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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

ich, doppelte und dreifache Equipagen und ein Reitpferd für jedes Familienmitglied – männliches und weibliches – und noch Reitpferde für die „grooms“, die stupiden Reitknechte hinter den berittenen Amazonen. Und da die Dienerschaften in einem solchen herrschaftlichen Hause bis auf zwanzig steigen, auch „Tattersalls“ die Centralpferderennen-Wettbörse Englands, sich in der Nähe versteckt; da endlich auch eine erstaunliche Menge junger, unverheiratheter Damen (oft von niedrigster Herkunft) unweit davon fürstlich mit Pferden, Equipagen und Dienerschaften in eigenen Palästen residiren und blühen, ohne daß sie nähen oder spinnen oder irgend etwas Nützliches thun (und die jungen und alten Lords ernähren sie doch, so lange sie als Lilien blühen), und auch aus fernen Theilen Londons sich die Roués und höheren Tagediebe aller Nationen, Tausende von Neugierigen und fremden Besuchern hier zwischen zwei bis fünf Uhr englischen Vormittags zum täglichen Reit- und Fahrcorso einfinden – unter solchen Umständen, Umgebungen und Zusammenflüssen darf man sich nicht wundern, daß wir dieses Hyde-Park Saison-Rendez-vous etwa um drei Uhr etwas märchenhaft und zu dicht und weit ausgedehnt für unsere Seh- und Fassungskraft finden. Es gilt deshalb, sich vor allen Dingen zu beschränken und gleichsam selbst einzurahmen, um ein abgeschlossenes Bild zu gewinnen. Unsere Abbildung, deren Zeichner sich ebenfalls doppelt beschränken mußte und zwar auf einen Augenblick und einen bestimmten Raum, kann uns dabei nur behülflich sein. Wozu brauchen wir auch die ganze schattige, luftige Länge von Rotten-Row, die sich gleich links im Hyde Park entlang streckt, um uns ein Bild von diesem täglichen Reitcorso zu verschaffen?

Stellen wir uns dicht an das Eisengeländer und lassen sie alle hin und her, auf und ab – fast immer wie dichte, kostbare, lebendige Pferde-, Reiter- und Reiterinnen-Ströme – an uns vorbeigaloppiren und kokettiren, carrieren und traben. Doch der Rahmen, wovon wir am Geländer einen Theil bilden, ist auch nicht zu verachten. Kenner behaupten sogar, er sei malerischer, als das Bild selbst mit seinen gar zu vielen schwarzflatternden Reithabits. Wir stecken mitten in einer Gruppe der ärgsten Dandies, getreuen, wenn nicht übertriebenen Copieen der absurden Modemagazin-Abbildungen. Früher meint’ ich immer die abgebildeten und colorirten männlichen Modemagazin-Scheusale seien Caricaturen und Verhöhnungen des stutzernden Geckenthums. Aber hier erkannt’ ich meinen Irrthum. Solche abgebildete Beinkleider werden also wirklich getragen! Und diese fabelhaften Westenmuster pressen hier eine ganze Menge lebendiger Taillen. Auf diesen erhabenen Hacken stehen Wesen, die man nicht nur zu den vernunftbegabten, sondern wohl gar zu den obersten Zehntausenden rechnet. Und diese riesigen „Whiskers“ oder Backenbärte, deren jeder fashionable Stockengländer zwei trägt, auf jeder Backe einen so groß, wie einen Handfeger! Solche Bürden von Uhrketten, noch belastet mit durchlöcherten Münzen und massiven Kleinodien (auch verbrecherischen Miniatur-Stereoskopen)! Und in welchen bretsteifen Vatermördern sie ringsum mit den Köpfen stecken! Dazu brillante Cravatten und Nadeln und Ringe – es müssen doch sehr reiche hocharistokratische Gentlemen sein!

Wirklich? „Mind your pockets!“ (Nehmen Sie Ihre Taschen in Acht!) flüstert mir ein wohlwollendes Mitglied der geheimen Polizei in’s Ohr. Natürlich, es sind Taschendiebe. Ein echter englischer Gentleman trägt nie Gold und Mode zur Schau, und selbst seine Lorgnette darf nicht in Gold, sondern muß in Horn gefaßt sein. Die andern Herren und Straßenjungen, die zum Theil mit fabelhafter Gymnastik auf den Eisengeländern balanciren – welche Physiognomien, Mienenspiele, Trachten, Ausrufe! Vor lauter Wunder und Stoff kann ich selbst in keine ruhige Construction kommen. Liebe Leser und Leserinnen, es werden lauter Interjektionen und abgebrochene Sätze. Eben wollt’ ich classisch, elegant zu schildern anfangen, und ich kann wieder nur ausrufen: Diese Ladies! O, diese Ladies – wirkliche Ladies! Wie majestätisch sie ihre Crinolinenriesenkörbe dahinschieben! Welch blumige Gesichter und brillante, große, ruhige Augen! Herzoginnen, Marquisen, Lordstöchter, nicht wahr? Im Rahmen hier und in solchen Hühnerkörben? Erlauben Sie mir, Sie wieder auf einen kleinen Irrthum aufmerksam zu machen. Ich habe mir diese Corsos zehn Jahre lang gelegentlich immer von Neuem angesehen und weiß ziemlich genau, daß diese Damen nicht zu den Herzoginnen und dergleichen, sondern wo anders hin gehören, daß ihre Blume vom Gin, Wachholderbranntwein, auf die Gesichter getreibhaust ward und daß nach Muster der Königin und ihres Hofes die Crinolinen schon seit Jahr und Tag von den Hüften wirklicher Ladies verbannt wurden.

