unsichtbaren Kluft heraufdrang. Meine Lage begann bedenklich zu werden. Die Kälte stieg, je weiter ich herunter kam, und nach zweistündigem Niederklettern hatte ich ein Plateau erreicht, auf dem sie strenger war, als sie je am frühen Morgen in den eisigen Thälern draußen gewesen. Es mochte eine Temperatur von zwanzig bis fünfundzwanzig Réaumur in der Luft liegen. Dazu hatte ich auch allmählich jede Sicherheit in Beziehung auf meine Richtung verloren und schon hier gab ich alle Hoffnung auf, noch in dieser Nacht das Jägerhaus von Hinterriß zu erreichen. Manchmal, wenn eine Lücke in den Felsspitzen seinem Licht den Durchgang gestattete, warf der Mond, dessen dünne Sichel hier oben einen helleren Schein verbreitet, als unten seine vollere Scheibe, bleiche Strahlen durch die dichten Aeste – aber es war, als ob sie des Verirrten nur spotten wollten.

Bald kam ich wieder an einen Back, zwischen dessen Eis das starke Gefäll noch einen Zug lebendigen Wassers erhalten hatte. Ein paar schlüpfrige Prügel verbanden seine glasigen Felsufer; ich überschritt sie vorsichtig, war aber noch nicht auf der Mitte des Stegs, als ich ausglitt und einige Fuß hoch in das Wasser hinabstürzte. Es ging nur bis an die Knöchel und ohne weitere Beschädigung konnte ich in der Finsterniß an das andere Felsufer mich wieder hinaustasten.

Die nächtlichen Stunden verflossen – meine Vorräthe erschöpften sich und das immerwährende Hindurcharbeiten durch den hohen Schnee hatte mich todmüde gemacht. Von oben, als es noch etwas Tag gewesen war, hatte ich einige Alpenhütten bemerkt. Sollte mir jetzt eine auf meinem Wege zu Gesichte kommen, dachte ich, so würde ich sofort mit den Holzvorräthen, die Sommers und Winters in oder vor jeder Hütte liegen, mir ein Feuer anmachen und so allgemach den Tag und mit ihm die Möglichkeit abwarten, mich aus den pfadlosen Felswüsten wieder hinaus zu finden. Aber es vergingen Stunden – und ich sah nichts. Das Rauschen der Wasser in den Felsklammen kam bald näher, bald verschwand es wieder in der frostigen Luft – mein Hut, meine Haare, meine Beinkleider, mein Ueberwurf starrten in einer gleichförmigen Eisdecke, welche durch jeden herabfallenden Athemzug schwerer wurde, weil sich sein Hauch darüber lagerte; die Nacht wurde immer grimmiger – der Schnee tiefer – ich sah nichts.

Mit einem Male aber wurde das Getös der Achen stärker – drei Wasser strömten zusammen, vor mir stand eine Hütte. Es war die unter dem Namen Hagelhütte auf den Karten verzeichnete Alpe. Sie liegt da, wo der Blums-, der Blau- und der Rißbach sich aus menschenleeren Thälern vereinigen. Von hier steht acht Stunden nach Süden, zwölf nach Westen kein Haus, keine Wohnstätte. Aber die Riß im Nordwesten ist nur noch drei Stunden entfernt und der Weg dahin geht in einer ebenen Mulde fort. Ich hatte mich nicht verirrt, ich war geborgen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_139.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)