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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

mit denen ein Volk sich für die Lebensversicherung besteuert. Der Gedanke, daß das Leben einer Zeitgenossenschaft zu Gunsten der nach ihr kommenden versichert wird – abstract ausgedrückt, daß die Gegenwart ihr Leben zu Gunsten der Zukunft versichert – ist durchaus keine solche Chimäre, als man bei dem flüchtigen Anhören dieses Ausspruches glauben könnte. Wenn in der überwiegenden Mehrheit eines Volkes Jeder danach strebt seinen Hinterbliebenen ein Erbtheil durch Lebensversicherung festzustellen, dann wäre in der That auch der Wohlstand eines Volkes versichert, und statt um sich zu greifen, würde das Proletariat in immer engere Grenzen eingeschränkt.

Und noch in anderer Beziehung wirkt die Gothaer Lebensversicherungsbank fördernd auf den Volkswohlstand ein, indem sie ihre verfügbaren Geldbestände dem Grundbesitze, vorzugsweise dem Ackerbau, als Anlehen zur Verfügung stellt. Ihr eigenes Vermögen durch Zinsertrag mehrend, erhöht sie die Werthe von Grund und Boden mittels des die Kraft zur Melioration schaffenden Kapitals. Aus dem harten Gelde, das sie in die Ackerfurchen streut, wächst billiges Brod für’s Volk. So rollen unaufhörlich viele Millionen Thaler aus der Bank hin und zurück, in raschem Kreislaufe, wie die Blutkügelchen im menschlichen Organismus, Leben und Gedeihen verbreitend.

Den Maßstab für das schwierige Problem, das die Lebensversicherung mit so glücklichem Erfolge zu lösen gewußt, dürfte ein flüchtig vergleichender Blick auf die Schwesteranstalt, die Feuerversicherungsbank zu Gotha, geben. Diese letztere, von demselben verdienten Bürger Arnoldi bereits im Jahre 1821 gestiftet, bat bei Gelegenheit des Hamburger Brandes die Feuerprobe in des Wortes verwegenster Bedeutung bestanden. Und weit davon entfernt, daß durch den harten Schlag ihre Mittel erschöpft worden wären, datirt gerade die gegenwärtige blühende Finanzlage dieser Bank von jener verhängnißvollen Katastrophe her.

Bei Alledem aber leistet die Feuerversicherungsbank nur Ersatz für die Schäden, die das durch Zufall oder Tücke entfesselte Element an Hab und Gut ihrer Interessenten anrichtet; die Zahlungspflicht der Lebensversicherungsbank jedoch ist eine permanente, denn sie tritt mit jedem Opfer ein, das ein unerbittliches Naturgesetz, der Tod, aus den Reihen ihrer Versicherten fordert, und – früher oder später – er wird sie Alle fordern. Gegenwärtig liegt das Leben von nicht weniger als sechsundzwanzigtausend sechshundert Personen „angefangen und geschlossen“ in den Registern der Gothaer Lebensversicherungsbank, und binnen einer Frist, welche nicht mehr die äußerste Grenze eines Menschenlebens erreicht, da sämmtliche Versicherte einen größeren oder geringeren Theil ihres Lebens bereits verbraucht haben, wird die Bank die ganze Summe sämmtlicher auf diese Leben versicherten Beträge mit 46, sage sechsundvierzig Millionen und 170,000 Thaler! an die Policeinhaber auszahlen müssen.

Das sind gigantische Ziffern!

Und doch braucht Niemand zu fürchten, daß die schwere dieser von Jahr zu Jahr um Millionen sich steigernden Verpflichtungen, mit denen die Bank belastet ist, einen Bankbruch herbeiführen könnte; daß eines Tages der hohe Einsatz, wie ein „Va banque!“ am grünen Spieltische, die Bank sprengen und ihren zahlreichen Gläubigern, den Wittwen und Waisen, ein trostloses Nachsehen lasten würde. Denn gerade darin bekundet sich in der Wirksamkeit der Gothaer Lebensversicherungsbank die Macht der zur gegenseitigen Selbsthülfe sich einenden „Gesellschaft“, daß mit der wachsenden Leistung auch im fortschreitenden Verhältnisse der Reichthum des Gemeinwesens wächst, daß das „Haben“ zum „Soll“ sich verhält, wie die Ernte zur Aussaat. So ist denn auch nicht trotz, sondern eben wegen der erwähnten Höhe ihrer gegenwärtigen Zahlungsobliegenheiten die Bank in der Lage, für dieses Jahr und die nächsten vier Jahre unter die Versicherten über zwei Millionen Thaler reiner Überschüsse zu vertheilen.

