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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

darum höchst willkommen, und weiter gar nicht bedenkend, daß diese die radicalen Principien noch lauter proclamirten als die Fazy’sche Partei, stimmten Conservative und Aristokraten wie ein Mann mit den Independenten. Aber selbst diese Vereinigung dreier von einander ganz verschiedener, im Princip weit auseinandergehender Parteien konnte noch keine Majorität gegen die zahlreichen Anhänger Fazy’s zu Stande bringen, und sie würden sich vergebens abgemüht haben, wenn nicht die Ultramontanen den Moment für geeignet gehalten hätten, nunmehr ihre innerste Natur zu enthüllen. Man weiß es, daß die dem Canton annectirten katholischen Gemeinden, trotz der Wiener Verträge und trotz der Specialverträge mit Savoyen, unter dem alten, calvinistischen Genf beinahe ganz vom Staatsleben ausgeschlossen waren. Dasselbe System, welches sich im Jahre 1815 gegen die Einverleibung des katholischen Bestandtheils sträubte, suchte, da dieses doch geschehen war, die Vereinigung, so zu sagen, als eine mechanische zu erhalten, anstatt sie in eine chemische zu verwandeln. Die Katholiken waren eigentlich unterdrückt, unemancipirt; vor Allem aber suchte man sie von allen Aemtern und von den Vortheilen auszuschließen, welche die ungeheueren Geldfonds der Genfer Wohlthätigkeits- und Lehranstalten der protestantischen Bevölkerung gewährten. Mit der Revolution von 1846 wurde allgemeine Toleranz und Religionsfreiheit proclamirt; die Katholiken fungirten als Bürger, und wenn auch die alten Parteien sich immer des Religionsunterschiedes erinnerten, in der Masse des Volkes wurde dieser mehr und mehr verwischt. Die Katholiken bezeigten Fazy große Dankbarkeit und Anhänglichkeit – und wie sollten sie nicht, da er bei jeder Gelegenheit für sie eintrat und dafür von den andern Parteien als Pseudokatholik, als Werkzeug der Jesuiten verschrieen wurde? Setzte er es doch durch, daß im calvinistischen Rom den Katholiken ein schöner Bauplatz geschenkt wurde, und ist es doch seine Schuld, daß sie jetzt eine so schöne, herausfordernde Kirche besitzen! Doch war es bei aller Dankbarkeit und Anhänglichkeit nur natürlich, daß sich die Katholiken, oder vielleicht nur die Ultramontanen unter den Katholiken, für die Länge im Lager der Radicalen nicht heimisch fühlen konnten – und nachdem die Fazy’sche Constitution Wurzel gefaßt, die Religionsfreiheit eine gesicherte Eroberung war, so daß man der radicalen Principien nicht mehr bedurfte, gingen die Ultramontanen mit einem Male hinüber in das andere Lager, wo zwar ihre erbittertsten Feinde zu Hause sind, welche Feinde aber auch Feinde des Radicalismus, der Freiheit sind. –

Dies im Kurzen die Geschichte der neuen Parteibildung in Genf, die sich zwar seit langer Zeit vorbereitete, aber erst im Laufe der letzten drei Jahre vollbrachte, und so entstand die Majorität, welcher es zwei Mal nach einander gelang, Fazy von der Regierung auszuschließen. Man sieht, daß es eine künstliche und unnatürliche Majorität ist, zusammengesetzt aus den heterogensten Elementen, Patriziern, Conservativen, die Beide streng calvinistisch sind, Katholiken und Radicalen, die sich gegenseitig bekämpfen würden, sobald sie der alten, radicalen Partei, d. i. der Fazy’schen ledig wären. Jetzt, so lange diese noch so stark ist, wie sie sich trotz der Coalition bei der letzten Wahl gezeigt, halten diese divergirenden Elemente zusammen, demoralisiren und fälschen einander gegenseitig durch die beständigen principiellen Concessionen, die sie einander machen müssen. Die Geschichte dieser Parteibildungen erklärt die Vorgänge des 22. August, denn sie konnten nicht vor sich gehen, ohne tiefgehende Erbitterungen zu erzeugen, da man auf der Fazy’schen Seite den größeren Theil der Gegner als Abgefallene, als Apostaten betrachtete, und auf der anderen Seite ein mehrjähriges Streben wiederholt Enttäuschungen erfahren mußte (wie z. B. die Verwerfung der revidirten Constitution durch das ganze Volk), was die Independenten um so mehr schmerzte, als sie sich der Opfer bewußt waren, die sie, ihrem Princip entgegen, den reactionären Bundesgenossen zu machen gezwungen waren. Das Landvolk, welches der Fazy’schnen Verfassung außerordentlich viel zu danken hat und das sich um die städtischen Vorgänge, um Spielhölle, Maitresse, Geldgeschichten wenig kümmert, fand, daß „der Alte“ („le Vieux“) lange genug von der Regierung ausgeschlossen sei, und selbst die Bauern, die seit zwei Jahren gegen ihn gestimmt, ergriffen jetzt für ihn Pariei, da er seine „Lection“ erhalten habe. Die Anhänger Fazy’s waren ihrer Sache beinabe gewiß; die Independenten zitterten. Die Sache wandte sich gegen Erwarten der Einen und gegen die Furcht der Andern, daher um so größerer Jubel auf der einen, um so größere Erbitterung auf der andern Seite. Dazu das Gerücht von Fälschung der Wahlen – und es kam zum Kampfe.

