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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

zu fesseln! Wie viele von Heine’s Leserinnen und Verehrerinnen mochten gern an meiner Stelle gewesen sein, hätten gern sie gesehen, welche des Dichters letzte Liebe war! Damals war Frau Heine noch sehr hübsch und zeigte Anlage zur Corpulenz. Es war eine sehr einfache Frau, sehr einfach, sowohl in ihrem Aeußern als auch in ihrer geistigen Erscheinung. Keineswegs das Ideal eines Dichters, wohl aber eine Frau, die es zu verstehen schien, wie man einen Kranken pflegen muß. Und das hat sie getreulich gethan bis an das Ende des Dichters.

Heine’s Stimme erweckte mich aus meinen Betrachtungen; ziemlich beißend fragte er mich, ob ich den Hüter würdig der Ruine fände. Ich verstand ihn im ersten Augenblick nicht, auch ließ mir Gerard keine Zeit zum Antworten, indem er Madame Heine erinnerte, daß sie ihm gestern ein Buch für den Doctor Blanche hätte geben wollen, es aber vergessen habe. Sie antwortete, daß sie es nicht gefunden, und bat ihn, selbst nachzusehen in dem großen Bücherschranke, der im Nebenzimmer stand. Gerard verließ das Zimmer.

„Warum begleitest Du ihn nicht?“ fragte Heine seine Frau.

„Ich traue mich nicht,“ antwortete sie.

„Närrin,“ sagte Heine, „er ist ja heute gar nicht aufgeregt, er ist ja ruhig wie ein Lamm; gehe, mein Kind, geh, er könnte sich gekränkt fühlen.“

Frau Heine ließ die Hand ihres Mannes aus der ihren und schickte sich, obgleich zögernd, zum Hinausgehen an, vorher aber warf sie einen Seitenblick auf mich, den ich zu verstehen glaubte. Ich sagte darum zu Heine:

„Dürfte ich Sie bitten, mir zu erlauben, Herr Heine, Madame zu begleiten und mir Ihre Bibliothek anzusehen?“

„Das junge Deutschland,“ antwortete er mir, „scheint galant geworden zu sein. Gehen Sie mit ihr, und wenn Gerard sie beißen will, nehmen Sie einen Band meiner Uebersetzung und schleudern Sie ihn in des Ungeheuers Rachen; er wird sich die Zähne daran ausbeißen, denn diese Uebersetzung ist zäh, wie ein Dichterleben!“

„Was fehlt denn Gerard?“ fragte ich Frau Heine, als wir das Zimmer verlassen und in ein anstoßendes getreten waren.

„Wissen Sie nicht, daß er wahnsinnig ist?“ antwortete sie erstaunt.

„Wahnsinnig?“ rief ich.

„Ganz gewiß,“ antwortete mir Frau Heine. „Man kann es eigentlich nicht wahnsinnig nennen, denn ganze Tage lang spricht und handelt er wie ein vernünftiger Mensch, aber plötzlich, ohne den geringsten Grund, verliert er den Verstand, und dann redet er das tollste Zeug, das man sich nur denken kann, und darum läßt ihn auch der Doctor Blanche, in dessen Anstalt er wohnt, nur selten ausgehen.“

Man kann sich denken, welchen Eindruck das soeben Gehörte auf mich machte und wie sehr der Anblick Gerard’s, der gerade mit einem Buche aus dem andern Zimmer trat, mich ergriff. Ohne, wie ich Heine gesagt hatte, mir seine Bibliothek auzusehen, begleitete ich Gerard in das Vorderzimmer zurück, wo der kranke Dichter, der sich schon wieder erholt zu haben schien, in dem Buche blätterte, das er vor sich hatte. Wir setzten uns, und er begann wieder ein Gespräch mit Gerard über einige Sonette, die Letzterer vor einigen Tagen gedichtet hatte. Dieses Gedicht sollte den Titel „Jesus am Oelberge“ haben und die Qualen der Kreuzigung des Geistes durch den Zweifel schildern, welcher der körperlichen Marter voranging. Gerard declamirte einige Verse seines Gedichtes, die den höchsten Enthusiasmus des Kranken hervorriefen, welcher nach dieser Erregung einige Minuten lang in eine Art von Halbschlaf verfiel. Gerard starrte träumerisch vor sich hin, und ich war wie berauscht von dem Geiste der beiden Dichter, von denen der eine sterbend war, der andere wahnsinnig sein sollte.

„Sind Sie schon einmal auf der Leipziger Messe gewesen?“ fragte mich Heine plötzlich. Ich antwortete bejahend.