Freilich auch ist der Organismus dieser Bank ein Meisterstück, zu dessen Herstellung es neben der Begeisterung ihres Begründers für seine Idee auch dessen Finanzgenies bedurfte. In Deutschland fehlte es jener Zeit gänzlich an Erfahrungen für die einer solchen Anstalt zu gebende Einrichtung, namentlich an correcten Sterblichkeitslisten, die dem Rechnungswesen zu Grunde gelegt werden konnten. Die Mortalitätsstatistik, aus welcher die englischen Lebensversicherungsbanken – die älteste, die „Amicable“ in London, zählte bereits über einhundert und zwanzig Jahre – begründet waren, konnte bei dem damaligen unvollkommenen Stande der statistischen Wissenschaft überhaupt für die in’s Leben zu rufende Schöpfung keine principielle Bürgschaft leisten, abgesehen davon, daß die englischen Sterblichkeitsverhältnisse nicht die Norm für continentale, am wenigsten für deutsche Sterblichkeit, zu geben im Stande waren. Denn in England lebt das Volk anders, als in Deutschland, und stirbt darum auch anders. Die Sterblichkeitsliste, welche der berühmte englische Mathematiker Babbage eigens für die Gothaer Lebensversicherungsbank nach den Erfahrungen der Equitable Society in London ausarbeitete, war aus eben diesem Grunde nicht mit Zuverlässigkeit zu benutzen. Die Gothaer Lebensversicherungsbank mußte darum ihren eigenen Weg gehen, bis geniale Statistiker, wie Quetelet, Farr, Heym und Andere, ihr aus diesem schwierigen Gange die hülfreiche Hand boten. Die erst seit den vierziger Jahren auf ihre wissenschaftliche Höhe sich aufschwingende Statistik hat mit arithmetischen Formeln dem bis dahin schweigsamen Tode das Geständniß abgezwungen, daß auch sein Vernichtungswerk dem Gesetze der Ziffer unterworfen sei, daß auch er seine Opfer unter den Lebenden nach festen Procentsätzen fordere. Der Wissenschaft gegenüber zeigte sich selbst der unheimlich grinsende Knochenmann als „ein Mann, mit dem sich handeln läßt“, wie man geschäftlich sagt. So konnte die auf dem Princip der Vergesellschaftung begründete Bank dem Gesetze des Todes das Gesetz des Lebens entgegenstellen, denn die Gesellschaft stirbt nicht, nur das Individuum. In dem baaren Gelde, das die Lebensversicherungsbank bei jedem Todesfälle ihren Policeninhabern als Erbtheil auszahlt, arbeitet gewissermaßen die capitalisirte Arbeitskraft der Verstorbenen nutzbringend für die Lebenden weiter fort, über das Grab hinaus.

In dem geschäftlichen Betriebe der Lebensversicherungsbank wird darum der Tod, um den sich im Grunde die ganze Thätigkeit dieses Institutes dreht, unter scharfer Controle gehalten. Besonders wissenswerth müssen der Bankverwaltung die Ursachen erscheinen, durch welche die Sterbefälle unter ihren Versicherten veranlaßt werden, und das Zahlenverhältniß, in welchem diese Todesursachen zu dem Lebensalter der Versicherten stehen. Kein Dirigent einer großen Universitäts-Klinik kann darum sorgfältigere Register über die merkwürdigen Krankheiten führen, die in der von ihm geleiteten medicinischen Lehranstalt zur Behandlung gelangt sind, als der Director der Lebensversicherungsbank über die Krankheiten, denen seine „Versicherten“ erlegen sind. Es giebt schwerlich ein pathologisches Uebel, so entsetzlich und Ekel erregend es auch sein mag, das nicht in jenen Hauptbüchern, Manualen und Journalen, mit welchen wir die Wände der Bankbureaus bedeckt sehen, wie ein gangbarer Handelsartikel gebucht wäre. Eine ein Auszug aus den Geschäftsbüchern entworfene Liste der Krankheiten, denen die Versicherten der Bank vom Jahre 1829 bis zum Jahre 1862 erlegen sind, ist lang wie das Leporello-Verzeichnis; von Don Juan’s Liebschaften. Ist ja auch der Tod, wie ihn Holbein dargestellt, eine Art Don Juan, der nichts verschmäht, was ihm gerade in den Wurf kommt, und der an seiner knöchernen Hand eine bunte Reihe zum letzten Tanze führt.

Es ist erstaunlich, an welcher reichen Auswahl von Krankheiten ein civilisirter Deutscher mit ärztlicher Hülfe sterben kann! Unter den 8827 Todten, für welche, mit Ausnahme derer, die statutengemäß ihre Versicherungssumme verwirkt hatten, binnen dieses Zeitraumes von vierunddreißig Jahren, die Gothaische Lebensversicherungsbank eine versicherte Hinterlassenschaft von über vierzehn Millionen Thaler auszuzahlen hatte, befand sich sogar Einer, der an der Elephantiasis gestorben ist, jener exotischen Krankheit, die eigentlich im Vaterlande der biblischen Patriarchen, in Arabien und Aegypten zu Hause ist und an welcher, wie gelehrte Orientalisten es herausgefunden haben wollen, der Dulder Hiob, im Lande Uz, gelitten hat. Unter der einundzwanzigsten Rubrik: „Gewaltsamer Tod“ sind einhundertzweiundsiebenzig Selbstmörder und vier Ermordete verzeichnet. Ein Mitglied der Bank ist an den Folgen der – Hinrichtung gestorben!

Diese Sterblichkeitsstatistik, deren Ergebnisse von fünf zu fünf Jahren verzeichnet sind, vom fünfzehnten Lebensjahre ab – unter diesem Alter wird kein Leben versichert – bis zum neunzigsten Lebensjahre, bildet die Probe für das Rechenexempel, welches den finanziellen Operationen der Bank zu Grunde liegt, um die gemachten Fehler danach corrigiren zu können. Die Vergleichung der in dem erwähnten Zeiträume wirklich eingetretenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_124.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)