Seite:Die Gartenlaube (1865) 104.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

daß die Guten fortgingen und die Schlechten zurückblieben. In Genf wollte sie bleiben, allein die Behörden gestatteten ihr nicht nur keine Niederlassung im Canton, sondern verlangten, daß sie schon am nächsten Morgen abreise. Nur den gewichtigsten Vorstellungen des Grafen von Voyna, Adjutanten des Fürsten von Schwarzenberg und Kammerherrn des Kaisers von Oesterreich, welcher ihr zum Schutze von Paris aus beigegeben worden war, verdankte sie noch eine Frist von einigen Tagen.

Auch in Aix in Savoyen, wo sie ein geräumiges Gehöft miethete, fand sie nicht lange Zuflucht. Die bourbonische Reaction im Süden Frankreichs gewann bald eine große Verbreitung und äußerte sich selbst durch Meuchelmorde an den Bonapartisten, welche man einer Verschwörung gegen die jetzige Regierung bezichtigte. Der österreichische General Pochemann, welcher die verbündete Macht in Lyon und den benachbarten Provinzen befehligte, ließ die Königin warnen, weil ihr und ihrer Söhne Leben bedroht wäre. Eine solche Nachricht war an sich schon geeignet, einen noch so schönen Aufenthaltsort zu verleiden; es kam aber überdies ein Ereigniß hinzu, um einen Wechsel desselben noch wünschenswerther zu machen. Ihr Gemahl, Louis Napoleon, verlangte seinen ältesten Sohn zurück. Die Mutter, welche mit größter Zärtlichkeit an ihren Kindern hing, gab nur mit blutendem Herzen nach, weil sie um das Leben desselben besorgt war. Dem jüngern Bruder zog die Trennung eine Gelbsucht zu, welche eine bedeutende Schwäche zur Folge hatte, von der er sich nur langsam erholte.

Aber auch die Königin litt furchtbar unter dieser Trennung und begann ernstlich zu kränkeln. Der Ort war ihr verleidet. Sie faßte denn einen raschen Entschluß und verließ die Stadt, welche sie immer und immer wieder an ihren großen Verlust erinnerte, am 28. November 1815. Bei ihrem Durchzuge und kurzen Verweilen auf dem Gebiete des Cantons Genf setzte sie die kleinen Herren desselben wieder in einen panischen Schrecken und veranlaßte sie zu höchst lächerlichen kriegerischen Vorkehrungen. In der Stadt Murten im Canton Freiburg jagte sie abermals den Behörden keine kleine Furcht ein, die sogar eine kurze Verhaftung zur Folge hatte. Von dort an kam sie ohne weitere Abenteuer durch die Schweiz und langte an der Grenze derselben, in Constanz am Bodensee, am Dienstag den 5. December 1815 an. Für’s Erste nahm sie ihren Aufenthalt im Gasthaus zum Adler an der Marktstätte, demselben behaglichen Wirthshause, dessen jetzt sinnig angeordneter und reich geschmückter glasbedachter Hof so manchem unserer Leser eine freundliche Erinnerung sein wird, und wandte sich sogleich an ihre Verwandte, Stephanie Louise Adrienne Beauharnais, Großherzogin von Baden, mit der Bitte, ihren Gemahl zu veranlassen, daß ihr der Aufenthalt in Baden gestattet werde, das allerdings zu denjenigen Ländern gehörte, in welchen den Mitgliedern der bonapartischen Familie nicht zu weilen erlaubt war. Die Antwort lautete verneinend.

Hortense war aber des flüchtigen Umherirrens müde und entschloß sich daher, von dem abschlägigen Bescheide keine Notiz zu nehmen und durch eine „vollendete That“, wie die Großen unserer Erde, die Sache zu Ende zu führen und alle weitern Erörterungen darüber abzuschneiden. Sie beauftragte deshalb ihren Hausverwalter, sich nach einer Wohnung umzuschauen, welche mit einer schönen Lage zugleich auch noch die nöthigen Räumlichkeiten vereinigte. Glücklicherweise liegt ganz in der Nähe der Stadt, nur ein paar Minuten östlich von der jetzigen Eisenbahnbrücke entfernt, in der Vorstadt Petershausen, hart am Rheine, ein größeres eingefriedigtes Gut, das neben Räumlichkeiten, welche wenigstens zur Noth dem kleinen Hof der Königin entsprechen konnten, noch hinreichend Platz zu Bewegungen und Spaziergängen und zugleich eine gewisse Abgeschiedenheit von der Welt darbot, wie sie dem Gemüzhszustand der Königin zusagen konnte. Das Gut hieß damals von seinem Besitzer, dem Handelsherrn Jos. Christoph Zumstein, das Zumstein’sche, wie heutzutage das Vincentische Gut.

Diesen Zufluchtsort miethete die Königin, bezog ihn am 4. Januar und richtete sich darin ein, so gut es gehen wollte. Sie bewohnte das dreistöckige Hauptgebäude, dessen Zimmer alle nach Westen gingen. Gegen Osten läuft ein Gang oder eine hölzerne Galerie der Länge des Hauses nach, worauf sich die Zimmer durch einen verschließbaren Vorplatz mittelst zweier Thüren öffneten. Der mittlere Stock wurde von Hortense und dem Prinzen Louis bewohnt, während den dritten die Hofdamen und die höhere Dienerschaft einnahmen. Das nun abgebrochene ehemalige Fabrikgebäude gegen Norden diente zur Beherbergung der niederen Diener und zu ebener Erde war die allgemeine Küche. Dies ward also die Stätte, wo eine gefallene Größe, oder vielmehr zwei, wenn man den Prinzen auch dazu rechnen will, sich auf deutschem Boden niederließen.

