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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

zu Pferde, trotz der oft sehr stark vertretenen Häßlichkeit und Ueberbeleibtheit unter ihnen.

Sieh nur, sieh, wie die sich auf den glänzenden Pferderücken wiegenden Sylphiden immer hin und her vorbeifliegen in ihren bezaubernden Reithabiten mit den glatt anschließenden Taillen und dem reichen Gewoge nach unten! Und unter diesen berauschenden Hüten ihre wallenden kastanienbraunen und goldblonden Locken! Einige fühlen sich glücklich und scheu unter den orthodoxen cylindrischen Biberhüten und weithin flatternden Schleiern, andere verrathen ihren Uebermuth unter schalkischen, kleinen Baretts, oder sie fordern die Welt noch kecker heraus mit ihren halb aufgekrempelten Cavalierhüten und grünen Federn. Auch fehlt es nicht an beinahe Pariser Mode-Angströhren auf dem reichen Haar mit dem modigen Zopfsacke hinten. Kurz, in Hüten und Haaren sucht man sich mit aller Lust und Laune für die Einförmigkeit des Reitkleides zu entschädigen. Und indem nun die glänzende Cavalcade immer so still und staublos auf dem feuchten Sande unter den Bäumen vorbeiströmt und die Herren bald hier, bald da anzukommen und erotische Worte oder pikanten Klatsch zuzuflüstern suchen, hat der muthwillige Wind manchmal sein Spiel und bläst die decente Länge des Reithabits über den Fuß herauf, als wollt’ er selbst mit dem niedlichen, koketten, kleinen Stiefel und Fuße kokettiren und mit den militärischen Häckchen und den dicht anschließenden Reithöschen. Die Herren am Geländer bewundern dann wohl ganz laut den himmlischen Fuß und thun dabei, als ob sie blos vom Pferdebeine so entzückt wären. Auch fehlt es nicht an wirklichen andächtigen Kennern, die für nichts Auge und Sinn haben, als für diese unvergleichliche, massenhafte Aristokratie von Pferden. Vielleicht ist auch Rotten-Row für Hippologen ein höherer Genuß, als für Aristokraten- und Aspasien-Anbeter. Die Aristokratie der Menschen gedeiht in England immer noch besser, als irgendwo, obgleich ihre Köpfe und ihre diplomatischen Künste immer jämmerlicher werden; aber der alte Ruhm von den besten, theuersten, schnellsten und graciösesten Rossen hält sich in voller Glorie. Die Menschen-Aristokratie geht als politische Macht in den gauklerischen beiden Cliquen der Palmerstonianer und Derby-Disraeliten sichtlich zu Grunde, um den gesunden Männern richtiger Volkswirtschaft und des Friedens und der Freiheit mit allen Völkern Platz zu machen.

Dann wird die Zeit kommen, daß sich Deutsche und Engländer, jetzt durch politischen Schimpf gegen einander entfremdet und erbost, in ihren vielen Gegensätzen, die sich einander ergänzen, wieder erkennen und freudig von einander importiren und Vorzüge einbürgern. Im wahren Kerne des englischen Lebens ist viel mehr echt germanisches Leben zur Ausbildung, Blüthe und Frucht gekommen, als unter beschränkteren Verhältnissen in Deutschland. Wir müssen dieses unser Eigenthum von dort aus importiren lernen, wie sich die gebildeten Engländer durch Einbürgerung deutscher Vorzüge längst von der Stockengländerei zu befreien angefangen haben.




Zur Beruhigung der Mütter am Krankenbette.
Kinderkrämpfe.

Herzzerreißend ist sicherlich für eine Mutter der Anblick ihren ächzenden und wimmernden oder laut aufschreienden, bewußtlos und in Krämpfen daliegenden Kindes. Und doch entspricht sehr oft die Ursache dieses Krampfzustandes, – bei dem das Kind mit starren oder schielenden Augen, verstörter Miene, rückwärts gezogenem Kopfe und bei Verzerrung der Glieder ganz ungewöhnliche Bewegungen oder Zuckungen macht, – diesen schrecklichen Krankheitserscheinungen durchaus nicht. Ja es liegt diesen Krämpfen gar nicht selten eine sehr geringfügige Störung in diesem oder jenem Organe des Kindeskörpers zu Grunde. Deshalb brauchen auch die Mütter, wenn ihre kleinen Kinder von Krämpfen heimgesucht werden, durchaus nicht gleich die Hoffnung auf Wiederherstellung derselben zu verlieren. Sie können sich ferner noch zu ihrem Troste und zur Beruhigung dem Gedanken hingeben, daß ein Kind in den ersten Lebensjahren, wegen des unentwickelten Zustandes seines Gehirns, noch kein Selbstbewußtsein besitzt und deshalb Schmerzen, die bei ähnlichen Krämpfen von Erwachsenen empfunden werden, gar nicht hat und nicht fühlen kann; sowie daß, wenn doch Schmerzempfindung wirklich schon vorhanden sein könnte, die Ursache des Krampfzustandes in der Regel eine solche ist, welche auch das Empfindungsorgan betäubt und darum ein Schmerzgefühl nicht aufkommen läßt. Wenn die Mütter meinen, daß bei einem kranken kleinen Kinde das Schreien und Strampeln mit Armen und Beinen durch Schmerz veranlaßt würde, so irren sie; das geschieht ganz automatisch und ohne Zuthun des Gefühls und Willens des Kindes, ebenso wie ein Chloroformirter, ein durch Fall oder Schlag Betäubter oder ein Schlafender nicht selten die zweckmäßigsten Bewegungen, ohne nur das Geringste davon zu wissen, ausführt (z. B. eine Fliege von seinem Gesichte jagt, sich an einer kranken Hautstelle kratzt). Man nennt, wie wir später sehen werden, solche unwillkürliche Bewegungen „Reflexbewegungen“.

