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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

geistlichen Kleidung war nirgends die Auszeichnung einer höheren Würde oder Stellung zu bemerken. Er sah mich scharf, durchdringend an. Mir klopfte doch das Herz.

„Wie heißen Sie?“ fragte er.

Ich nannte ihm meinen Namen.

„Woher kommen Sie?“

„Aus Deutschland.“

„Sie sind ein Deutscher?“

„Ja, hochwürdiger Pater.“

„Sprechen wir deutsch,“ sagte er.

Auch er hatte bisher französisch gesprochen, und ich hatte ihm so geantwortet. Er sprach auch das Deutsche rein.

„Was führt Sie zu mir?“ fuhr er fort.

„Hochwürdiger Pater, ich bin heute mit dem täglichen Schiffe von Harlem angelangt. Auf demselben Schiffe fuhr eine fremde Dame. Sie stieg hier in Antwerpen mit mir in dem nämlichen Gasthofe ab und machte bald nach ihrer Ankunft einen Ausgang in die Stadt, von welchem sie nicht zurückkam. Nach einigen Stunden brachte ein Knabe mir ein Billet, das sie ihm für mich übergeben hatte und in welchem sie mich bat, Ihnen, hochwürdiger Pater, diese Cassette zu überbringen. Ich überreiche sie Ihnen.“

Er hatte die Cassette schon bei meinem Eintreten in meiner Hand gesehen; der Diener, dem sie aufgefallen war, mußte ihm von ihr gesagt haben. Er hatte indeß kaum einen Blick auf sie geworfen und nahm sie auch mit der größten Gleichgültigkeit von mir in Empfang.

„Kennen Sie den Inhalt der Cassette?“ fragte er.

„Nein, hochwürdiger Pater, ein Schlüssel war nicht da. Ich würde sie gleichwohl nicht geöffnet haben.“

Er sah mich wie durchbohrend an.

„Haben Sie das Billet bei sich, das Sie von der Dame erhielten?“ fragte er dann.

Ich übergab es ihm offen. Er las es, veränderte aber auch dabei keine Miene. Dann gab er es mir mit einem kurzen „Ich danke Ihnen“ zurück. Es sollte zugleich meine Verabschiedung sein. Ich stand zögernd, denn ich hatte ihm das Schicksal der Dame erzählen wollen, soweit ich Zeuge davon war, schwankte aber, ob ich es bei seiner großen Theilnahmlosigkeit noch thun sollte.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte er.

Ich hatte mich zum Erzählen entschlossen. Er mußte unzweifelhaft Interesse an der Dame nehmen, wenn er es auch nicht zeigte; vielleicht um so mehr, je mehr er es verbarg; ich fand es unehrenhaft, ihm etwas zu verschweigen.

„Ja, hochwürdiger Herr,“ antwortete ich, „über die Dame.“

„Erzählen Sie.“

„Sie bewohnte in dem Gasthofe ein Zimmer neben dem meinigen. Ich hörte sie darin weinen, dann schreiben und das Geschriebene versiegeln. Darauf verließ sie das Zimmer, den Gasthof. Sie war mir schon auf dem Schiffe wie eine Unglückliche vorgekommen. Ich interessirte mich für sie und folgte ihr. Sie ging zum Kai und schien dort Jemanden zu erwarten, zu suchen. Niemand kam zu ihr. Da ging sie die Schelde hinauf, immer weiter. Ich war ihr gefolgt. An einer einsamen Stelle stürzte sie sich, ehe ich es ahnen konnte, in’s Wasser. Ich warf mich ihr nach und es gelang mir, sie an das Ufer zurückzubringen. Sie war leblos. Ich legte sie auf den Rasen und eilte in ein Nachbarhaus, um Hülfe herbeizuholen. Als ich zurückkehrte, war sie verschwunden. Kaum fünfzig Schritte von der Stelle, wo ich sie zurückgelassen hatte, war mir ein Wagen begegnet. Mit dem Wagen mußte sie verschwunden sein. Es hatte, wie ich in dem Nachbarhause erfuhr, ein junger Herr darin gesessen, der sich erkundigt hatte, ob sie vorbeigekommen sei.“

Das Gesicht des Paters war während meiner Mittheilung völlig kalt und ruhig geblieben; nichts darin verrieth eine Theilnahme. Aber er hatte sich von seinem Ruhebette erhoben, und es war wie unwillkürlich geschehen; also doch eine Theilnahme, eine innere Unruhe sogar mußte sich seiner bemächtigt haben, und nur seine Gesichtszüge waren gewohnt, unter keinerlei Umständen eine Bewegung seines Innern zu zeigen. Ich hatte ihm mit kurzen Worten erzählt und hatte gehofft, er werde weitere Fragen an mich richten, die mir endlich Licht über die Dame geben könnten, aber ich hatte mich geirrt.

„Sie sind Priester?“ fragte er mich auf einmal.

Er hatte, wie er vor mir stand, mich wiederholt betrachtet; ich hatte es kaum bemerkt.

„Weltpriester,“ antwortete ich.