Die Reaction hat die Vorgänge des 22. August gierig auszubeuten versucht, um so mehr als die Anhänger der Conservativen von Genf selbst aus die entstellendsten Berichte in die Welt hinaus sandten und senden ließen. Wohl hatte der Freund der Freiheit Ursache gehabt, besorgt zu sein, allein das Verdict, welches am 30. December der Obmann des Schwurgerichts verkündete: „Die Angeklagten sind nicht schuldig“, hat diese Behauptung glücklicherweise zu Schanden gemacht und das gesunde Urtheil der Genfer Bevölkerung von Neuem glänzend bewährt. Fazy selbst weilt jetzt wieder in Genf; ob er aber wieder das leitende Haupt seiner Partei werden wird, steht nach so manchen Enthüllungen, welche der Proceß gebracht hat, und nach den Differenzen, in die er mit dem Verwaltungsrathe der von ihm gegründeten „Banque générale suisse“ gekommen, sehr dahin.




Der Kaiser im Flügelkleide.
Von J. Marmor.

Wer bleibt wohl kalt, wenn er sich an die Tage seiner Jngend erinnert, an jene rosigen Tage voll warmen Sonnenscheins und hellen Lichtes, die nur auf Augenblicke durch trübe Wolken und rauhe Lüfte getrübt wurden? Wer gedenkt nicht mit süßer Wehmuth jener Hoffnungen eines immerwährenden Glücks, jener Pläne zur Beglückung der Menschen um sich herum, die man alle für gut und gleichgesinnt hält, weil man an sie den eigenen Maßstab legt? Wie zuckt das arme Herz zusammen, wenn es später das Leben kennen lernt und die meisten schönen Träume des warmen jugendlichen Blules wie Schäume zerfließen sieht!

Trotz aller dieser Täuschungen wird es aber Keiner bereuen, wenigstens einmal von einem Glück geträumt zu haben, nach welchem man im Leben vergeblich jagt. Wie glücklich sind diejenigen, welche in ihrer Jugend die Welt wie ein lachendes Eden ansehen konnten, und wie unglücklich Jene, denen das harte prosaische Leben jede Lust und Freude schon in der Knospe durch den vergiftenden Mehlthau des Kummers und der Sorgen erstickte! Mir war im Ganzen eine glückliche Jugend beschieden. Die frühere Zeit hatte das Gute, daß man die Jugend Jugend sein ließ und von der Blüthe nicht sogleich auch schon die Frucht erwartete. Mein Stiefvater, ein braver Mann, welcher mich wie seinen eigenen Sohn liebte, ließ mich gewähren und in den Freistunten mich mit meinen Gespielen nach Herzenslust herumtummeln. Unter denselben befand sich einer, welcher jetzt wie man zu sagen pflegt, die Geschicke der Welt in seinen Händen hat – der Kaiser Napoleon III., ehemaliger Prinz von St. Leu.

Nach dem Sturze Napoleon’s des Ersten war es der ehemaligen Königin von Holland, Hortensia Fanny Beauharnais, nicht mehr ganz geheuer in dem „schönen Frankreich“, und sie wünschte dasselbe so bald als möglich zu verlassen und nach der Schweiz zu ziehen, um dort in Muße sich der Erziehung ihrer beiden Söhne, Napoleon und Carl Louis Napoleon, zu widmen. Auf ihr Verlangen erhielt sie von Ludwig dem Achtzehnten einen Paß, mit dem sie am 17. Juli 1815 Abends um neun Uhr von Paris abreiste.

Ihre Reise brachte ihr Angenehmes, aber auch mannigfach Unangenehmes, je nachdem die Bewohner der von ihr berührten Gegenden dieser oder jener politischen Anschauung huldigten. Während nur das entschlossene Benehmen der österreichischen Schutzwachen sie und die Ihrigen vor Rohheiten der bourbonisch gesinnten Soldaten und Bevölkerung in Dijon schützte, warfen ihr die Napoleon ergebenen Bauern außerhalb der letzten Vorposten der Festungsmauern dieser Stadt Blumenkränze unter dem Rufe: „Es lebe der Kaiser!“ in ihren Wagen und sprachen ihr Bedauern aus,

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