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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

zurück, und beim Lichte der hochhängenden Steinöllampe gewahren wir eine der seltensten Erscheinungen Tirols, einen Citherspieler. Es ist ein armer Bursche aus dem Innthal, der im Sommer draußen in Baiern als Zimmermann gearbeitet hat und jetzt heimgeht, um sich durch seine Musik während der herannahenden Faschingszeit ein wenig Geld zu verdienen. Wohl werden noch allerlei Stücke gespielt, aber keine mehr zum Singen, zum Beispiel der Marsch vom alten Radetzky und ein paar alte Walzer von Strauß. Zwei tridentinische Hausirkrämer benutzen die fröhliche Stimmung zum Auslegen ihrer Waaren, Messer, Scheeren, Pfeifenköpfe und Taschentücher. Aber bei Burschen und Mädchen verfangen heute derartige Sachen nicht, denn ganz besonders der Sinn letzterer ist auf etwas Anderes gerichtet. Haben doch schon manche während des Gebetläutens Eierdotter in’s Wasser gegossen und sich aus den Figuren, welche die zerrinnende zähe Flüssigkeit zu bilden schien, Vorstellungen von den Schicksalen des kommenden Jahres gemacht. So bedeutet z. B. ein Thurm, daß man in die Stadt heirathen wird, geflammte Zacken einen Hausbrand, ein Kreuz gar den Tod. Wollen wir wünschen, daß sie schöne Dinge gesehen haben, denn um die hübschgewachsenen Mädchen wäre es jammerschade. Wie anmuthig haben sie ihre Köpfe, auf denen die Zöpfe nach Tirolersitte rund herum zusammengeflochten sind, zu den Spinnrocken geneigt, während das gemeinschaftlich gesungene Almenlied sie in der traurigen Stube erheiterte. Wenn sie sich dann vor der Christmette das Gesicht waschen, ohne sich wieder abzutrocknen, was sie gern thun, so hoffen wir, daß es ihnen in der Kirche der künftige Ehemann abtrocknet, denn sonst wird es, glauben sie, der Tod thun.

Endlich wird zur Christmesse aufgebrochen. Draußen hallen von der fernen, hochliegenden Kirche die Glocken durch die Finsterniß. Die Polizei, welche die Fackeln nicht liebt – es könnte durch Wehen der Funken der Schnee Feuer fangen – hat die Laternen doch nicht einzubürgern vermocht, und so geht es denn durch die rabenschwarze Nacht, in welche unsere Kienhölzer ovale Lücken reißen, auf dem knarrend fest gefrornen Boden vorwärts. Hier und dort eilen Funken von den Bergen herab; es sind die Fackeln, die von den Bauern hochliegender Höfe getragen werden. So mag einst der einsam lebende Germane zum gemeinsamen Opfer des Jul gewandelt sein; es war für ihn ein ebenso freudiges Fest, wie dem Christen die Weihnacht. Freute er sich doch der Wiederkehr der Sonne, die sich seinen verschneiten Wäldern näherte, um sie langsam und unter unendlichen Kämpfen mit dem Frost seiner harten Erde, aber doch endlich sicher aus dem erdrückenden Schlaf zu wecken.

Eine der hochstämmigen Dirnen, die jetzt eine mächtig brennende Fackel trug, war mir während des Abends besonders aufgefallen. Sie war im Gegensatze zu den übrigen schwarzhaarigen Mädchen goldblond und blauäugig. Auf meine neckischen Fragen, ob sie sich heute Abend auch bei dem Eidottergießen betheiligt habe, antwortete sie ausweichend, gab aber endlich aufrichtig zu, daß sie vor drei Tagen, in der Thomasnacht, in der Holzlege eine Anzahl Scheite auf’s Gerathewohl herausgenommen und in’s Zimmer getragen habe. Es war eine gerade Zahl, eine gute Vorbedeutung für’s Heirathen. Auch hatte sie schon mehrmals in den Backofen hineingehorcht und allerlei Versprechungen gehört. Um sich ganz zu vergewissern, habe sie sich, fügte sie hinzu, auch auf den Boden gelegt und den Schlappschuh mit dem Fuß über den Kopf hinaus geschleudert. Richtig zeigte die Spitze gegen die Thür und jetzt war für die Glückliche kein Zweifel mehr, daß sie im Lauf des nächsten Jahres vom Freier aus dem Hause geholt werden würde. Ein hübscher, aber noch unbärtiger Bursche, den ich vorher neben dem Citherspieler sitzen gesehen hatte, war der augenscheinliche Beweggrund aller dieser Exercitien.

