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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Jetzt hält der Zug auf irgend einer Station zwischen Amboy und Camden. Die Wagen sind umringt von kleinen Knaben, unter denen nur zwei schon etwa zwölfjährige sich befinden. Der ganze Knirpschorus schreit aus vollen Hälsen: „No papers, Gentlemen? No papers, papers, papers?“ („Keine Zeitungen, meine Herren?“) Das heißt so viel als: die Passagiere sollen ihre gekauften und gelesenen Zeitungen der mehr verlangenden als bettelnden, in keinem Falle aber bittenden Brut schenken. Kein echter amerikanischer Junge wird sich überhaupt zur Bitte herablassen. Das Kind in Amerika ist von klein auf gewöhnt, in allen Dingen seinen Willen auf bloßen Begehr hin erfüllt zu bekommen, ohne zur Bitte oder zum Dank angehalten zu werden. Aber die Amerikaner sind trotzdem auf ihre Weise gutmüthig und besonders gegen Schwache überaus hingebend, so daß sich von Schwäche dabei reden läßt. Dies thut sich eben wieder kund, denn die meisten Zeitungen erhält der allerkleinste Knabe, ein Kerlchen von gewiß nicht mehr als drei Jahren, „weil er so klein und hülflos ist,“ sagt ein in meiner Nähe sitzender robuster Herr, anscheinend aus dem Lande der menschlichen Alligatoren, aus Kentucky stammend, dabei seinen Kautabak von einer Seite des Mundes zur andern wälzend und darauf einen braunen Strahl nach der Gegend hinspuckend, wo der ihm zunächst befindliche Spucknapf im Wagen aufgestellt war. Die größern Knaben erhielten selten von Jemandem ein Blatt, denn es hieß auf meine Nachfrage deshalb: „Ach, sie können irgend ein anderes Geschäft ergreifen,“ worunter natürlich Gelderwerb verstanden wird, der das eigentliche Betteln ausschließt. Mir kam dabei in’s Gedächtniß, daß hier zu Lande die Knaben fast ausnahmslos schon mit dem zwölften oder dreizehnten Jahre von den Eltern auf eigenen Broderwerb angewiesen werden, wobei bis zur Grenze des Criminellen gehende Uebervortheilung in der Regel als lobenswerthe Gewandtheit gilt. Wenn nicht geradezu die altspartanische Sitte angenommen wird, geschickte Dieberei als Vorzug anzuerkennen, so kann man sich darüber nur wundern. Von den kleinen Zeitungsbettlern, die uns mit echten Straßenräubermanieren anfallen und deren Verlangen durchaus in keine wirkliche Bitte eingekleidet wird, ist die Bettelei sicher nur als Geschäft angesehen, und entweder verkaufen sie die erhaltenen Blätter im Orte, oder stehen mit den Eisenbahn-Buchhändlern im Rückkaufshandel; denn ihr Aussehen verräth durchaus keine Armuth.

Der Zug geht weiter, und während der Fahrt zur nächsten Station zeigt sich unser stationäres Exemplar, der Literaturverkäufer, in einer neuen Verwandlungsphase. Er bringt unter seinem Arm einen gewaltigen Stoß Broschüren, nebst zwei eingebundenen Büchern und schreit gellend: „Harper’ Monthly Magazine, Sirrrrr!“ (Harper’s Monatshefte, Herr!) in mein Ohr, indem er mir das neueste Heft dieser schönwissenschaftlichen Monatsschrift dicht unter die Nase hält. Um mich zu amüsiren, frage ich: „Was kostet’s?“ Warum bin ich kein geschickter Zeichner! Hier müßte durchaus das Schelmengesicht meines Buchhändlers dargestellt werden, denn mit Worten läßt sich nicht einmal annäherungsweise der pikante Ausdruck desselben wiedergeben. Ein Paar feurig-braune Augen verschlingen meine ganze Figur gleich Schlangen, die blitzschnell zuschnappen; der Mund ist energisch zusammengepreßt; auf der hohen Stirn, die eine knappe Reisemütze von Glanzleder stark hervortreten läßt, zeigt sich ein Zusammenziehen der Haut, wie solches bei scharfen Denkern häufig zum Vorschein zu kommen pflegt, und außerdem zucken die Finger der rechten Hand. Ach, der junge Schelm hat es noch nicht weit gebracht im Leben; man kann noch Eindrücke auf sein Inneres äußerlich an ihm bemerken. Ich lese seinen Gedanken mit unverkennbarer Deutlichkeit: „Dies scheint mir ein Neuangekommener zu sein; mag er dafür bezahlen!“. Und mit gedämpfter Stimme, so daß es den Umsitzenken nicht auffallen möge, erfolgt fast schüchtern die Antwort: „Nur vier Schillinge, mein Herr.“ Das Bürschlein brach aber in helles Gelächter aus, als ich ihm trocken erklärte: „So, mein Herr? ich kaufte gestern ein Exemplar für zwei Schillinge.“ Der kleine Mann meinte, nun müsse ich ihm Etwas abkaufen, nachdem er von mir so angeführt worden sei. Er bot mir noch etliche andere „Monthlies“ an, und als ich darauf nicht einging, kamen Novellen an die Reihe, das Stück zwei Schillinge. Als auch diese Romanlockspeise verschmäht wurde, zog der Unermüdliche aus der Mitte seines Bündels etliche Hefte, die er vor meinen Augen rasch aufblätterte, um die darin enthaltenen Bilderchen sehen zu lassen, welche Nuditäten zeigten. „Belieben Sie diese Sorte?“ hieß es dabei unter verschmitztem Augenblinzeln. Aber auch damit war bei mir nichts zu machen, denn der amerikanische Verlegerwitz war nichts Neues mehr für mich: allerlei Abklatsche von Holzschnitten mit lüsternen Darstellungen aufzukaufen und sie dann irgend einer trivialen Novelle beizudrucken, ohne Rücksicht darauf, ob sie zum Texte passen oder nicht.

