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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Staates am Bundestage), belegten mit Documenten Erzählungen, die man bis dahin für unglaublich gehalten hatte. Wenige Monate noch, und das erwünschte Ziel, die Aufgabe seines ganzen Lebens wäre erreicht gewesen … da spielten die Legitimisten ihr va banque und gewannen die Partie. –

Der Baron von Richemont war 64 Jahre alt, ein Schlagfluß hatte ihm eine Seite des Körpers gelähmt, er hatte in seinem Leben unmenschlich viel gelitten; man muß den greisen, fast verkrüppelten Mann nicht zu streng richten, wenn die Energie ihn nahe am Ziel seines harten Kampfes verließ.

Aus besonderen Rücksichten ist es uns unmöglich, auf die Gründe einzugehen, die so plötzlich eine gänzliche Veränderung in der Gesinnung des Barons hervorriefen. Vielleicht werden unsere Leser aus den nachstehenden Thatsachen sich selbst eine Meinung bilden. Das Journal stellte seine Publicationen ein, der Baron reiste nach Italien, wo er am 20. Februar 1849 vom Papste Pius IX. in Gaeta in einer mehrstündigen Audienz empfangen wurde. Nach seiner Rückkehr sagte er sich nach und nach von seiner bisherigen Umgebung los, frequentirte nur Geistliche und alte Legitimisten, machte eine Reise nach Niederbronn, wo eine paralytische Nonne, welche vorgebliche Ekstasen hatte, ihn als König und Gesalbten des Herrn begrüßte, ließ sich vom Bischof von Straßburg noch einmal confirmiren – kurz, fiel ganz und gar in die Hände einer Partei, die ihm die Theilnahme aller derer zu entziehen wußte, welche ihm wenigstens ihr aufrichtiges Beileid nie versagt hatten.

Das Kaiserthum ließ ihn ruhig seine Prätentionen an den Tag legen und sah zu, wie sogar Mitglieder der Napoleonischen Familie mit königlichen Ehrenbezeigungen nicht karg gegen ihn waren. Man sagt, daß die Herzogin von Angoulême auf ihrem Todtenbette ihn öffentlich als ihren Bruder hätte anerkennen wollen, aber von ihrem Beichtvater daran verhindert worden und daß ein ansehnlicher Jahrgehalt an Stelle der öffentlichen Anerkennung getreten wäre. Wir haben keine Beweise für oder gegen diese Erzählung, die im Kreise seiner Anhänger circulirte.

Sein plötzlicher Tod im Schlosse Vaulx-Renard und das Verschwinden seines Leichnams haben zu mancherlei Gerüchten Anlaß gegeben, die wir für unnütz halten zu wiederholen. Ein letztes Factum jedoch, das vielleicht den Leser interessiren wird und für dessen Glaubwürdigkeit wir Bürge sind, ist folgendes. Bei seiner letzten Abreise nach Lyon, einige Tage vor seinem Tode, verfehlte er den Zug und trat mit einer ihn begleitenden Person in ein nahegelegenes, im Augenblicke leeres Kaffeehaus. Auf einem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch; es war der „Graf von Montecristo“ von Alex. Dumas. Nachdem er einen Augenblick darin geblättert hatte, wandte sich der Baron an die Person, die bei ihm war, und sagte: „Glauben Sie, daß es möglich sei, daß durch die Wirkung des Haschisch eine Person Tage lang für todt gehalten, begraben und noch lebend aus dem Grabe gebracht werden könne?“




Um den Lesern diese interessante Persönlichkeit noch bekannter zu machen, wollen wir ein Fragment aus einem seiner Briefe wörtlich anführen.

„… Was ich eigentlich will, welches der Zweck meines Kampfes, der über ein halbes Jahrhundert jetzt dauert, ist, fragen Sie mich? – Ich will Ihnen darauf antworten. Es ist Ihnen wohl noch nie eingefallen, daß ich jetzt noch daran denke, den französischen Thron zu besteigen; es wäre ein sehr großes Unglück für mich, aber wahrhaftig ein noch größeres für Frankreich, und man könnte von uns Beiden sagen, wir verdienten mit Recht all unser Unglück; noch weniger denke ich daran, mich durch meine Anerkennung reich und hochgestellt zu machen. Sie wissen, daß für mein Leben gar wenig nothwendig ist, und daß für dieses Wenige reichlich gesorgt ist. Mich rächen? Es kommt ein Alter, lieber Herr, wo das Blut langsamer durch die Adern rinnt, und wo man eine unaussprechliche Wollust im Verzeihen fühlt. Also? – was ich will – was ich begehre – warum ich unermüdlich streite, ist Folgendes, lieber Herr: ich möchte gern vor meinem Tode allen Denen, die mir mit so vieler Ergebung und Uneigennützigkeit gefolgt sind, die unumstößliche Ueberzeugung einflößen, daß nicht ein politischer Abenteurer, sondern die königliche Waise des Temple ihnen so oft mit wahrer Freundschaft und mit dem herzlichsten Danke für ihre Aufopferung die Hand gedrückt hat.“ – Aus einem Privatbriefe einer Person, die lange Jahre mit dem Baron von Richemont verkehrte, jedoch seine Ansprüche für unbegründet hält, entnehmen wir endlich folgende Einzelheiten über seine äußere Erscheinung.

