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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Diese gaben ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß Kleist eine gesicherte Lebensstellung sich erwerben würde, da er ebensowenig wie seine Braut ein hinreichendes Vermögen besaß.

Wilhelmine war ein gutes, sanftes Mädchen, das sich in alle Launen des geliebten Mannes fand und voll Vertrauen an ihm hing. Geduldig wartete sie auf die Erfüllung seiner Pläne für die Zukunft, die sich indeß meist als Chimären erwiesen. Bald wollte er Chemie und Naturwissenschaften studiren, bald in Frankreich als Lehrer der deutschen Sprache auftreten, bald dies, bald das ergreifen, vor Allem aber sich die höchste und vielseitigste Bildung erwerben. Bildung und Liebe sind die Worte, die er in allen Briefen an seine harrende Braut wiederholt, die beiden Achsen, um die sich sein ganzes Dasein dreht. Seine Angehörigen und besonders Wilhelminens Eltern verlangten, daß er sich um ein Amt bewerben sollte. „Ich will kein Amt nehmen,“ schrieb er an die Verlobte. „Warum nicht? Wie viele Antworten liegen mir auf der Seele! Ich kann nicht eingreifen in ein Interesse, das ich mit meiner Vernunft nicht prüfen darf. Ich soll thun, was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbedeutenden Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann nicht. –– Nein, es geht nicht, ich passe für kein Amt. Ich bin auch wirklich zu ungeschickt, um es zu führen. Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit sind Eigenschaften, die bei einem Amte unentbehrlich sind und mir ganz fehlen. Ich arbeite nur für meine Bildung gern und da bin ich unüberwindlich geduldig und unverdrossen. Für die Amtsbesoldung Listen zu schreiben und Rechnung zu führen? – ach! ich würde eilen, eilen, daß sie fertig würden, und zu meinen geliebten Wissenschaften zurückkehren. Ich würde die Zeit meinem Amte stehlen, um sie meiner Bildung zu widmen. Nein, es geht nicht!“

Natürlich waren die Eltern seiner Verlobten mit diesen Ansichten nicht einverstanden, aber Wilhelmine blieb ihm treu, ohne sie jedoch zu theilen. Kleist selbst lebte in Berlin, ausschließlich mit seinen Studien beschäftigt, unter denen die Philosophie den ersten Rang einnahm. Plötzlich aber erfaßte ihn ein Ekel vor allem Wissen, ein eigenthümlicher Zustand von Zweifel und Uebersättigung, wie er häufig gerade die vorzüglichsten Geister zu befallen pflegt, während die Mittelmäßigkeit davon verschont bleibt. „Seit die Ueberzeugung,“ schreibt er an seine Braut, „daß hienieden keine Wahrheit zu finden ist, vor meine Seele trat, habe ich kein Buch mehr angerührt.“ Um sich aus diesem furchtbaren Zustande zu reißen, unternahm er in Begleitung seiner treu ergebenen Schwester Ulrike im Jahre 1801 die schon längst beabsichtigte Reise nach Paris. Der Anblick des modernen Babel war nicht geeignet, seinen Seelenschmerz zu heilen. Der Luxus, die Gedankenlosigkeit und Unsittlichkeit des französischen Volkes nährten nur seine Schwermuth. Ernstlich dachte er daran, sich ganz von der Welt zurückzuziehen, mit dem Rest seines Vermögens sich in der Schweiz niederzulassen und als Landmann das Feld zu bebauen. Diesen Vorschlag machte er auch seiner Braut, indem er ihr schrieb: „Unter den persischen Magiern gab es ein religiöses Gesetz, ein Mensch könne nichts der Gottheit Wohlgefälligeres thun, als dieses: ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen und ein Kind zu zeugen. Das nenne ich Weisheit, und keine Wahrheit hat noch so tief in meine Seele gegriffen, als diese: das soll ich thun, das weiß ich bestimmt! Ich will im eigentlichen Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte ein Landmann. Was meine Familie und die Welt dagegen einwenden möchten, wird mich nicht irre führen. Jeder hat seine eigene Art, glücklich zu sein, und Niemand darf verlangen, daß man es in der seinigen sei.“ –

Wilhelmine hielt es für ihre Pflicht, diesen neuen gewagten Lebensplan ihres Verlobten, der ihrer ganzen Lebensanschauung widersprach, ihren Eltern mitzutheilen, die von ihrem Standpunkte ein äußerst ungünstiges Urtheil darüber fällen mußten. So schonend als möglich theilte sie ihm ihre Bedenken mit; Kleist fühlte sich verletzt und schwieg fünf Monate, worauf er ihr einen kurzen Brief, den Scheidebrief seiner Liebe, schrieb, in dem er sich bitter über ihre Kälte beklagte und hinzufügte, daß er nun allerdings zu der Einsicht gekommen, sie habe ihn nie geliebt und werde ihn nie lieben. Sein erster Liebestraum war an der Prosa des Lebens gescheitert.