Während einer spätern Reise auf der Erie-Eisenbahn lernte ich das Geheimniß kennen, wie es den Eisenbahnbuchhändlern möglich wird, ihr Publicum so mannigfaltig zu versehen. Der vorletzte Wagen unseres Zuges war für die Dienerschaft bestimmt, und es trugen dessen Eingangsthüren entsprechende Ueberschriften. Hier war es erlaubt zu rauchen; man fand da Gelegenheit sich zu waschen und konnte sonst noch Mancherlei abmachen, was nicht für andere Wagen paßte. In diesem Kosmopoliten-Wagen hatte der stationäre Händler sein Literatur-Depot in ein paar Koffern. Als wir – ich weiß nicht mehr auf welcher Station – zu Mittag speisten, war unser Eisenbahnbuchhändler mein Tischnachbar und in Dunkirk bewohnten wir zusammen das nämliche Hotel. Es war mir darum zu thun, von ihm Einzelnheiten über die Bedingungen bei seinen Büchereinkäufen zu erfahren, allein der Mensch wich allen meinen desfallsigen Fragen aus, so wie ich denn seither – trotz mannigfacher Buchhändlerbekanntschaften in mehreren Städten der Union – niemals genau Rabattverhältnisse und dergleichen erfahren konnte. Ich mußte mich damit trösten, daß auch im lieben Deutschland nur direct Eingeweihte, als da sind Buchbinder und Marktbudenbuchhändler, hinter den Isisschleier der Literaturverhältnisse zu blicken Gelegenheit haben, bei denen das „gedruckt in diesem Jahr“ eine sehr bedeutsame Rolle spielt. Allen Vermuthungen nach finden in Amerika ähnliche Mysterien den Laien und Profanen gegenüber statt, deren Enthüllung so verpönt ist, wie einst jene der Ceres-Mysterien und jetzt die der Freimaurer-Geheimnisse, an deren Vorhandensein sogar gezweifelt wird. Die populärste Literatur steht auch zum Publicum in viel zu intimen Verhältnissen, als daß nicht gewisse Verhüllungen dabei vom Decorum dictirt sein sollten; zumal in einem Lande, wo das Volk als Souverän ausgeschrieen wird, am Lebhaftesten von Leuten, die während ihres Schreiens ein verschmitztes Lächeln kaum unterdrücken. Souveräne aller Art finden wir am Häufigsten geneigt, zur Aufrechterhaltung ihrer „Gewalt und Autorität“ kleine, zärtliche Umgangsverhältnisse mit dem Schleier der Heimlichkeit zu überdecken; ich sehe also keinen Grund, weshalb nicht auch über obenerwähnte Zustände der Mantel christlicher Liebe gebreitet sein und bleiben sollte.

Auf zahlreichen anderen Ausflügen, die ich mit Eisenbahnzügen nach verschiedenen Richtungen hier zu Lande unternahm, bot sich mir noch öfter Gelegenheit dar, allerlei Beobachtungen nach literarischen Richtungen hin anzustellen, wovon nur Folgendes herausgehoben werden möge. Auf einer meiner Touren nach dem Westen handelten die stationären Eisenbahn-Buchhändler auch noch mit Aepfeln, Kuchen und namentlich mit dem landesüblichen, unerläßlichen Zuckerwerk, worin die Näscherei bei Alt und Jung epidemisch zu nennen ist, wogegen Literaturspeise – Zeitungen ausgenommen – nur sporadisch vorkommt.

Bei Gelegenheit einer Fahrt in westlicher Richtung wurde mir von einer Person, die eilig durch alle Wagen unseres Zuges streifte, eine rosafarbene Ankündigung, auf starkem Kartenpapier abgedruckt, in die Hand geschoben, mit den Worten: „Miß Burnham wird gleich selbst erscheinen.“ Ich hatte eben nur Zeit die empfangene Karte zu besehen; sie enthielt die ziemlich plump in Holz geschnittene Abbildung eines Schiffes mit vollen Segeln, auf dessen Flagge zu lesen war: „Gebt das Schiff nicht auf.“ Nebenbei und darunter stand: „Eben veröffentlicht: die schauerliche und erstaunliche Geschichte der Fostina Woodman. Geschrieben und herausgegeben von Miß A. A. Burnham.“ Auf kleinerer Schrift war dann noch ein Salm darunter gedruckt, der deutsch etwa wie folgt lautete: „Der Gegenstand dieser wahrhaft interessanten Erzählung stammte aus S. in Massachusetts, wo sie bis zum Alter von neunzehn Jahren wohnte. Zu dieser Zeit wurde sie eine Waise, worauf ihre abenteuerliche Laufbahn begann, begleitet von so sehr befremdenden und mysteriösen Begebenheiten, wie sie nur jemals aufgezeichnet wurden. Nach dem Tode ihrer Eltern wurde sie der Sorgfalt von Fremden überlassen, welche kurz nachher mit dem Schiffe Essex (welches Schiff, wie die meisten unserer Leser sich erinnern werden, den Hafen von Boston im Juni 1849 verließ) nach Californien unter Segel ging; unsere Heldin folgte bald in der Verkleidung ihres Bruders, und ihre kühnen Heldenthaten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 798. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_798.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)