„Unser ‚Dauphin‘ ist immer noch derselbe; es ist und bleibt eine merkwürdige Erscheinung, vielleicht eine der merkwürdigsten, die in diesem Chaos von verschiedenen Welten, die man Paris nennt, existirt. Da Sie ihn nicht kennen, will ich Ihnen eine Beschreibung dieses Menschen geben. Er ist von mittlerer Größe, und obgleich er viel an Rheumatismus leidet, geht er doch gerade und aufrecht; seine schneeweißen Haare liegen glatt auf seinem Kopfe und sein ganzes Aeußere macht den Eindruck eines vollständigen Gentleman im strengsten Sinne des Wortes. Sein blaues Auge hat einen seltsamen Ausdruck von Güte und Wohlwollen; man sieht diesem Auge an, daß manche herbe Thräne ihm entflossen ist. Er spricht langsam und immer freundlich und äußerst gewählt; seine Stimme hat einen festen, energischen Klang und scheint vom Alter gar nicht gelitten zu haben. Er behandelt alle Gegenstände, die ihn betreffen, mit der äußersten Ruhe, man möchte sagen mit Gleichgültigkeit; ich habe noch nie ein herbes Wort von ihm gehört. Wenn er von Ludwig dem Achtzehnten spricht, ziehen sich seine Augenbrauen zusammen, ohne daß jedoch der Klang seiner Stimme sich verändert. Kommt das Gespräch auf Louis Philipp, so bemerkt man ein verachtungsvolles Lächeln auf seinen Lippen; bei der Erwähnung Marie Antoinette’s schüttelt er traurig den Kopf, und wenn man von der Kaiserin Josephine spricht, hat er eine stehende Phrase: „ce n’était pas une femme, c’était un ange.“ (Das war keine Frau, das war ein Engel.)

„Merkwürdiger Mensch! Sie könnten Jahre lang mit ihm umgehen, ohne daß er Ihnen nur ein einziges Mal von seinen Prätentionen spräche; fangen Sie aber davon an, so wird er unerschöpflich, und ich muß es Ihnen gestehen, dieser langsame, kalte, würdige Vortrag eines unerhörten Unglücks aus dem Munde des Märtyrers selbst macht mehr Proselyten, als die Deklarationen seiner Advocaten. Er ist unermüdlich im Wohlthun: ich selbst weiß von nicht unbedeutenden Summen, die er im vorigen Winter selbst an Arme vertheilt hat. Er nimmt fast nie Geschenke von Werth an, sehr gern aber kleine Souvenirs, besonders Handarbeiten von Damen, gegen die er äußerst zuvorkommend ist, namentlich wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben. Er ist äußerst wohlwollend gegen Jedermann und übt durch diese sich nie verändernde Güte einen großen Einfluß auf seine ganze Umgebung aus. Sein Portier und dessen ganze Familie, die ihn nur als Monsieur Louis kennen, schwärmen für ihn. Was mich so sehr an seinen Umgang fesselt, ist die Abwesenheit alles Theatralischen in seiner Person; er weiß ganz gut, daß ich von seinen Prätentionen nichts halte, und doch ist es ihm nie eingefallen, mich überzeugen zu wollen. Wenn wir zusammen sind, sprechen wir von den Tagesneuigkeiten, von Diesem oder Jenem, nie jedoch von Ludwig dem Siebenzehnten.“ …

Wer mag das Räthsel ergründen, das uns dieser merkwürdige Baron Richemont vorlegt? wer wagt zu entscheiden, ob er Betrüger, ob Betrogener, ob er wirklich der Mann war, für den er sich ausgab? Sollte sich Keiner unserer historischen Schriftsteller veranlaßt finden, seine Forschungen einem Gegenstande zuzuwenden, der jedenfalls unser größtes Interesse in Anspruch nimmt, wenn ihm auch jetzt kaum noch eine praktische Bedeutung beigelegt werden kann?

H. M-n. 




Der Himmel des Hauses.

Ein Himmel zwischen vier Wänden? Wo ist der? Suche nur! Du wirst ihn in jedem Hause finden, und wäre es noch so klein, ja wäre es selbst noch so groß und prächtig, wenn es nur einen Winkel hat, aus welchem Kinderstimmen lockend zu Dir dringen. Und da suche ja nicht in den größten Häusern den größten Himmel. Gott bewahre! Die Häuser thun’s nicht, die Kinder sind’s ganz allein, die den Himmel machen, und da kannst Du es gar oft erfahren, daß gerade im kleinsten Hause der größte und schönste Himmel ist.

Und auch die Kinder thun’s eigentlich nicht ganz allein: es

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 683. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_683.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)