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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Er gab dem Gerichtsschreiber einen Wink. Dieser ging hinaus und kam sofort mit einem fremden Manne zurück. Es war der Postillon, der vor zwei Monaten den Herrn Bormann mit dessen Frau zu der Buchhauser Linde gefahren hatte.

„Kennt Ihr den Herrn?“ fragte ihn, auf den jungen Freiherrn zeigend, der Justizamtmann.

Der Postillon besah sich den jungen Edelmann.

„Es ist die Figur,“ sagte er. „Das Gesicht sah ich damals nicht. Weiter kann ich nichts sagen.“

„Herr Baron,“ wandte sich der Justizamtmann zu dem jungen Freiherrn, „darf ich Sie bitten, mit dem Manne zu sprechen?“

„Mit dem Menschen?“ fragte der junge Freiherr stolz.

„Er soll wohl meine Stimme hören? Er hat sie gehört!“

Der Justizamtmann hatte auch seine Ruhe, die nicht zu erschüttern war.

„Kanntet Ihr die Stimme des Herrn schon früher?“ fragte er den Postillon.

Der Mann sann einen Augenblick nach und sagte dann: „Ich meine, es sei die Stimme des Herrn, den ich nach der Buchhauser Linde fuhr.“

„Bestimmt wißt Ihr es nicht?“

„Schwören könnte ich nicht darauf.“

Der Mann war in dem fremden, vornehmen Schlosse befangen. Der Justizamtmann ließ ihn zurückführen und den Wirth von der Buchhauser Linde eintreten.

Der alte Lindenwirth war dagegen nicht der Mann, der sich durch Glanz und Stolz imponiren ließ. Der Schreck hatte ihn allerdings vor zwei Monaten vergessen und versäumen lassen können, was zu thun war, aber er war ein gewissenhafter Mann.

„Es ist,“ sagte auch er, „die Figur des Herrn, der mit der ermordeten Frau bei mir logirte. Das Gesicht habe ich nicht gesehen.“

„Soll auch dieser brave Mann meine Stimme hören, mein Herr?“ fragte der junge Freiherr den Gerichtsamtmann.

„Es ist auch die Stimme jenes Herrn,“ sagte der Wirth.

„Erkennen Sie dieselbe genau wieder?“ fragte der Justizamtmann.

Und der Wirth sagte entschieden: „Ja, es ist die nämliche Stimme.“ Dann besah er noch einmal den jungen Freiherrn und fuhr jetzt fort: „Je mehr ich nachdenke, Herr Justizamtmann, und mir Alles in meine Erinnerung zurückrufe, desto lebendiger spricht es in mir: ,Das ist der fremde Herr, der mit der Dame bei mir war, der mit ihr in der Nacht ihres Todes allein war, der mir am andern Morgen mittheilte, daß sie todt sei, und der die Leiche der Armen verlassen konnte!’ Ja, ja, Herr,“ wandte der Mann, dem man die Bravheit und Wahrheit ansah, sich zu dem jungen Edelmann, „ja, Herr, Sie waren es. So, gerade so, wie Sie hier jetzt stehen, standen Sie auch damals vor mir, als Sie mir die Todesnachricht brachten. Ganz so stolz, so vornehm und so herrisch. Ich werde Sie nie vergessen, wie Sie so dastanden, und niemals wird die Stimme aus meiner Erinnerung kommen, mit der Sie mir sagten: ,Mir ist ein Unglück begegnet in Ihrem Hause – – meine Frau ist diese Nacht an einem Krampfanfalle gestorben. Leider warten wichtige Geschäfte auf mich, ich kann mich keinen Augenblick länger aufhalten. Nehmen Sie das Geld und bestreiten Sie inzwischen die Beerdigungskosten, Sie werden bald Weiteres von mir hören.‘ Das sind Augenblicke, die einem nicht aus dem Gedächtnisse kommen, wenn man auch hundert Jahre alt wird. Ja, ja, Herr, Sie waren es, Sie stehen wieder vor mir und ich hörte eben die Stimme wieder.“

Der Mann sprach mit voller Ueberzeugung.

Der junge Freiherr lachte verächtlich. „Und Sie sahen das Gesicht nicht!“ Den Justizamtmann fragte er: „Haben Sie noch mehr solche Zeugen, mein Herr?“

Der Gerichtsbeamte hatte ein bedenklickes Gesicht. Die vollste innere Ueberzeugung des Lindenwirths enthielt kaum eine entfernte Vermuthung, da er sie nicht durch äußere, auch für jeden Dritten überzeugende Thatsachen begründen konnte. Da wurden draußen im Gange nahende Schritte laut.

Der Justizamtmann, als er vor dem Erscheinen des jungen Freiherrn in dem grauen Salon mit dem Castellan gesprochen, hatte diesem Anweisungen ertheilt für das, was geschehen solle. Den Gerichtsschreiber hatte er ihm in den Salon schicken müssen, während der Lindenwirth und der Postillon in einem Zimmer in der Nähe warten sollten. Der Polizeirath blieb bei dem Portier, um den alten Pfarrer aus Schönthal, sobald derselbe ankomme, hinauf zu geleiten.