Um einzusehen, wie leicht kranke und krampfhafte Bewegungen bei kleinen Kindern zu Stande kommen können, muß der Leser zuvörderst einige Einsicht in die elektrische Nervenmaschinerie des menschlichen Körpers bekommen. Er denke sich die Sache etwa so: von allen Punkten unseres Körpers gehen feine elektrische Drähte (Fäden, Nerven) zu einem Apparate, den man den Mittelpunkt des Nervensystems nennt, der aus dem Gehirne (in der Schädelhöhle) und Rückenmarke (im Wirbelsäulencanale) besteht und den Ausladeplatz für elektrische Fünkchen bildet, welche hier aus den sogen. centralen Enden dieser zuleitenden (centripetalen) Drähte herausschlagen. In demselben Apparate nun, in welchem die zuleitenden Nerven endigen, nehmen aber auch elektrische Drähte ihren Anfang, welche sich aus diesem Apparate heraus zu den Bewegungsorganen (Muskeln) aller Körpertheile hinziehen, wegleitende (centrifugale) Nervenfäden genannt werden und für bestimmte Bewegungen bestimmter Bewegungsapparate in passende Gruppen geordnet dicht nebeneinander liegen.

Wird ein zuleitender Faden irgendwie und irgendwo in seinem Verlaufe veranlaßt elektrische Fünkchen im Centralapparate (Gehirn, Rückenmark) auszuladen (man pflegt zu sagen „gereizt“, so können diese Fünkchen unter gewissen Umständen im Centralapparate selbst (besonders im Gehirne) verbraucht werden, häufig schlagen sie aber auf die dem funkenliefernden centripetalen Faden zunächst liegenden centrifugalen Fäden über, reizen dieselben und veranlassen so in demjenigen Bewegungsapparate, zu welchem sich jene Fäden hinziehen, diejenige Bewegung, für welche sie gerade von Natur bestimmt sind. Z. B. würden die von der Hand zum Centrum leitenden Nerven gereizt, so fände die Übertragung dieser Reizung zunächst auf die den Arm bewegenden Muskeln statt und daher kommt es, daß man die Hand, die zufällig an den heißen Ofen trifft, sofort wegzieht, selbst in dem Falle, daß man ganz bewußtlos ist. Nur dann würde dies nicht geschehen und die Hand könnte dabei total bis zur Kohle verbrennen, wenn die zuleitenden Nerven ihre elektrischen und im Centrum auszuladenden Fünkchen zu liefern nicht mehr im Stande (d. h. die Nerven gelähmt) wären.

Mit einigen der zuleitenden elektrischen Fäden (oder den centripetal leitenden Nerven) hat es nun aber noch eine ganz besondere Bewandtniß. Diejenigen derselben nämlich, welche sich in dem Theile des Gehirns endigen, welcher vorzugsweise dem Gefühle vorsteht, veranlassen, wenn sie gereizt werden, Empfindungen, jedoch immer nur dann, wenn sich das Gefühlsgehirn schon gehörig entwickelt hat (was beim kleinen Kinde eben noch nicht der Fall ist), und wenn es nicht außer Thätigkeit gesetzt, betäubt (gefühllos) wurde, was beim Chloroformiren und dergl. vorkommt. Man nennt diese Art der zuleitenden Fäden auch Empfindungsnerven. Sie veranlassen, wenn sie ungewöhnlich stark gereizt werden, oder wenn das Gefühlsgehirn krankhaft reizbar ist, widernatürliche und bisweilen äußerst schmerzhafte Empfindungen. Sie können gleichzeitig aber auch dadurch, daß ihre elektrischen Fünkchen, die sich entweder in Folge der stärkeren Reizung in größerer Menge und mit mehr Heftigkeit entladen, oder auch wegen des reizbaren (leitungsfähigeren) Gehirns über eine größere Strecke ausbreiten, auf die Wurzeln von Bewegungsnerven überschlagen und so neben abnormen Empfindungen auch noch abnorme Bewegungen der verschiedensten Art veranlassen. Das Ueberspringen elektrischer Fünkchen (der Reizung)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_711.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)