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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Spiele gespielt. Hier hatten sie Robinson, hier Paul und Virginie zusammen gelesen, und hier war’s auch gewesen, wo Ingeborg so glänzenden Freudenschimmer in Erich’s Leben geworfen, als sie ihm gesagt hatte, sie würde sterben vor Angst, wenn er wieder zur See ginge. – –

So klein die Hütte, so groß und reich der Schatz der Erinnerungen, der sich für Den daran knüpfte, der mit verschränkten Armen am Pfeiler des Einganges lehnte und düstern Auges auf die lichte Gestalt schaute, welche hell und klar das Mondlicht umfloß. Es war Ingeborg, Ingeborg, die auf dem engen Schauplatz ihrer Kinderspiele im ersten Schmerz ihres Lebens mit heißen Thränen weinte.

Ingeborg Fordenskiöld war vor acht Tagen siebenzehn Jahre alt geworden, sie kannte außer dem einsamen Eiland, auf dem sie lebte, nichts von der Welt, war, was ihr Vater gesagt, ein Kind, ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug genommen. Wie das Kind auf den Weihnachtsbaum, so hatte Ingeborg sich alljährlich auf den Besuch ihres fröhlichen Onkels und des ewig heitern Oscar gefreut. Wie jener Baum Licht in dunkle Abende bringt, so hatte die Anwesenheit ihrer Verwandten Freude in ihr stilles Leben getragen. Beider Besuch brachte Ingeborg Abwechselung, brachte Anderes, als der tagtäglich im ruhigen Geleise sich abspinnende Lauf des Lebens, und welches Kind begrüßt eine heitere Abwechselung nicht mit Jubel und Entzücken?

Wenn Baron Fordenskiöld seiner Tochter vor vier Wochen gesagt hätte, sie solle ihren Onkel heirathen, Ingeborg würde der Vorschlag vielleicht ebenso behagt haben, wie der andere, Oscar’s Frau zu werden und mit ihm über das Meer hinüber in die Welt zu ziehen, nach der sie so heißes Verlangen trug. Die Eroberung dieses Mädchenherzens, dessen Gefühle alle noch ungeprüft, war keine schwierige, wenn sie auch Oscar in Anbetracht ihres Reichthums eine glänzende erschien. Nur wenige Wochen hatte ihr stilles Glück gedauert, dann hatte Ingeborg es den Freundinnen verkünden dürfen, und, wie so oft im Leben, war mit dem ersten lauten Wort auch dem „stillen Glück“ des ruhig freudigen Genusses das Grablied angestimmt!

Während dieser ersten grellen Schmerzensklänge in Ingeborg’s bisher so harmonischem Leben war sie eine Andere geworden, und was noch vor Wochen nicht einmal ein leiser Wunsch ihres Herzens gewesen, das hatte binnen Tagen sich zum glühenden Verlangen ihrer Seele gesteigert. Fort und fort lauschte sie auf die verhallten Töne ihres reinen Glücks, immer schmerzlicher sehnte sie sich zurück nach dem reichen Melodienschatz des alten Liedes, das da ewig neu bleibt, das auch an ihr seine überwältigende Macht und Kraft bewährt, als sie es zum ersten Male gehört, so kurze Zeit gehört!

Ob es nun nach Ansicht Anderer ein Unwürdiger war, der jenen Zaubergesang des Herzens angestimmt – was wußte sie davon! Er hatte ihr gesagt, er liebe sie, und was auch ihr Vater von seinem Verrathe gesprochen – sie glaubte es nicht! Wo ist in so geschützten und behüteten Verhältnissen das Mädchen zu finden, das von derartigem Unrecht nur einen Begriff hätte; wo das Mädchen zu finden, das, wenn es wahrhaft liebt, nicht für den Geliebten gegen eine ganze Welt in die Schranken treten würde?

Ingeborg glaubte zu lieben, zu lieben wie eine Heloise, zu dulden um einen Abälard! – – –

Wie schnitt diese Liebe, dieser Schmerz aber tief und tiefer in das Herz des Mannes, der, ein stummer Zeuge ihres Jammers, am Eingange der Mooshütte lehnte und in lautlosem Schweigen ihr Schluchzen anhörte! Sie sah ihn nicht. Sie saß auf der Moosbank im Hintergrunde des Häuschens, den Kopf gestützt auf die Arme, welche auf dem Tische vor ihr einen Halt gefunden, das Gesicht war vergraben in ihren Händen, unter der Fülle ihrer Locken, die aufgelöst in wirrem Durcheinander über Nacken und Schultern, über Hände und Arme flossen.

„Ingeborg!“ rief endlich der Mann am Eingang weich und leise, als neues, heftiges Schluchzen ihren zarten Körper immer mehr erschütterte.