„Jeder Maler, der Scenen aus der biblischen Geschichte malen will, müßte die Leipziger Messe besuchen,“ fuhr er fort; „ich war einmal dort … ich besinne mich nicht mehr, wann; aber daß es im Anfange meiner literarischen Laufbahn war, weiß ich gewiß. Da sah ich Köpfe, die mir die Bibel besser erklärten, als alle Commentare. Es giebt unter den polnischen Juden eine Stufenleiter von der abscheulichsten, Ekel erregenden Häßlichkeit an bis zur vollkommen plastischen Schönheit, welche für das künstlerische Studium der heiligen Schrift vom höchsten Nutzen sein muß. Ich sah einmal vor einer Restauration auf einer leeren Kiste sitzend einen ungefähr fünfundzwanzigjährigen Juden, der mit einem so unaussprechlich traurigen Blick auf das bunte Gewühl um sich blickte, daß ich mir den jungen Daniel lebhaft vorstellte, wie er, vielleicht auch auf einer Kiste auf der Messe zu Babylon sitzend, verächtlich-traurig auf die lärmenden, lachenden, schimpfenden Juden herabsah, die ihr Leid, ihr Weh, ihre verlorene Freiheit und ihre harte Gefangenschaft vergaßen … wenn sie nur handeln konnten! Denn, täuschen Sie sich nicht, meine Herren! man hat dem Juden die Geldgier als Fundamentallaster aufgebürdet – dem ist nicht so. Das Laster aller Laster, welches den Juden beherrscht – besonders den polnisch-deutschen – ist die Handelsgier; er ist wie der Spieler, welcher nicht des Gewinnes, sondern nur des Spieles halber spielt.

Der Jude muß kaufen und verkaufen, sonst ist er unglücklich, und ich glaube fast, daß jedesmal, wenn das alte Testament von den Leiden des Volkes Gottes sprach, es meinte, daß es gerade einmal nichts zu handeln gehabt hätte. Würde die Regierung ein Gesetz erlassen, das den Christen allein den Handelsbetrieb gestattete – seien Sie versichert, daß die Juden sich massenhaft taufen lassen würden. Außer diesem kenne ich am Juden kein Laster, er ist gut, weichherzig, wohlthuend, sich aufopfernd und edel; handeln aber muß er, und wenn er auch nach dem abgeschlossenen Geschäfte den Gewinn vielleicht für wohlthätige Zwecke verschenken sollte, er wäre doch der Verzweiflung nahe, wenn eben dieses Geschäft ihm mißlungen wäre! Um jedoch wieder auf meinen Daniel zu kommen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, welch ein tiefer, inniger, herber Leidensausdruck sein Gesicht überschattete.“

„Er dachte vielleicht an irgend eine Susanne,“ sagte ich.

„Ich glaube nicht,“ erwiderte Heine, „die Liebe existirt nicht bei diesen Juden, wohl aber ein exaltirtes Gefühl für Familie und Häuslichkeit, das in ihrem Herzen jene ersetzt. Wahrhaftig, meine Herren, ich habe auf der Leipziger Messe alle männlichen Typen der heiligen Schrift gesehen, und ich wiederhole es Ihnen, ich würde jedem Maler anrathen, eine Reise dorthin zu machen.“

„Haben Sie auch den Ihren Ideen entsprechenden Typus eines Judas gefunden?“ fragte ich.

Heine schwieg einen Augenblick. „Sie haben Recht,“ sagte er endlich, „der fehlte mir, und so wie ich die Juden kenne, so ist mir immer die Persönlichkeit dieses Schülers des Heilands unbegreiflich geblieben. Was er gethan, liegt so wenig in der jüdischen Natur, wie das Mordbrennen und das Wegelagern; und ich würde mich weigern, der Madame Ischarioth, seiner Frau Mutter, ein Zeugniß ehelicher Treue auszustellen, besonders da die römischen Centurionen, wie Josephus sagt, den schönen Jüdinnen sehr gewogen waren, was ihnen ihre Nachfolger, die heutigen Lieutenants, gewissenhaft nachmachen. Haben Sie den Muth, Gerard, dem Judas Ihres Gedichtes einige Tropfen römischen Blutes in die Adern fließen zu lassen?“

Doch Gerard hörte den Scherz seines Freundes nicht; seit einigen Augenblicken schon hatte ich bemerkt, daß sein Blick fest auf den Boden geheftet war und daß er mit den Fingern seiner Rechten krampfhafte Bewegungen machte … Heine richtete sich auf und warf einen forschenden Blick auf ihn. „Klingeln Sie!“ rief er hastig. Ich gehorchte – wiederum trat Frau Heine ein, doch kaum hatte ihr Mann mit dem Finger auf Gerard gezeigt, als sie sich schleunigst entfernte und einige Minuten später mit einem ältlichen, aber noch rüstigen Manne, den ich als den Portier des Hauses wiederzuerkennen glaubte, zurückkehrte. Dieser, welcher ganz gut zu verstehen schien, was er zu thun hatte, näherte sich Gerard und ergriff ihn bei der Hand.

„Wollen Sie Ihrem besten Freunde einen Dienst erweisen?“ fragte er. Gerard hob den Kopf in die Höhe und sah ihn scharf an.

„Ich kenne Sie nicht!“ sagte er mit rauher Stimme.

„Das glaube ich wohl,“ antwortete der Andere ruhig. „Herr Alexander Dumas schickt mich zu Ihnen; er befindet sich sehr unwohl in einem Hause einige Straßen von hier und bittet Sie, sich schleunigst mit mir zu ihm zu begeben.“

„Dumas krank!“ rief Gerard fieberhaft, sprang auf, griff nach seinem Hute und verließ ohne uns weiter im Geringsten zu beachten, von dem Andern gefolgt, schnell das Zimmer.

Ich saß da, ohne eine Silbe von Allem, was vorgegangen war, verstanden zu haben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_009.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)