„Haben Sie Ihren Stand aus Neigung gewählt?“

Die plötzliche Frage verwirrte mich. Die fremde Dame hatte sie schon auf dem Schiffe an mich gerichtet. Ihr hatte ich ausweichend antworten können. Dem ernsten, alten, in der Kirche so hoch stehenden Geistlichen gegenüber konnte ich es nicht. Seine Augen drangen, wie er die Frage an mich richtete, wie stechend in das Herz; sie lasen auf dessen tiefstem Grunde. Er hatte meine Antwort schon, während ich nach ihr suchte.

„Setzen Sie sich!“ sagte er und zeigte nach einem Stuhle. Er hatte mich bisher stehen lassen. Er selbst setzte sich wieder auf das Ruhebett. Ich trug den Stuhl zu demselben und setzte mich ihm gegenüber. Sein Gesicht hatte einen ernsteren Ausdruck, als vorher; es war beinahe ein strenger, und doch schimmerte auch Milde hindurch. Seine Frage wiederholte er nicht.

„Hören Sie wenige Worte von mir an,“ sagte er. „Vergessen Sie sie nicht. Denken Sie daran, wenn das Gefühl über Sie kommen sollte, als seien Sie unglücklich. Das Unglück wird dann nicht an Sie herantreten. Sie haben durch Ihr freies, offenes Wesen meine Zuneigung gewonnen. Auch durch Ihr Herz. Es ist für edle Gefühle empfänglich, es hat den Muth und die Kraft der Aufopferung für sie. Sie können ihm aber auch gefährlich werden, und Ihr Stand würde Ihnen dann als ein Unglück erscheinen. Waren Sie nicht heute schon nahe daran? Sie haben jene Dame gesehen; Sie sahen nicht allein eine Unglückliche in ihr, Sie sahen eine junge, schöne, geheimnißvolle Unglückliche –“

Ich mußte die Augen niederschlagen. Ich war wohl feuerroth im Gesichte geworden.

Er fuhr ruhig fort: „Nur Ihre Phantasie war bis jetzt erregt, nicht das Herz. Aber auch das Herz kann, wird Ihnen ergriffen werden, ja, es wird es. Es wird auch Ihnen nicht ausbleiben, Ihnen am wenigsten. Es sollte nicht so sein, bei dem Stande, den Sie einmal gewählt haben. Dann werden Sie schwere Kämpfe durchzumachen haben, um nicht einer zweifachen Gefahr zu erliegen, daß nicht entweder Ihnen das Herz breche, oder daß Sie nicht ein Ehrloser werden. Und aus der Gefahr kann nur Eins Sie erretten, der Gedanke, daß ein höherer Wille Ihnen Ihr Schicksal auferlegt hat, und daß er es Ihnen auferlegt hat zum Heile Ihrer Seele. Auch jene Frau, aus deren Leben Sie mir eine Episode mitgetheilt haben, nur eine Episode – ihr Schicksal hat sich heute noch nicht vollendet –“

Er brach ab und sah vor sich hin, ob er fortfahren, ob er mir von der Frau erzählen solle; denn das hatte er gewollt. Er erzählte nicht.

„Kommen Sie nach einem Jahre wieder zu mir,“ sagte er. „Dann darf ich Ihnen mittheilen; dann wird die Wahrheit meiner Worte Ihnen völlig klar werden. Nach einem Jahre? fragt mich Ihr Blick, und Sie denken an mein Alter! Sie werden mich nach einem Jahre noch am Leben finden. Die höhere Hand, die unser Leben bestimmt und unsere Schicksale regiert, fordert ein Wirken von mir, das erst dann seinen Abschluß erhalten kann.

Also über’s Jahr, mein junger Freund, und zu dieser Stunde der Nacht, sie gehört mir.“

Er war aufgestanden, auch ich hatte mich erhoben. Dann reichte er mir seine Hand hin. Ich drückte meine Lippen darauf. Er küßte mich auf die Stirn. So nahmen wir Abschied. Ich ging am andern Morgen noch einmal zu der Stelle, wo ich die Fremde aus dem Wasser geholt hatte. Ich erkundigte mich in der Nachbarschaft nach ihr. Niemand wußte etwas Weiteres über sie. Man dachte schon nicht mehr an sie. Aus meinem Gedächtnisse entschwand sie nicht; nicht ihre Schönheit, nicht ihr Unglück. Meine Phantasie mußte sich immer mit ihr beschäftigen, und immer angelegentlicher und lebhafter. Der Pater Canisius trug wohl einen Theil der Schuld mit, auch davon, wenn die Bilder der Phantasie manchmal einen leisen Schmerz in meinem Herzen entzünden wollten. Ich erwartete mit Sehnsucht, mit jenem Schmerze den Ablauf des Jahres. – Ich war wieder in Antwerpen. Der Pater Canisius lebte noch, wie er es vor einem Jahre gesagt hatte. In der eilften Stunde des Abends ging ich zu ihm. In seinem Hause war noch Alles wie vor einem Jahre. Der alte Diener lebte auch noch und führte mich die Treppe hinauf, wie damals. Der Pater lag wiederum

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_738.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)