Sie sprang empor, sah durch Thränen auf die Gestalt, sank zurück und sprach tonlos: „Ach, Du Erich, Du bist’s!“ – –

„Du dachtest, er sei’s, er, der diesen Jammer über Dich gebracht?“ rief er heftig. „O nein, Gott sei Dank! Dank Deinem Vater, der Elende ist fort, und so der Himmel die Gebete treuer Herzen erhört, setzt der Bube seinen Fuß nicht wieder auf unsere Insel, wo die Treue kein Wahn ist und mit der Liebe nicht Spott getrieben wird.“

„Erich, Erich, bist Du von Sinnen, mir das zu sagen?“

„Wer soll Dir’s anders sagen, wer hätte den Muth, Dir armem Kinde die Augen vollends zu öffnen und Dich anzuflehen: weine nicht um den, der Deiner Trauer unwerth ist!“

„Erich, um Gottes Barmherzigkeit willen halte ein, Du zerreißest mir das Herz, wenn Du so von meinem Verlobten, meinem künftigen Gatten sprichst!“

Das junge Mädchen stand bei den Worten plötzlich dicht vor Erich Larsson. Das Mondlicht fiel hell in die durch Thränen aufblitzenden Augen, beleuchtete ihr farbloses Antlitz, das jetzt langsam sich zu röthen begann unter der Gluth auflodernder Empörung.

„Ingeborg!“ rief er heftiger, „laß ab von dem, was nur ein Wahn erhitzter Phantasie ist. Wie kannst Du einen Mann als Deinen Gatten denken, der noch vor wenigen Wochen –“

„Halt ein! ich weiß, was Du sagen willst. Ueber Deine Lippen soll jene Lüge nicht kommen, die meinen Vater veblendet hat. Glaub mir, Erich, sie hat Unwahrheit gesprochen in ihrem unseligen Briefe.“

„Nein, nein, Ingeborg, sie sprach die Wahrheit!“

„Waren ihre Ansprüche begründet, warum dann nahm sie seine Hand nicht an, die mein Vater ihr in seinem Namen antrug?“

„Nanna Hansen ist eine Friesin, Ingeborg. Wer diesen einmal das Wort gebrochen, ist auch ihrer Liebe verlustig! Eine Friesin ist zu stolz, das Weib eines Mannes zu werden, der ein falsches Herz, kein rein Gewissen und seine Ehre befleckt hat.“

Mit lautem Aufschrei wich das Mädchen zurück, mit weitaufgerissenem, glanzlosem Auge starrte sie auf den unbarmberzigen Sprecher, dann ergriff sie in wild aufbrausender Heftigkeit seinen Arm und sagte zornig: „Wie kannst Du mir das anthun?“ Ihre Hand sank, unter seinem trüben ernsten Auge, das fest auf ihr ruhte. „Wie kannst Du mir das anthun, Erich?“ wiederholte sie leise.

„Weil ich Dich retten möchte, weil ich Dich liebe, Ingeborg!“

„Erich! Erich!“ rief sie zurückweichend.

Er stürzte zu ihren Füßen, ergriff ihr Gewand und flüsterte in leisen, gebrochenen Tönen: „Ja, Ingeborg, weil ich Dich liebe, weil ich Dich retten muß.“

Wie abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn aus, den Blick abkehrend von diesen von Schmerz und Leidenschaft zerrissenen Zügen, die sie nur mild, nur ruhig kannte, obwohl sie wußte, wie kühn, wie trotzig sein Herz war.

Wild, stürmisch war auch jetzt sein Ton, als er leidenschaftlich hinzusetzte: „Heiß’ mich nicht gehen, wende Dich nicht ab! höre mich an! Ich, Ingeborg, liebe Dich, wie Du geliebt zu werden verdienst, liebe Dich, wie Du geliebt sein mußt, um dauernd glücklich zu sein.“

„Erich!“ flehte sie, „besinne Dich, komm zu Dir, bedenk, mit wem Du redest, zu wem Du so sprichst! Erich!“ setzte sie weich hinzu, „thu’ Dir’s selbst nicht an, Dich so zu vergessen, so Deine arme Schwester –“

„O, nicht dies Wort, Ingeborg! es hat mein Herz schon oft wie mit tausend Dolchen durchbohrt, hat mich schon manchmal an den Rand des Wahnsinns getrieben! Du bist mir Alles, nur nicht Schwester, Du bist der Abgott meiner Seele, das Idol meines Herzens, bist –“

„Kein Wort weiter!“ rief das Mädchen in aufflammendem Stolze mit strengem Ton.

Sie hätte aber eben so gut den tobenden Meereswogen gebieten können: „fließet rückwärts!“ wenn die Gewalt des Sturmes sie hinfort getrieben, weit über das Ufer ihres Bettes, weit über alle von Menschenhand künstlich erhobenen Dämme. Ihn riß jetzt die Gewalt der Leidenschaft hin, fort über alle Schranken trieb ihn der Sturm wild aufgeregter Gefühle, die Venunft, Ueberlegung, fester Wille und Macht der bestehenden Verhältnisse zurückgedrängt und lange im stummen Grabe gehalten hatte.

„Mein, mein wirst Du sein, wenn Du Dich losgerissen von dem Unwürdigen!“ antwortete er in höchster Leidenschaft.

Da übermannte sie der Zorn; mit einer Heftigkeit und Bitterkeit, die ihrem Wesen und Charakter bis zu dem Augenblick völlig

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_114.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)