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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

neuen Weins, gestärkt, welchen der Fuhrmann erst gestern aus dem sonnigen Etschland mitgebracht hat, hinaus ins Freie, so wird uns, wenn wir Flachländer sind, vor Allem der am Wege liegende Schnee auffallen. Nicht als ob er etwa nicht weiß wäre, wie die Flocken, die auf die Dächer anderer Menschenkinder fallen, im Gegentheil, seine Farbe ist vielleicht noch blendender, als die der feuchteren Decke, welche auf den Niederungen lagert – aber er zeigt uns eine Bildung, wie man sie fast nur in den hohen Lagen der Alpen antrifft. Große, viereckige Tafeln, die vertical nach oben schauen, sind zu den zierlichsten Rosetten zusammenkrystallisirt; der ganze weiße Plan sieht aus, als ob er mit blinkendem Moos bedeckt wäre. Diese großen Krystallbildungen rühren von der geringen freien Feuchtigkeit her, die sich zwischen den Schneenadeln befindet; es ist dies eine Folge der trocknen scharfen Luft und der hohen Lage, welche der Verdunstung überaus förderlich sind. Man erinnere sich, daß unser See dreitausend und dreihundert Fuß über dem mittelländischen Meere lagert, eine Höhe, welche schon derjenigen der höchsten Gebirge in Mitteldeutschland nahe kommt. Ein seltsamer Anblick dieses blätterige Geschiebe! Zerstören wir die schönen Ornamente neugierig mit dem Stock, so dämmert uns aus den Brüchen ein fahler Lasurschein entgegen, der schwach an den tiefern Glanz des körnigen Eises mahnt, das oben in sicherer Mulde der auflösenden Strahlen des Hochsommers harrt.

Den Weg am öden Gestade, an das unablässig die Welle rollt, geht selten ein Mensch. Ein Jäger vielleicht in brauner Joppe mit Gewehr und Bergstock, die Pfeife mit dem übelriechenden österreichischen Soldatenknaster im Mund, oder ein Knecht, der einen mit Streu beladenen Schlitten zieht, sind die einzigen, denen wir begegnen. Hier und da liegt ein alter, halbverfaulter Stamm im Wasser, laichenden Fischen ein willkommener Zufluchtsort. Die Alpenrosenbüsche, die im Juli den felsigen Strand mit purpurnen Sträußen schmücken, ragen nur mit ihren Spitzen, oft vom weißen Berghasen benagt, aus der dichten Schneedecke. Die Legföhre, die hier bis an’s Wasser herabsteigt, wird aber von dieser nicht gedrückt; denn niedrig und leicht vom Winde bewegt schüttelt sie sich die frostige Last bald vom Leibe, daß es aussieht, als ob nur blinder Zufall einige spärliche Flocken über sie ausgestreut hätte.

Der immer höher angehäufte Schnee treibt uns wieder in unsere Behausung, zur viellieben Scholastica zurück. Wir nehmen um den viereckigen Kachelofen Platz, zünden uns eine „Havanna“ oder „Cuba“ zu vier Neukreuzer ö. W. an, fahren in der Probe des rothen Etschländers fort und betrachten uns, was in der Weihnachtsdämmerung vorgeht.

Das Land Tirol ist ein Juwel im Kranze unserer Germania, aber sein Volk ist arm an geselligen Freuden. Ich brauche hier nicht erst zu sagen, wer vor Allem den finstern, ich möchte sagen, ascetischen Geist in das Leben eines Völkchens gebracht hat, dem die karge Natur allerdings auch sonst wohl wenig Genüsse zu bieten vermöchte. So sieht man den Hausvater, der jetzt in andern Gegenden des Vaterlandes, selbst wenn er wenig besitzt, in freudvollen Sorgen für die Ueberraschung seiner Lieben thätig ist, hier schweigend im dumpfen Zimmer sitzen und große Rosinen von kleinen ausklauben, zur Bereitung des „Kletzenbrodes“, des einzigen Luxus, welchen er zur Feier des herrlichen Festes kennt. Denn der heilige Abend, zwar in allen katholischen Ländern ein Fasttag, ist doch hier von besonderer Strenge, und wenn man die gedrückten Gesichter der Mägde betrachtet, die im Lichte des ergrauenden Tages wie Maschinen an ihren Spinnrocken sitzen und ihr Rädchen schnurren lassen, möchte man sich eher in den Buß- und Bettag eines Arbeitshauses versetzt glauben, als in die unserm Andenken heilige Märchenzeit, aus welcher noch dem alten und verlassenen Manne die goldenen Bilder des Weihnachtsbaumes, seiner lächelnden, längst in der Erde ruhenden, lieben Eltern und ihrer gutgemeinten theuern Geschenke auftauchen, von dem Glanze der einzigen Glückszeit seines sinkenden Lebens, seiner Jugend, umstrahlt. Nur das strenge Fasten und die Mitternachtsmesse in der kalten Kirche machen die Weihnacht. Statt des liebelächelnden Christkinds, das unsichtbar sich anderswo in Deutschland in geschmückte Häuser niederläßt und Geschenke spendet, sieht das Tiroler Kind blos den goldbedeckten Priester am Altar und hört in der Finsterniß die Glocke, die sonst um diese Stunde der Nacht nur erschallt, wenn Fluthen und Lawinen Verderben und Tod drohen. Draußen „im Lande“, das heißt in den größeren Thälern Tirols, besonders im Innthal, wo durch Eisenbahnen und sonstigen Verkehr viel fremdartige Sitten in das alte Rhätien hereingeschleppt werden, sieht man wohl hier und da einen lichterglänzenden Christbaum; doch das ist immer nur noch vereinzelt und wird auch von gewisser Seite, der nicht diese Lichter allein zuwider sind, gar nicht gern gesehen.