Für die Stadt Constanz war das Verweilen einer Exkönigin ein wirkliches Ereigniß, das ihre Bewohner mit einem gewissen Stolz erfüllte. Schon vom materiellen Standpunkte aus war der kleine Hof geeignet, der verarmten Stadt manche bisher unbekannte Vortheile zu bieten; die Leutseligkeit der Königin aber, verbunden mit der größten Freigebigkeit gegen Arme und Hülfsbedürftige, that das Uebrige, um ihr die Herzen zu gewinnen und ihr allgemeine Liebe und Hochachtung zu erwerben. Man erzählte sich manche schöne Züge von dem guten Herzen der Königin und ihres Sohnes, den man allgemein nur den Prinzen nannte. Wenn sie daher mit ihm ausfuhr, so entblößten sich alle Häupter, und die Grüße wurden ebenso herzlich entgegengenommen, wie sie gegeben wurden. War es ein Wunder, daß ich als zwölfjähriger, leicht erregbarer Knabe von dem allgemeinen Enthusiasmus für die vornehmen Verbannten angesteckt wurde und nähere Bekanntschaft, zwar nicht mit der Königin, aber doch mit dem Prinzen anzuknüpfen suchte? War ich doch einer seiner nächsten Nachbarn und konnte von meinem Hause aus ihn im Gute herumspringen sehen! Ueberdies waren wir im Alter nicht gar weit auseinander und mein Wunsch daher nichts gar so Thörichtes.[1]

Der Ausführung desselben standen aber manche Schwierigkeiten entgegen. So viel sah ich schon damals ein, daß ich mich dem Prinzen nicht so geradezu aufdrängen konnte; es bedurfte irgend eines Anlasses, mit ihm Bekanntschaft zu machen. Zum Unglück befand sich aber am Thorpfeiler des Gutes, welches durch ein hölzernes Gitter geschlossen werden konnte, die mir Furcht einjagende Inschrift: „Es wird Jedermann ersucht, der keine Geschäfte in diesem Gute hat, der Eingang zu meiden.“

Der Verfasser dieser Warnung, welcher mit dem Nominativ weit durch die Welt gekommen und den Accusativ gar nicht gekannt, mindestens nie gebraucht zu haben scheint, mein alter Zeichenlehrer Nikolaus Hug, der viel zur Königin kam und derselben manche Zeichnung machte, hat wohl nie daran gedacht, daß er mir durch sein unorthographisches Geschreibsel wie der Engel mit dem flammenden Schwerte vor dem Eingang in’s Paradies erschien.

Mein Sinnen und Denken war lange Zeit darauf gerichtet, irgend ein Mittel aufzufinden, in einer „Geschäftssache“ mit dem Prinzen bekannt zu werden. Ich sah so viele Leute, und darunter recht arme, in’s Gut gehen; aber freilich, die letztern betrachteten das Betteln als ein Geschäft und waren also nach dem Inhalt des Verbots zum Eintritt berechtigt. Vergeblich strengte ich allen mir damals zu Gebot stehenden Scharfsinn auf, das Zauberwort: „Sesam, thue dich auf!“ zu finden, welches mir, wie in Tausend und einer Nacht, das Paradies meiner Wünsche öffnen sollte. Ich zerarbeitete aber umsonst mein armes Gehirn; denn kein Buchstabe des benöthigten Wortes fiel mir ein. Da verfiel ich endlich auf die Association, welche heut zu Tage so große Wunder im gesellschaftlichen Leben bewirkt. Was der Eine nicht weiß, das weiß vielleicht der Andere, dachte ich und handelte rasch darnach. Ich hatte einen Jugendfreund von gleichem Alter. Nikolaus Gau mit Namen, den jetzt auch schon seit manchem Jahre die Erde in ihrem Schooße birgt. Er wohnte in Petershausen, dem Prinzen noch näher als ich, und war von der gleichen Begierde durchdrungen, denselben kennen zu lernen. Gemeinschaftlich machten wir uns nun an’s Werk und spannten unsere vereinten Kräfte zur Erreichung unseres Zieles an. So wenig uns sonst aber zu Jugendstreichen die Erfindungsgabe gebrach, so ließ uns dieselbe doch diesmal im Stich. Wir konnten kein Mittel finden, das mit einem Geschäfte auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hatte, weshalb wir uns entschlossen, den gesetzlichen Weg an dem unorthographischen Verbot vorbei zu verlassen und auf Schleichwegen in das gelobte Land unsers heißesten Begehrens zu gelangen.

Es war an einem Sonntagsnachmittag im März des Jahres

  1. Ludwig Napolen wurde am 20. April 1808 geboren, welches Ereigniß Kanonendonner der Bevölkerung von Paris verkündete. Erst am 14. November 1810 aber ward er zu Fontainebleau von seinem Großonkel, dem Cardinal Fesch, getauft.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_104.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)