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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

No. 2.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. 0Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


„Habt Ihr sein Gesicht nicht gesehen, Schwager?“ fragte der Wirth den Postillon.

„Ich konnte nicht dazu kommen,“ sagte der Postillon. „Gott weiß, wie es war. Das Gesicht der Frau sah ich einmal. Sapperment, das war ein schönes, feines Gesicht, und noch blutjung; aber blaß war sie, recht blaß.“

„Und der Name?“ fragte der Wirth nochmals.

Der Postillon hatte seinen Begleitzettel bei seinen Sachen und bei den Pferden im Stalle. So konnte er den Namen auch diesmal nicht sagen. Nachher hatten er und der Wirth nicht weiter daran gedacht. Die Sachen der Reisenden wurden in ihr Zimmer geschafft. Es waren zwei große neue Reisekoffer. Der Wirth und sein Sohn, ein Bursch von sechzehn Jahren, trugen sie hinauf.

„Da muß ich doch etwas von ihnen sehen,“ dachte der Wirth.

Er sah nichts, auch sein Sohn nicht. In dem Zimmer standen zwei Betten; beide waren mit Vorhängen versehen und mit denselben dicht und fest umzogen. Die Frau mußte darin liegen, denn man sah sie nicht im Zimmer. Man sah sie aber auch hinter den Vorhängen nicht in dem Bette. Der Mann saß an dem Bette der Frau. Er war auch von Pelz und Mütze befreit, die jetzt auf einem Stuhl lagen; aber er hatte sich hinter dem Vorhange über das Bett gebeugt. So sah man wieder nichts von seinem Gesichte; man erkannte nicht einmal seine Gestalt. Er sprach nichts; man vernahm auch keinen Ton der Frau.

Eine Viertelstunde später brachte die Frau des Wirths den Thee und eine Flasche frischen Wassers in das Zimmer. Auch sie sah nichts, denn die Vorhänge des Bettes der Frau waren fest zugezogen. Der Mann stand hinten im Zimmer am Fenster und hatte ihr den Rücken zugewandt. Hätte er aber auch das Gesicht nach ihr gerichtet, sie hätte seine Züge nicht unterscheiden können; es brannte in dem Zimmer nur ein Licht, und dies war mit einem großen Schirme versehen, so daß in dem ganzen Zimmer nur die Helle der Dämmerung herrschte. Auffallen konnte es nicht, da der Fremde gesagt hatte, das helle Licht schmerze die Kranke. Auch die tiefste Stille war in dem Zimmer; die Frau des Wirths dachte, die Dame schlafe.

Etwa eine halbe Stunde später, gegen halb neun Uhr, wurde dem Fremden das Abendbrod mit dem Weine gebracht. Der Wirth und seine Frau trugen es hinein. Der Fremde stand wieder hinten im Zimmer, das Gesicht nach dem Fenster gekehrt. Das Bett der Frau war noch fest verhangen, kein Laut kam von daher.

Der Wirth und seine Frau deckten und ordneten den Tisch. Der Fremde hinten am Fenster rührte sich nicht; im Bett blieb es still. Als der Wirth fertig war, sprach der Fremde, aber er wandte sich nicht dabei um.

„Das Geschirr dort kann heute Nacht stehen bleiben. Ich will nicht weiter gestört werden. Man soll mich auch morgen früh nicht wecken.“

Der Wirth und die Wirthin gingen. Sie hörten, wie die Thür von innen veriegelt wurde, und blieben unwillkürlich draußen im Gange stehen und horchten. Eine Minute lang blieb es still in dem Zimmer. Dann hörten sie deutlich ein leises Wimmern; es war die Stimme der Frau. Von dem Manne hörten sie nichts. Das Wimmern dauerte mehrere Minuten; darauf wurde es still im Zimmer. Die Wirthsleute kehrten nach unten zurück. Der Wirthin hatte unheimlich werden wollen.

„Das Wimmern ging mir durch Mark und Bein, Lindenwirth.“

„Die Dame ist krank, Frau.“

„Und der Mann hatte kein Wort der Beruhigung für sie.“

„Er wird gegen sie sein, wie gegen andere Leute.“

„Und warum läßt er sich nicht in das Gesicht sehen? Warum stand er immer da hinten im Dunkeln? Er kam nicht einmal hervor, als er mit uns sprach.“

„Das ist eben seine vornehme Art.“

Der Fremde war nun allein mit der Dame, die er seine Frau genannt hatte, allein oben im Hause, wie er annehmen mußte, für die ganze Nacht, ohne nur ein einziges Mal gestört, ohne selbst behorcht werden zu können. Der Wirth und seine Leute kümmerten sich in der That nicht weiter um die Beiden. Anfangs waren sie neugierig gewesen; aber der Fremde war eben ein zu vornehmer, hochmüthiger Mensch, und die Dame war krank. So legte sich auch die Neugierde, und keinem von den Leuten im Hause fiel ein, wieder hinauf zu gehen, um zu horchen; zu thun hatten sie dort gar nichts.

Es war zehn Uhr Abends geworden. Die Frau und der Sohn des Wirths und die Mägde waren schon schlafen gegangen und nur der Wirth und der Knecht waren noch auf; da kam noch ein Wagen an dem Hause vorgefahren.

„Geh’ hinaus, Christoph,“ sagte der Wirth zu dem Knecht, „und sieh, wer da ist. Laß ihn keinen Spectakel machen, um der Fremden da oben willen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_017.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2019)