An den reizenden Ufern des Thuner Sees, da, wo sich die rauschende Aar in seine stille Fluth ergießt, liegt eine kleine Insel im Angesicht der majestätischen Alpen, wie geschaffen zu einem ruhigen, beschaulichen Asyl, nur von einigen Fischerfamilien bewohnt, die in patriarchalischer Einfachheit lebten. Hier erschien gegen Ende April des Jahres 1802 ein junger Mann von ungefähr sechsundzwanzig Jahren mit charakteristischen, wenn auch nicht gerade schönen Zügen. Ueber die hohe Stirn fiel das schlichte bräunliche Haar nachlässig hin, die kleinen, tiefliegenden Augen verriethen eine gewisse anziehende Schwermuth, während die vollen Lippen und das rundliche Kinn nicht ohne Anmuth waren. Der Fremde hatte ein leerstehendes Häuschen auf der Insel bezogen, welches er allein bewohnte. Im Anfange lebte er ganz für sich, in tiefster Zurückgezogenheit, meist am Ufer der Insel umherstreifend und sich seinen eigenen Gedanken überlassend. Auf seinen Ausflügen hatte er die Bekanntschaft einer armen Fischerfamilie gemacht, mit der er zuweilen um Mitternacht auf dem Nachen über den See fuhr, wenn sie ihre Netze im Silberlicht des Mondes auswarf. Bald hatte er das Vertrauen und die Liebe der schlichten Leute gewonnen, so daß ihm der Vater von zwei Töchtern die eine überließ, damit sie ihm die Wirthschaft führe. Es war ein freundlich liebliches Kind, „Mädeli“ geheißen, das sich ihm innig anschmiegte und Alles that, was sie „dem Herrn“ an den Augen absehen konnte. Beide führten ein idyllisches Leben; sie standen mit der Sonne auf, er pflanzte im Garten, sie schaffte in der Küche, während er arbeitete; dann wurde unter Scherzen und Lachen das gemeinschaftliche, frugale Mittagsmahl genossen. Sonntags zog das Mädeli ihre schöne Schweizertracht an, ein Geschenk ihres großmüthigen Freundes, dann schifften sie singend über den See; sie ging in die Kirche nach dem nahen Thun und er bestieg eine der schönen Waldhöhen jenseit des Sees, und nach der Andacht kehrten sie wieder in das freundliche Häuschen zurück.

So verging ein Tag wie der andere gleich einem glücklichen Traum. Nur selten zeigte sich eine finstere Wolke auf der hohen Stirn des Mannes, und auch diese mußte bald dem lieblichen Geplauder des holden Mädeli weichen. Einmal fiel es ihm ein, dem unschuldigen Kinde zu sagen, daß es sparen sollte. Das Mädchen aber in ihrer Einfalt verstand ihn nicht und er war nicht im Stande, ihr das Ding begreiflich zu machen; Beide lachten darüber ausgelassen und es blieb beim Alten. Er selbst fühlte sich so glücklich, wie nie zuvor, und seine Briefe bekundeten dies. Auch an Besuch fehlte es nicht auf der einsamen Insel; zuweilen kamen einige Freunde, die er sich in der Schweiz erworben hatte, der liebenswürdige Geßner, der hochbegabte Zschokke und der junge Ludwig Wieland, der talentvolle Sohn des berühmten Dichters. Dann wurden bald heitere, bald ernste Gespräche über Natur, Kunst und Literatur geführt und bei einem Glase edlen Weines manches schöne Gedicht vorgelesen und beurtheilt. Eines Tages hatten sich die Freunde „wie die Hirten Virgils“ zu einem poetischen Wettkampf vereinigt. In Zschokke’s Zimmer hing ein französischer Kupferstich, in dessen Figuren sie ein trauriges Liebespärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolikakruge und einen großnasigen Richter zu erkennen glaubten. Jeder sollte diesen Stoff nach seiner Weise bearbeiten, Wieland ihn als Satire, Zsckokke als Erzählung und Kleist, welcher der Bewohner des kleinen Häuschens am Thuner See war, als Lustspiel behandeln. Seine Arbeit: „Der zerbrochene Krug“, erhielt einstimmig den Preis, und dieses Urtheil der Freunde bestärkte ihn in seinem Entschlusse, fortan als Dichter zu leben.

Auf seiner Insel erwachte mit ungestümer Kraft der poetische Schöpfertrieb in seiner Seele; eine Tragödie, „Die Schroffensteiner“, hatte er bereits vollendet und neue großartige Pläne bewegten seine Brust. Den Entschluß, Landmann zu werden, hatte er wieder aufgegeben, dafür war er ein Dichter geworden und zwar, wenn er den Versicherungen seiner Freunde trauen durfte, ein Dichter, der sich den ersten Genien dreist an die Seite stellen durfte. Der Traum seines Lebens schien in Erfüllung zu gehen: er war ein Dichter und wurde geliebt. Doch nur kurze Zeit sollte dieses Glück dauern. Zwei Monate hatte er mit seinem Mädeli auf der stillen Insel gelebt, als sie eines Tages ihn verließ und nicht mehr zurückkehrte. Wie man sagt, hatte ein französischer Officier, der ihr mit seiner kleidsamen Uniform und heiteren Laune besser gefiel, als der zuweilen so ernste und ihr unverständliche Dichter, sie entführt. Der Aufenthalt auf der Insel war diesem nun verleidet, sein

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