So schritten wir plaudernd weiter. Von Zeit zu Zeit stieß sie ihre Fackel gegen den Schnee, um losgelöste glimmende Theilchen zu beseitigen, und ich blies mir hie und da in die Hände, um sie lebendig zu erhalten. Dumpf dröhnte die Ache aus der Schlucht herauf und mischte das Tosen der Wasser in die immer näher und stärker hergetragenen Orgelklänge der Kirche, aus deren hellerleuchteten Fenstern breite gelbe Lichtstreifen die gegenüberliegenden Felswände hinanklommen. Bald schauen die Kerzen, welche ihr Licht auf den Hochaltar werfen, durch die geöffnete Kirchenthür, und der davon erglänzende Schnee vor der Thür erscheint wie der lichte Antrittschemel zum Heiligthum. Die Fackel meiner Begleiterin ist niedergebrannt und der Stumpf fliegt Funken werfend auf die starre Decke. Mit einem Händedruck nehme ich Abschied, da die ländliche Sitte dem schönen Geschlecht die linke, dem sogenannten starken die rechte Seite der Betstühle anweist. Der Lehrer – beiläufig gesagt, der einzige Mensch im Achenthal, der seinen Kindern einen Weihnachtsbaum anzündet – dirigirt auf dem Chore die bescheidene Musik, welche dem rauhen Alpenthale die Geburt des Heilandes kündet. Die Einfachheit der Scene in der niedrigen Kirche, die aber von Lichtern taghell erleuchtet ist, gemahnt mich an jene Vision der Hirten, welche in der finstern Mitternacht die Glorie eines ungeahnten Himmels umfloß und deren Armuth die Gewißheit eines neuen seligen Bundes wurde. Das feierliche Amt ist bald zu Ende; vor dem gegenwärtigen Gott haben sich die Kniee dieser Mühseligen und Beladenen gebeugt, und nun gemahnen die ernst einfallenden Accorde der Orgel zur Heimkehr in die finstern kalten Thäler, aus denen erst eine neue Weihnacht die Andächtigen wieder zur Mitternachtstunde in das Haus des Herrn rufen wird.

Es ist etwas Sonderbares und Rührendes um diese Feier. Man denke sich in der öden, unsäglich langen Decembernacht, in welcher Wolken, Wasser und Eis im gemeinschaftlichen Lager über der kalten Erde schweben; in der Nacht, welche den Mond löscht und die Sterne verschlingt; in der stillen, stillen Einöde der Finsterniß, in der nichts lebt, als der Pulsschlag unserer Adern und die wilden Wasser draußen, die der Frost noch nicht gebändigt hat; in der dunkeln Nacht, die so still und taub ist, als ob sie nie enden würde; in der Nacht, welche die Qual des Leidenden und der Alp des Gesunden ist – in dieser Nacht, in Mitten dieser Nacht erklingen mit einem Schlage im vereisten Thal der Alpen, das von den Nebeln des Sees durchzogen wird, wie durch die wimmelnden Straßen der Großstadt, in welche Gas und Gold ihren Schimmer werfen, die ehernen Glocken, welche der Welt verkündigen, daß vor achtzehnhundert vierundsechszig Jahren in einem versteckten Winkel Palästinas ein armes Kind geboren wurde, dessen reine Lippen bald jenes einfache helle Evangelium der Liebe und Menschlichkeit predigen sollten, aus dem später Priesterherrschsucht und scholastische Sophisterei so engherzige, dunkle Dogmen zusammengedeutelt haben.

Nun sind wir, vom vobiscum dominus des Priesters entlassen, wieder vor der Thür. In der Dunkelheit, die uns um so schwärzer erscheint, je mehr uns drinnen das Licht geblendet, erkennen wir nicht sogleich unsere Bekannten und Begleiter wieder. Aber was ist das? Eine laue Luft schlägt uns entgegen und ein sonderbares Schwirren und Klingen geht über den Himmel und die Alpen, als wenn die Banden, welche die feste Erde halten, klirrend sich lösten. Das „wilde Gejaid“, Wuodans Gefolge, will die starre Luft durchjagen und das Knacken und Knarren auf den hohen Firsten rührt von den Hufen der Rosse her, welche über die eistragenden Gipfel dahineilen. Es sind Töne, als ob der See unten, der vorhin im Froste seine braunen Nebel nach oben gesendet, die Bergwand durchbrochen hätte und sich anschickte, die Aeonen lang in dem unergründlich tiefen, aber engen Gefängniß eingelegten Gewalten in die erzitternde Ebene hinab zu wühlen; auch von den Bergen berstet und kracht es herüber, als wähnten die Riesen, die drinnen wohnen, die Götterdämmerung sei gekommen, daß sie heraustoben könnten; die Ache unten heult, als wären ihre Wasser aufgestaut und müßte sie den Urkalk durchbohren, daß er darüber in zerwühlte Trümmer zusammenstürzt – aber nein, dies Alles ist es nicht. Der welsche Wind, der Scirocco, ist in’s Land gekommen, bindet das Gefesselte los und schlägt den Frost in die tiefsten Klüfte nieder, über die er warm und lebenerweckend als Sieger dahinjagt.

Wann aber wird der Morgen tagen, wo ein anderer Wind einbraust in das alte erstarrte Tirol, kein schwüler Wind von jenseits der Berge im Süden, nein der scharfe erfrischende, reinigende Wind vom Norden, welcher den Bann löst, der auf den in die Fesseln finstern Wahns geschlagenen, verdüsterten und verschüchterten Seelen haftet?



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