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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Ansinnen, welches er schon nicht mehr als freundschaftlichen Fingerzeig, sondern wie eine unmittelbare Drohung behandelte, daß er für seinen Widerspruch ein Dutzend und mehr Gründe aufzählte; thörichte, unlautere Einwürfe, wie sie junge Taugenichtse und alternde Junggesellen gegen die Ehe vorzubringen pflegen.

Der Groom trat in’s Zimmer und meldete, daß angespannt sei. „Gut,“ sagte Flemming, indem er sich erhob. Nachdem er den Hut aufgesetzt und eine Cigarre angezündet hatte, reichte er Buttler einen Finger zum Abschied hin.

„Nimmst Du Deinen Groom mit?“

„Nein,“ erwiderte der Andere und zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ich will meiner Mutter ihren Sohn, aber keinen Spitzbuben in’s Haus bringen. Ich empfehle Dir meinen Groom und meine Freundin Georgette; Beide sind mir gleich theuer.“

„Soll ich Dich zum Bahnhof begleiten, oder vielleicht erst Georgette abholen und mit ihr von Dir Abschied nehmen?“

„Bah; ich mache ja nur eine Landpartie, weiter nichts. In vier Wochen bin ich wieder hier.“

„Wie lange fährst Du nach Dings da?“

„Um acht Uhr Morgens bin ich an Ort und Stelle.“

„Glückliche Reise denn!“

„Adieu!“

Sobald Flemming die Thür hinter sich geschlossen hatte, nahm Buttler, der in des Freundes Wohnung sich’s heimisch zu machen pflegte, als wäre es seine eigene, den bequemeren Platz auf dem Divan ein. „Geh’ zum Geier,“ murmelte er zwischen den Zähnen, „Du eitler, thörichter Bursche, geh’ zum Geier! Ohne Dein Geld könntest Du immer und ewig in Krähwinkel bleiben. Ah, warum sind die Reichen so selten gescheidt, und wir Klugen selten reich …?“

Flemming trat aus der Hausthür in’s Freie und schritt durch den Vorgarten dem Wagen zu. Ein leichter Schwindel befiel ihn, auch waren seine Füße schwer und ungeschickt. „Gustav,“ sprach er mit sich selbst, „Du wirst doch zwei Flaschen Sekt trinken können, ohne – ohne –“ Er blieb stehen und ließ seine Cigarre zur Erde fallen; mit starrem Blick, vorgebeugt, betrachtete er sie sodann.

„’S ist merkwürdig,“ sagte er plötzlich laut, wie aus tiefsten Gedanken … Als er endlich bei seinem Einspänner angelangt war, drohte er, den Groom, der mit pfiffig ernstem Gesicht am Kutschenschlag stand, aus dem Fenster zu werfen, wenn er noch einmal über ihn lache, schnalzte dem Kutscher zu und fuhr dann durch die langen Straßenzeilen und wogendes Menschengedränge, mit ziemlich unklarem Bewußtsein, wohin es ging.

Halb im Schlaf kam er am Bahnhof an; bald darauf, in einen heißen, trüberleuchteten Waggon geschoben, hörte er den schrillen Pfiff der Locomotive und fühlte die erste, sacht anwachsende Bewegung, wobei er nach wenigen Minuten schon in festen Schlummer sank … So ward Gustav Flemming durch dunkle Forste und mondbeglänzte Haidegründe, an dunstenden Städten und stillen Dörfern vorüber, so ward er, von wüstem Gelag halbtrunken, im dumpfen Schlemmerschlaf, seiner Heimath, seiner Mutter entgegengeführt.

Aber der Traum, der ihm nahte, war edler als sein Schlaf. Er träumte von den Tagen, da er ein Besserer, da seine junge Seele von schnöder Eitelkeit, entnervenden Genüssen und falscher Freundschaft noch nicht entweiht war. Er träumte jetzt, was er einst erlebt hatte.

Vor sein inneres Gesicht trat ein Mädchen mit dem Rosenhauch von siebzehn Jahren auf dem Antlitz und unschuldiger Schwärmerei in den braunen Augen, von jungfräulich schlankem Gliederbau, zart und geschmeidig, märchenhaft und doch vollendet in der Form, von glänzend frischen Farben, heiter und träumerisch im Wesen, blond, schön, wie die Madonna einen mystischen Künstlers … Im wohlbekannten Garten seines Elternhauses sieht er sie. Hinter dichtem Gebüsch steigt ein Pavillon empor, und von dorther tönt Musik und fröhlicher Lärm. Sie aber wandelt wie eine einsame Fee zwischen den Blumenbeeten. Ja, wie eine Fee; Gustav zieht es zu ihr mit unwiderstehlicher Sehnsucht, und hinwieder hält er zitternd still, als müßte die glänzende Erscheinung zerfließen oder zum lichten Abendhimmel entschweben, wenn er sie anruft. Sie aber sieht den Zaudernden nahen und wendet sich nicht ab. Und jetzt steht er mit klopfendem Herzen vor ihr … Elise, spricht er, o du dreimal gesegneter Traum, der den Verirrten nach Jahren wieder diesen Namen lehrte! Elise, fragt er, warum verläßt du uns? … Ich liebe das Lied der Nachtigall mehr, als den Reigen, antwortet sie; ich liebe traute Einsamkeit und stille Gedanken … Und wenn du allein bist, bin ich in deinen Gedanken? … Sie antwortet nicht, aber ihre Hand wehrt ihm nicht, da er sie erfaßt, und ihre Lippen erwidern ihm den ersten Kuß, da er, sein nicht mehr mächtig, das holde Mädchen an’s Herz zieht; in heiliger Schwäche, in Ohnmacht der Sinne, über die ein Engel seine Flügel schirmend breitet, schluchzt sie an des Jugendgespielen Brust, und er, vor wenig Augenblicken noch ein Knabe, jetzt ein zukunftsstolzer Mann, schwört ihr, ein guter Mensch zu werden, sie zu lieben und ihr treu zu sein bis in den Tod.