Der Justizamtmann gab dem Gerichtssecretair wieder einen Wink. Dieser verließ das Zimmer, führte den Lindenwirth hinaus und kehrte mit einem Fremden zurück. Es war ein Greis, ein hinfälliger, von Gram und Schmerz niedergedrückter Greis. Welch ein Anderer war in den wenigen Monaien der Pfarrer Gerlach von Schönthal geworden! Im Mai der rüstige alte Mann, dem die silbenweißen Locken um das klare, zufriedene, glückliche Antlitz so schön glänzten! Heute ein Bild des Jammers, des zerstörten Lebens! Die Locken hingen ihm so lang, so unordentlich um das hohle Gesicht.

„Wer sind Sie, mein Herr?“ fragte ihn der Justizamtmann.

„Der Pfarrer Gerlach aus Schönthal.“

„Kennen Sie diesen Herrn?“

Der Greis hatte im ersten Augenblicke nur den Justizamtmann, der sofort bei seinem Eintritt vor ihn getreten war, gesehen. Er warf jetzt seinen Blick auf den jungen Freiherrn.

„Herr Bormann!“ rief er entsetzt. „Der Entführer meines Kindes! Der Mörder meines armen, meines einzigen Kindes!“

Die Worte waren ein furchtbarer Herzensaufschrei des unglücklichen Greises. Der alte Freiherr fuhr auf seinem Divan in die Höhe und die beiden Gerichtsbeamten erbebten; der junge Freiherr allein stand ruhig, mit seinem kalten, eisigen, sicheren Stolze.

„Erkennen Sie den Herrn bestimmt?“ fragte der Justizamtmann den alten Pfarrer.

„Ich sah ihn ja oft: ich sah ihn so nahe.“

„Sie haben keinen Zweifel?“

„Wie wäre ein Zweifel möglich! Mein ganzes Dorf kennt ihn, ebenso die Nachbarschaft am See; das Haus, in dem er lebte, kennt ihn. Hundert Menschen werden bei seinem ersten Anblick ausrufen: ,Das ist er!’“

„Und Sie, mein Herr?“ fragte der Justizamtmann den jungen Freiherrn.

„Ich, mein Herr, bedaure den unglücklichen Greis, dem seine Tochter entführt und ermordet sein mag und dem nun die durch den Verlust krankhaft aufgeregte Phantasie in jedem fremden jungen Manne den Entführer und Mörder seines Kindes zeigt. Seine hundert Zeugen werde ich mit Ruhe erwarten.“

Der alte Mann hatte sich setzen müssen. Sein Schmerz, sein Zorn hatten keine Worte. Der Gerichtsschreiber hatte, als er zuerst in das Zimmer gekommen war, ein Bündel Acten und ein verschlossenes Etui mitgebracht, die Acten enthielten die Verhandlungen über den in der Buchhauser Linde verübten Mord an einer unbekannten jungen Frau. Das Etui öffnete der Justizamtmann und nahm eine Gypsmaske heraus: es war die Todtenmaske der Ermordeten. Man erkannte die schönsten, die edelsten Züge einer jungen Frau. Der Gerichtsamtmann zeigte die Maske dem alten Pfarrer – und der furchtbarste Schmerz des Greises hatte wieder Worte.

„Mein Kind! Meine Tochter! Johanna, mein Kind!“

Der Justizamtmann hielt die Maske dem jungen Freiherrn, dem Mörder vor.

Ja, er war der Mörder!

Er war blaß geworden, als er plötzlich das Antlitz der Todten sah; alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Er selbst glich einen Augenblick einem Todten, aber nur einen kurzen Augenblick, dann stand er wieder ruhig, kalt, stolz. Er hatte die Gewalt des vollendeten Verbrechers über sich.

„Kennen Sie das Gesicht?“ fragte ihn der Justizamtmann.

Der alte Freiherr hatte sich erhoben.

„Ueberlassen Sie mir das Weitere!“ sagte er ruhig, kalt und stolz, aber mit der Strenge des ernstesten, des furchtbarsten Richters dieser Erde, und das ist der Patriarch, der das Richteramt in seiner Familie ausübt. Er war nicht mehr hinfällig, der achtzigjährige Greis, und seine Gestalt nicht mehr gebückt, sondern hoch, aufrecht stand er da gleich einem jener alten Könige, von denen die Sage erzählt, daß sie manchmal aus ihren Gräbern sich erheben, zürnend, rächtend, richtend. So trat er vor den Sohn, zog das Sagenbuch hervor, das er aus seinem Zimmer mitgenommen, und schlug das Blatt auf, das er sich bezeichnet hatte.

„Lies,“ sagte er zu dem Sohne.

Es war das einzige Wort, das er sprach. Der junge Edelmann nahm das Buch, aber es zitterte in seiner Hand; der alte Edelmann sah das mit seiner kalten Ruhe. Der junge Freiherr las aus dem Buche, während der alte Freiherr hoch aufrecht vor

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