Seite:Die Gartenlaube (1864) 681.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

da es in seinen Ausdrücken von der gewöhnlichen Form solcher Schriftstücke abwich. Es wäre dies jedoch vielleicht unbemerkt vorübergegangen, wenn man nicht ein vom 14. Juni (26. Prairial) datirtes Decret des Convents gefunden hätte, das allen Behörden den Befehl gab, „den jungen Capet nach allen Richtungen hin zu verfolgen.“

Die Prätendenten stützten sich hauptsächlich auf diese beiden Actenstücke und suchten, von ihnen ausgehend, ihre Identität zu beweisen.

Nur drei Personen haben öffentlich und gerichtlich ihre Ansprüche geltend gemacht:

1. Mathurin Bruneau, Holzschuhmacher aus Vezins, Departement Maine et Loire,
2. Carl Wilh. Naundorff, Uhrmacher, gebürtig aus der Niederlausitz, wohnhaft in Spandau,
3. der sogenannte Baron von Richemont, mit dem dieser Artikel sich speciell beschäftigen wird.

Mathurin Bruneau trat am Ende des Jahres 1815 auf, und bald darauf hatte die Polizei sein ganzes vergangenes Leben von dem Tage seiner Geburt bis zum Augenblicke seiner Verhaftung aufgespürt. Seine kurze königliche Würde endete mit einer Verurtheilung zu sieben Jahren Zuchthaus wegen Betrugs, und Béranger setzte der Beschämung der Anhänger des sogenannten Prinzen von Navarra die Krone auf mit seinem bekannten Liede: „prince, faites-nous des sabots etc.“ (Prinz, mache uns Holzschuhe.)

Kaum hatte Naundorff sich in Frankreich gezeigt, kaum hatte er dort einige Anhänger gefunden, als die französische Regierung in Deutschland Nachforschungen über ihn anstellte und von der preußischen Regierung die vollständigsten Beweise erlangte, daß Carl Wilhelm Naundorff ein aus einer polnisch-jüdischen Familie entsprungener gemeiner Abenteurer sei, der, nachdem er zehn Jahre in Spandau bei Berlin als Uhrmacher gelebt und nebenbei Wucher (?) getrieben hätte, nach Brandenburg gezogen war.

Der Baron von Richemont jedoch, der dritte der Prätendenten, hat der französischen Regierung die Herausforderung hingeworfen, ihm zu beweisen, daß er nicht der sei, für den er sich ausgebe, und trotz aller dazu angewandten Mittel (der Leser wird einsehen, daß während beinahe eines halben Jahrhunderts es einer Regierung wie der französischen hätte leicht werden müssen, irgend einen entschiedenen Beweis der lügnerischen Anmaßung dieses Menschen, hätte eine solche existirt, zu finden) gelang es fünf in ihren Principien ganz entgegengesetzten Regierungen nicht, die Frage des Publicums: „Wenn der Baron von Richemont nicht Ludwig der Siebenzehnte ist, wer ist er?“ – zu beantworten. –

Einhundertsiebenzehn Actenstücke liegen uns vor, und unter den vielen Namen, welche die Prätentionen des Baron von Richemont bekräftigen, machen sich einige bemerklich, denen jeder Mensch einen unbedingten Glauben schenken muß.

Der Dauphin soll am 19. Januar von den Herren von Frotté und Ojardias, Emissären des Prinzen von Condé, in einem Pferde von Pappe verborgen, aus dem Temple entführt worden sein. Die berüchtigte Familie des Schusters Simon war durch Geld bewogen, sich dieser Entführung nicht zu widersetzen. Ein taubstummes Kind, das, von einer skrophulösen Krankheit befallen, am Rande des Grabes stand, der Sohn eines Baron von Tardif, ward statt des Dauphins in den Temple gebracht. Die Entführung wurde dadurch erleichtert, daß am selben Tage Simon seine Entlassung nahm und der einige Stunden später eingesetzte neue Wärter das Kind nicht persönlich kannte.

Den vorstehenden Zeilen kann wohl kein besseres Zeugniß beigelegt werden, als die Worte des General-Staatsanwaltes, der im Processe gegen Mathurin Bruneau sagte: „Was die Flucht des Dauphin aus dem Temple anbetrifft, so haben die Nachforschungen, die ich angestellt habe, mich zu der Ueberzeugung gebracht, daß sie unbestreitbar ist.“[1]

Der Aufenthalt des Herrn von Frotté in Paris war der Regierung gänzlich unbekannt, während Ojardias sich seit längerer Zeit bewacht wußte. Der Letztere benutzte diesen Umstand, und während der Herr von Frotté mit der äußersten Vorsicht den Dauphin nach der Vendée geleitete, reiste Ojardias öffentlich, von dem zehnjährigen Sohne des Herrn Morin de Guerivière begleitet, in einer vierspännigen eleganten Reisekutsche nach Puy.

Der Plan gelang vollständig; in Puy wurden beide arretirt, der Abgeordnete Chazel kam direct von Paris, um das Kind zu recognosciren, überzeugte sich aber nach einigen Tagen, daß es der Dauphin nicht sei, und befahl Beider Freilassung. Mittlerweile war Herr von Frotté schon mit seinem Schützlinge in der Vendée angelangt.

