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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 51.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



 Am Christabend.

Heil’ger Abend ist es wieder
Und der Christbaum ist erblüht –
In das Erdendunkel nieder
Klingt des Himmels schönstes Lied;

5
Und von Neuem wird vernommen

Aus der Höhe liebereich:
„Laßt die Kindlein zu mir kommen,
Ihrer ist das Himmelreich.“

Und in tausend reichen Zimmern

10
Prangt des Christbaums goldner Schein  

Doch das schönste Bäumchen schimmern
Seh’ ich dort im Hüttchen klein.
Brennt das Bäumchen auch nur Armen,
Dürftig nur die Gaben sind –

15
Hält die Mutter doch in Armen

Selig ihr gerettet Kind.

Aus gar schwerem Krankheittraume
Ist es wieder aufgewacht,
Christus mit dem Weihnachtbaume

20
Hat Genesung ihm gebracht.

Das verfallen dunkelm Loose,
Seiner nahm der Herr sich an –
Freudig aus der Mutter Schooße
Lacht es seinen Christbaum an.

25
Freudig streckt es seine Händchen

Nach den Lichtlein arm und klein,
Zappelmann am bunten Bändchen
Will es gar so sehr erfreun.
– Heil’ger Abend – goldne Kerzen

30
Prangen hier nicht reich und schön –

Aber schau zum Mutterherzen,
Willst Du einen Christbaum sehn.
Willst Du einen Christbaum sehnF. Stolle.




Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
(Fortsetzung.)

Flemming war ein schwacher, kein schlechter Mensch. Während des Aufruhrs gegen das unglückliche Mädchen heuchelte er Gleichgültigkeit in seinen Mienen, im Innern jedoch war ein Kampf von Stolz und Mitgefühl. Mitunter wandelte ihn die Versuchung an, unter die Schmähenden zu stürzen und den Nächsten Besten niederzuschlagen. Sie verdient es, beschwichtigte er sich dann. Aber es ist ein Mädchen, ist die Tochter eines braven Mannes, warf ihm sein zartes Gefühl ein. Bah, warum treibt sie ihre Liebestollheit so weit, sogar heute sich bei ihrem Buhlen zu zeigen! Sie mögen büßen! Pfui über Beide! Hinwider durchfuhr ihn der Gedanke, wie Elisen jetzt zu Muthe sein müßte, und indem ihr bleiches, leidendes Gesicht vor seine Seele trat, konnte er sich eines Seufzers nicht erwehren. Als die Aufregung auf der Straße zur Raserei stieg, begann er die gar zu engherzigen, pedantischen Kleinstädter und seine Waldkirchner Reise zu verwünschen.

Da stellte sich ein kleiner, häßlicher Mensch mit einem Höcker dicht vor Marowsky’s Ladenthür auf. Dieser Mann hielt den rechten Arm in seiner Blouse verborgen. Einige Augenblicke später sah Gustav die Hand des Mannes mit einem großen Stein blitzschnell aus der Blouse gleiten und den Stein nach dem Fenster im rothen Roß schleudern. Beim Klirren des Glases fuhr Gustav zurück, als hätte ihn der Wurf getroffen, und dann sah er, wie auf ein Signal, die aufbrüllende Menge in das Haus dringen.

Das war zu viel. Seiner Bewegung nicht mehr Meister, sprang er aus dem Laden und auf den Verwachsenen los, der sogleich die Flucht ergriff. Mit langen Sätzen eilte Gustav dem Schnellfüßigen nach.

Niemand achtete auf dies Zwischenspiel, denn Alle, welche sich durch Toben und Schmähreden an der Bewegung betheiligt hatten – Leute in groben Kitteln und Kleidern – waren im rothen Roß oder drängten sich hinein; die Müßigen, die größtentheils auf dem Trottoir dem Gasthof gegenüber standen, hielten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Ereignisse im Trauerhaus gespannt.

Erst am entgegengesetzten Ausgang des Marktplatzes holte Flemming den Verfolgten ein. Er erfaßte ihn von hinten und hob den kleinen Mann mit einem kräftigen Ruck hoch empor, die andere, stockbewehrte Hand zum Schlag ausholend. Aber die Scham, sich an einem schwachen, zwerghaften, wehrlosen Menschen zu vergreifen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 801. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_801.jpg&oldid=- (Version vom 6.4.2019)