Doch fehlt es natürlich auch nicht an Vertreterinnen weiblicher Tugend, Schönheit und Vornehmheit. Selbst die Häßlichkeit ist stark vertreten zu Fuß und zu Pferde; warum es leugnen? Schönheiten und alle kokette Vogelscheuchen in superlativen Toiletten, einige „armselig“ an der Seite getrauter und ungetrauter Herren aller Art, andere stolz und fürchterlich allein heran- und vorbeirauschend, feindlich blickend wie Kriegsschiffe, gefolgt von riesigen, gepuderten, wadenausgestopften „Fußmännern“ (Lakaien), deren Blicke vom stolzen Bewußtsein des Glanzes und der Größe ihres Vortrabs strahlen; aber auch lustige, lachende, übermüthige Kindermädchen, Bonnen, Ammen mit beispiellosen Schönheiten rosiger, lockiger Kinder, die weit weg, der Serpentine und dem täglichen Fahrcorso zu, auf dem sonnigen Rasenteppiche umherjubeln und springen wie Gummibälle um allerhand Erwachsene herum, die in allen möglichen Positionen auf dem duftigen Grase liegen. Und dann die geputzten Tagediebe, die „swells“, manchmal ihrer drei oder vier Arm in Arm hinter dem Menschenrahmen weg hinlavirend; strenge, hochkirchlich orthodox blickende Duennen und Erzieherinnen, denen gottlose alte Sünder, jugendlich aufgekratzt, frech in die frommen Gesichter stieren; dazwischen auch einzelne Lumpen- und Jammergestalten, aus fernen, furchtbaren Winkeln des Proletariats und der Verbrechen hervorgekrochen, um durch Grauen und Entsetzen Mitleid und kleine Münze zu erringen und den tiefsten Schlagschatten zu dem massenhaften Glanze und Reichthume zu Fuß und zu Pferde zu bilden!

Ja, wie der goldene, blitzende Regen von Sonnenstrahlen zugleich auf diese Jammerbilder und die reizenden reitenden Amazonen durch die lustig rauschenden Baumkronen herabschießt! Diese Amazonen, Danaës, Aspasien, Phrynen, Lais etc. (wie man diese höchste Aristokratie der zahlreichen weiblichen Wesen ihrer Classe zu tituliren für anständig findet) mitten unter den tugendhaften Töchtern und Frauen des Oberhauses und der „obersten Zehntausend“ in oft überstrahlender Schönheit auf den schönsten Pferden haben selbst die Zeitung des Hofes und der höchsten Kreise zu moralischen Leitartikelstrafpredigten entrüstet; aber es half nichts. Was sie rügte, gilt noch als Recht und Regel, so daß es wahr geblieben ist, was sie als die Krone alles sittlichen Verderbens geißelte. Das ist die Sitte junger Amazonen aus den tugendhaftesten Aristokratenfamilien, sich die Freiheiten der Aspasien und Danaës, denen das Gold reicher Roués in den Schooß regnet, zum Muster zu nehmen, um ebenfalls liebens- und anbetungswürdig zu werden. Es ist daher auch kein Wunder, daß sie, zu Hause Musik und Deutsch lernend (sie lernen meist Alle Deutsch und sprechen’s oft reizend), nicht selten mit dem deutschen Musik- oder Sprachlehrer die Sprache der Liebe reden lernen und durchgehen. Auch Italiener und Franzosen werden leicht gewonnen, diese Rolle zu spielen, da die englischen Liebhaber im Vergleich zu diesen foreigners (Ausländern) oft „auf beiden Händen links sind“.

Aber wir freuen uns hier blos der unvergleichlichen berittenen Scenerie und moralisiren nicht. Die Sommersonne scheint in vollster Blüthe der Saison mit unparteiischer Glorie auf Gerechte und Ungerechte, und das Ganze ist so bezaubernd schön. Wozu also ausmerzen? Die Phantasie kann sich’s aus „Tausend und Eine Nacht“ nicht märchenhafter ausmalen. Wie die grünen Bäume im würzigen Winde oben drüber rauschen und sich lustig verbeugen und die zahmen Vögel dazu herabzwitschern! Der Himmel wölbt sich hoch oben und die Sonne blickt mit unermüdlicher Freude und Neugier durch die vom Winde zerrissenen Baumschatten auf diese Massen auf- und abcourbettirender heiliger Cäcilien und unheiliger Phrynen. Diese Lady Cavaliere und Pferde-Gardistinnen kommen nur einmal in der Welt so massenhaft und regelmäßig zu solchen Lebensbildern zusammen, und neben diesem Rotten-Row giebt es kein zweites in der Welt. Bois de Boulogne, Course in Calcutta, Cascinen in Florenz, Prado in Madrid, Prater in Wien, Atmeidan in Constantinopel – ihr alle vereinigt bringt mit der höchsten Anstrengung nicht so viel graciöse Pferde und Gracien darauf zusammen, wie sich hier im Mai und Juni täglich von drei bis fünf Uhr ganz von selbst einfinden. Auch machen alle eure Plätze zusammen noch lange keinen Hyde-Park. Rotten-Row ist ein wirklicher Peri-Garten schöner Mädchen und Frauen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 710. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_710.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)