Welche Gründe den Prinzen von Condé bewogen, den Dauphin aus seiner Nähe zu entfernen, das kann hier nicht erläutert werden; aber wer den Charakter Ludwig des Achtzehnten genauer kennt, wird Condé vollständig beistimmen, das durch ein Wunder errettete Kind aus jenes Lager entfernt zu haben. Condé, der am besten wußte, welche Gefahr seinen königlichen Schützling bedrohte, nahm seine Zuflucht zu einem, man könnte sagen, romanhaften Mittel, welches aber ganz mit seinem chevaleresken Charakter in Einklang steht. Er veranstaltete eine geheime Zusammenkunft mit dem republikanischen Generale Kleber, seinem berühmten Gegner, und vertraute nicht allein diesem das ganze Geheimniß von der Flucht des Dauphin, sondern übergab das Kind selbst dem General, dessen Ehrenhaftigkeit er vollkommen vertraute.

Die königliche Waise wurde von Kleber für seinen Neffen ausgegeben, und als Bonaparte dem General befahl, ihm nach Aegypten zu folgen, wollte dieser das ihm anvertraute Pfand nicht in dem immer noch bewegten Frankreich zurücklassen, sondern nahm es mit sich. Der vierzehnjährige Knabe machte den ganzen Feldzug in Aegypten mit; als jedoch Bonaparte sich entschloß, nach Frankreich zurückzukehren und den Oberbefehl dem General Kleber zu übergeben, hielt dieser es für gerathener, sein Mündel einem Waffenbruder, der sich in Begleitung des Obergenerals einschiffte, anzuvertrauen. Er konnte Niemanden besser wählen als den braven General Dessaix, und dieser nahm gern und willig die Vormundschaft an.

Alle Welt kennt den glänzenden Sieg, den der aus den Wüsten Afrikas zurückkehrende Feldherr in der Ebene von Marengo errang; aber wenn Frankreich den 14. Juni 1800 sich als einen seiner glorreichsten Tage anrechnen kann, so ward dieser doch ein ewiger Trauertag im Leben des Dauphin – Dessaix fiel bei Marengo am Tage, wo Kleber in Cairo ermordet wurde! – Nach dem Tode seiner beiden Beschützer griff der fünfzehnjährige Knabe zu einem Mittel, welches schon dem Prinzen von Condé gelungen war – er suchte Schutz bei seinen Feinden. Im Jahre 1802 begab er sich nach Paris und entdeckte sich Lucian Bonaparte, dem Bruder des ersten Consuls. Dieser führte den jungen Prinzen bei seiner Schwägerin Josephine ein, welche sich lebhaft für ihn interessirte. Fouché, der mit in das Geheimniß gezogen ward, rieth auf schleunige Entfernung aus Frankreich und aus Europa. Der Rath wurde befolgt, und der junge Mann schiffte sich, reich mit Geldmitteln versehen, in Hâvre nach New-York ein. Während seines Aufenthaltes in Paris hatte er die Frau des berüchtigten Simon im Hospital aufgefunden und war von dieser auf der Stelle wiedererkannt worden!

Bis 1809 lebte er in Nordamerika und widmete diese Zeit hauptsächlich seiner so ganz vernachlässigten Ausbildung. Am Ende dieses Jahres begab er sich nach Brasilien, wo er von dem Infant-Regenten Don Juan mit königlichen Ehrenbezeigungen empfangen wurde. Den Bitten und Ermahnungen dieses Prinzen widerstehend, schiffte sich der Dauphin im Jahre 1810 nach Europa ein, wurde aber gleich beim Aussteigen aus dem Schiffe in Civita-vecchia verhaftet und nach Paris geführt. Glücklicherweise wurde er, ohne vorher verhört zu werden, alsbald dem Polizei-Minister vorgeführt, der ihn am folgenden Tage wieder nach Hâvre bringen ließ, von wo aus ein Schiff ihn von Neuem nach Brasilien trug. Hier genoß er abermals die Gunst des Infant-Regenten, welcher ihn fünf Jahre lang am Hofe behielt und ihn im Jahre 1812 mit der Pacification der Insel Goa beauftragte, die unter Anführung des Erzbischofs sich gegen die Regierung empört hatte. Der Prinz erreichte den günstigsten Erfolg seiner Mission und lebte am brasilianischen Hofe bis zum Jahre 1815, mit Ehren überhäuft. Nachdem er den Sturz Napoleon’s erfahren, schiffte er sich nach Europa ein, wo er die Restauration, zum zweiten Male von der heiligen Allianz eingesetzt, auf dem Throne Frankreichs in der Person Ludwig des Achtzehnten fand. Sein erster Schritt nach seiner Ankunft in Frankreich war natürlich, den Prinzen von Condé aufzusuchen, der ihn sogleich wiedererkannte und sich zunächst bemühte, eine Verständigung zwischen dem Prinzen und der regierenden königlichen Familie zu Stande zu bringen.


  1. Dieser Ausspruch, welcher bei der Gerichtsverhandlung vom Correspondenten der „Gazette des Tribunaux“ aufgenommen ward, ist allerdings später vom Staatsanwalt abgeleugnet worden.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_681.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)