So träumte Gustav eine selige Stunde, die er vor vier Jahren gelebt hatte. Und die schnaubende, funkenstiebende Maschine brachte ihn unterdessen den heimathlichen Gauen, dem elterlichen Garten, brachte ihn Elisen näher und näher. Am wolkenlosen Horizont tauchte die Sonne empor und beleuchtete den Jüngling, der in der Wagenecke, das Haupt an die Polster gedrückt, den Hut in der Hand, schlummerte. Jetzt, wo das rosige Frühlicht die Blässe der Wangen und die leisen Spuren eines leichtfertigen Lebens verbarg, sah er gut und hübsch aus, wie zur Zeit, da er zum ersten Mal durch dieselbe Gegend der Residenz entgegenfuhr. Hochaufgeschossen, aber nicht breitschulterig von Gestalt, hatte er ein Gesicht, das für sich einnahm, ohne regelmäßig und schön zu sein; länglich, mager und von zartem Teint. Die Lippen waren vollblütig und aufgeworfen; die Nase gerade mit weiten Flügeln; die Augenbrauen nicht dicht, doch wohl gewölbt; die Stirn hoch, und breit die Schläfe. Das dunkelbraune, kurzgeschnittene Haar kräuselte sich leicht.

Die Morgenfrische, die durch das offene Wagenfenster strich, weckte ihn endlich. Er sah verwundert um sich, gähnte, rieb die Augen und sammelte die Gedanken. „Wahrhaftig,“ sagte er bei sich, „ich muß gestern betrunken gewesen sein.“

Ihm gegenüber saß eine greise Dame und schlief. Ihre dürren Hände, die gestrickte Halbhandschuhe trugen, lagen wie im Gebet gefaltet auf dem Schooß. Sie hatte einen altmodischen Hut von gelber Seide auf und eine blaßgrüne, spitzenbesetzte Echarpe um die Schultern. Außer ihr und Gustav befand sich Niemand im Coupé. Gustav, immer bemüht, vor sich wie vor Andern den Don Juan zu spielen, murmelte, nachdem er zur Musterung seiner Nachbarin das Augenglas eingeklemmt hatte, eine Verwünschung alter Weiber und langweiliger Gesellschaft zwischen den Zähnen, lächelte hochmüthig über die wunderliche Tracht der Alten und lehnte sich sodann weit aus dem Wagenschlag.

Der Zug rollte in voller Eile durch einen Buchenwald. Aus dem Gehölz heraus führte eine langgestreckte Steinbrücke über einen breiten, ruhig gleitenden Fluß. Unweit der Brücke begann dieser in weitem Bogen sich zu krümmen, während die Schienen in gerader Linie durch fruchtbares, wohlgepflegtes Ackerland einem Städtchen mit zwei Kirchthürmen entgegenliefen.

Gustav’s Herz begann plötzlich laut zu klopfen, und das Blut schoß ihm in die Wangen. Die Stadt vor ihm war seine Vaterstadt!

Und ein Gefühl, das er seit Jahren nicht erfahren, ein Gefühl wonnigen Weh’s überkam ihn. Erschüttert, dem Weinen nah, lehnte er sich in den Wagen zurück, und als jetzt sein Auge die fremde Greisin traf, blickte er sie voll Ehrfurcht an – er war seiner Mutter nahe!

Eine Viertelstunde später lag er in den Armen einer blassen, alten Frau, mit ihr schluchzend wie ein Kind … Ihr, die Ihr nach langjähriger Trennung Euere Mutter wiedersaht, Ihr kennt das Gefühl solcher Stunde. Wenn Ihr anderswo Weib und Kind, Haus und Heerd, Reichthum und Freudenfülle besitzet, in dem Augenblick, da Euer Herz am Mutterherzen ruhet, da Ihr – hochgewachsene Männer – Euch „Kind“ nennen höret, ist Euch, als wäret Ihr die Zeit bisher doch nur in der Fremde gewesen und erst jetzt wieder im wahren Daheim. Und wenn Gustav Flemming ein Schlechterer noch, denn ein Müßiggänger, Verschwender und eitler Sinnenmensch, wenn er mit Verbrechen beladen zurückgekommen wäre, in jenem Augenblick heiliger Umarmung hätte der ewige Richter im Himmel gesprochen: Geduld mit ihm!




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