Gehen wir lieber wieder hinaus aus dem Zimmer mit seiner bedrückenden Stille!

Schwarz, wie der Fluß der heidnischen Unterwelt, kommen die Wellen des Sees an die morsche Schiffhütte heran; es ist ein unheimliches, feindseliges Klucksen. Drüben auf der Kante des hohen Spieljoches liegt, wie auf jenem Berg des Märchens, ein funkelnder Rubin; es ist die röthliche Scheibe des Mars, die hinter dem scharfen Grate schwebt. Er zittert, wie zornig, in der frostklaren Luft, der grimme Gott. Es ist, als ob er heute in der heiligen Nacht wieder besondere Wuth verspürte, daß sein und seiner Genossen Reich von dem Unbekannten aus Judäa zerstört worden ist. Bei diesen heidnischen Erinnerungen fallen mir die „verbannten Götter“ unseres armen Heinrich Heine ein, von denen einer, der schöne Dionysos, hier an unserm See ein sonderbares Abenteuer unternimmt. Er kommt Nachts – sie mag so finster und undurchsichtig gewesen sein wie diese Frostnacht – zu einem jungen Fischer am Strande und entlehnt sich einen Kahn, den er in wenigen Stunden zurückzubringen verspricht. Der Fischer schlich sich dem Unbekannten nach und sah ihn so an einer wenig besuchten Uferstelle auf einen Triumphwagen steigen und mit Satyrn, Faunen und Bacchanten jene seltsame Orgie feiern, die uns Mythologiekundigen als Bacchuszug wohlbekannt ist. Der schlichte Sohn der Berge hielt die Erscheinung für höllisches Blendwerk und wollte sie, sein Gewissen zu erleichtern, dem Prior eines Franciscanerklosters mittheilen, der in der ganzen Umgegend den Ruf eines großen Geisterbanners genoß. Wie groß war aber sein Entsetzen, als dieser die Kapuze zurückschlug und er in ihm den nächtlichen Gast erkannte! Auch wurde sein Anliegen sehr ungnädig aufgenommen, indem ihn der Prior für einen betrunkenen Knecht erklärte, der nicht wisse, was er sage, und die Fuchtel verdiene. Darauf befahl er ihm, reinen Mund über das Vorgefallene zu halten.

Noch ein wenig von dem duftigen Rothwein Tirols, und es wäre auch für uns nicht unmöglich, seltsame Gestalten von den Wänden wiedergespiegelt zu sehen. Denn im Scheine einer der Fackeln, die, bereits zum Christnachtgange vorbereitet, da standen und von uns mit in die Nacht hinausgetragen worden sind, schneidet der Fels, an den der grasgrüne Eiszug eines Gießbaches angeklebt ist, mit seinen Ritzen, Spalten und Vertiefungen wunderliche Gesichter. Unten steht er auf unförmlichen Klumpfüßen, denn das klare Eis ist ihm mächtig und bauschig über die Sohle angeschwollen, die bereiften kahlen Sträucher hängen ihm wirr über den Kopf, und ein sonderbarer Geifer, halb Reif, halb Schnee, luftig schwebend wie die Fäden des alten Weibersommers, hängt an seinem krausen Bart, den Latschen.[1] Es ist, als ob er höhnisch zu den Klängen grinste, die eben aus unserm Häuschen herübertönen – denn, o Wunder, es muß eine Festlaune, eine Ahnung der Weihnacht unter die Spinnerinnen gekommen sein. So deutlich, wie es der Anprall des Sees an das ausgehöhlte Ufer zuläßt, höre ich ein im nördlichen Tirol weit bekanntes Lied durch die Dunkelheit tönen, in dessen halb feierliche, halb wehmüthige Melodie sich der weiche Resonanzklang der Cither mischt:

„Auf der Alma ragt a Haus
Still und öd in’s Thal hinaus;
Drin im Haus mit munterm Sinn
Wohnt eine schöne Sennerin.
Die Sennerin singt manch ein Lied,
Wenn durch das Thal der Nebel zieht,
Und da ertönt’s durch Luft und Wind:
Auf der Alma, auf der Alma giebt’s koa Sünd’.“

Dazu fletscht er spöttisch, der alte venwitterte Stein, denn es ist ein Sommerlied und er weiß es aus der Erfahrung von Jahrtausenden, wie weit die goldene Zeit noch fern absteht und wie viele Schneestürme noch den empörten See peitschen werden, ehe aus den Matten droben wieder laue Lüfte wehen und die grauen Zinken schneelos gegen den Himmel ragen.

Neugierig wenden wir uns zu unserm zeitweiligen Asyle

  1. Pinus Mughus Scop.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_038.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)