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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Ein leeres Grab und ein Mann ohne Namen.
Palastmysterium aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Am 11. August 1853 erwachten die Bewohner des Städtchens Villefranche, welches am Ufer der Rhone ungefähr vier Meilen von Lyon entfernt liegt, in einer eigenthümlich neugierigen Spannung. Zwei Tage zuvor hatte die Gräfin von A***, die Stammhalterin einer der ältesten und reichsten Legitimistenfamilien des Lyonnais, ihre Equipage nach dem Bahnhofe gesandt und war trotz des spitzigen Steinpflasters und ihrer siebenzig Jahre am Arme ihres einzigen Sohnes, des Grafen Maurice, dem Wagen zu Fuße gefolgt. Bei der Ankunft des Zuges hatte der Graf sich einem Waggon genähert und, den Hut in der Hand, einen noch rüstig aussehenden alten Mann begrüßt, dessen einfache Kleidung gegen sein schneeweißes Batistjabot merklich abstach.

Der Fremde hatte lächelnd den Gruß des Grafen erwidert und mit ihm den Perron verlassen, aber – und alle Welt bemerkte es mit Erstaunen – der Graf war ihm mit entblößtem Haupte gefolgt. Im Wartesaal harrte die Gräfin, und die Reisenden konnten hier eine jener Verbeugungen des vorigen Jahrhunderts bewundern, die man in unsern Tagen belächelt, sollte man sie einmal auf der Bühne sehen. Der Fremde stieg in den ihn erwartenden Wagen, und man sah, daß er die Gräfin einlud, mit ihrem Sohne darin Platz zu nehmen, was Beide unter mehrmaliger Verbeugung auch thaten.

Der Wagen der Gräfin von A*** war schon lange in ihrem Schlosse Vaulx-Renard angekommen, als das Gespräch der guten Kleinstädter noch fortdauerte und tausende von Hypothesen die Persönlichkeit des räthselhaften Fremden aufgestellt wurden. Am nächsten Morgen steigerte sich die Spannung noch mehr, denn ein Bote hatte den Dr. V. eiligst auf’s Schloß beschieden, und dieser war eine Stunde später nach Villefranche zurückgekehrt und hatte erzählt, daß der Fremde in der vergangenen Nacht am Schlagflusse gestorben sei.

Den ganzen Tag über fuhren Diener des Schlosses nach Lyon und kehrten einige Stunden später zurück; gegen Abend kamen zwei Särge, ein hölzerner und ein bleierner, an, in Begleitung eines mehr als achtzigjährigen Priesters, der sich sogleich zum Parochialpfarrer begab und diesen mit auf das Schloß nahm. – Der letzte Zug, der um 18 Uhr 45 Minuten von Paris eintrifft, brachte einige zwanzig – fast nur alte – Herren mit, die sich direct auf’s Schloß begaben und unter denen man Herzöge und Fürsten zu erkennen glaubte.

Am 12. um 10 Uhr setzte sich ein Trauerzug von der Kapelle des Schlosses aus in Bewegung. Einige fünfzig Personen folgten zu Fuße, den greisen Priester an der Spitze. Aus dem Kirchhof von Villefranche angekommen, fand man ein frisch aufgeworfenes Grab. Der Priester sprach die üblichen Gebete – der Sarg wurde in die Erde gesenkt, und die Begleiter, größtentheils Fremde, verließen mit dem nächsten Zuge Villefranche.

Acht Tage später kam ein Leichenstein aus Paris an, der bei Nacht auf das Grab gesetzt wurde und auf dem die erstaunten Besucher des Kirchhofes lasen:

Hier ruht
Louis Charles von Frankreich,
geboren in Versailles
den 27sten März 1785,
gestorben im Schlosse Vaulx-Renard
den 10ten August 1853.

Jetzt erst begannen die Bewohner des Städtchens zu begreifen, welch einen hohen Gast das Schloß eine Nacht hindurch beherbergt hatte, und das Räthsel schien vollständig gelöst, als sie in den Pariser Zeitungen die Nekrologe über den sogenannten „Baron von Richemont“ lasen, dessen eifrige und zahlreiche Anhänger ihn für den aus dem Gefängnisse des Temple entsprungenen Ludwig den Siebzehnten hielten.

Das Schicksal schien sich verschworen zu haben, der Einbildungskraft jener guten Leute mehr und mehr Nahrung zu geben. Im Jahre 1857 bereiste ein Mitarbeiter des ultraclericalen und legitimistischen Blattes „Le Monde“ jene Gegend, und als er zufälliger Weise die obengenannte Grabschrift las, schickte er eine überaus entrüstete Correspondenz an sein Journal, in der er, den Cultus vergessend, welchen jedes Grab verdient, die Regierung, die „solche Entweihung der vaterländischen Geschichte duldete“, auf das Heftigste angriff.

Gewöhnlich giebt die Napoleonische Regierung sehr wenig auf Ermahnungen, die ihr von legitimistischer Seite zukommen. Dieses Mal jedoch – wir wissen nicht, aus welchen Gründen – schien sie die Sache sehr ernst zu nehmen, denn am 12. November kam der Präfect des Rhonedepartements, der kürzlich verstorbene Senator Vaïsse, in Begleitung seines Generalsecretärs, des Untersuchungsrichters und einiger Gensd’armerie-Officiere, in Villefranche an und begab sich, nachdem er den Bürgermeister und den Parochialpfarrer zu sich hatte bescheiden lassen, von einer großen Menschenmenge gefolgt, auf den Kirchhof, wo er durch einige Arbeiter den Grabstein umreißen und an dessen Stelle ein in der Eile verfertigtes hölzernes Kreuz aufstellen ließ.

Im Augenblicke, wo er den Kirchhof verlassen wollte, überbrachte man ihm eine telegraphische Depesche, die er mehrere Male überlas; dann kehrte er zu dem Grabeshügel zurück und befahl den Todtengräbern das Grab zu öffnen. – Man denke sich das Erstaunen der Umstehenden! – Während der Arbeit unterhielt sich der Präfect leise mit seinem Generalsecretär, dem er die erhaltene Depesche zeigte und der, nachdem er sie gelesen, dieselbe mit einem ungläubigen Lächeln seinem Vorgesetzten wieder überreichte.

Als die Todtengräber bis zum Sarge gegraben hatten, hielten sie inne und erwarteten neue Befehle des Präfecten. Er hieß sie fortfahren und den Deckel des Sarges lüften. Sie gehorchten, und da das Holz von der Feuchtigkeit des Bodens sehr angegriffen war, so war in einem Augenblicke der Befehl vollzogen. Als der Deckel gehoben war, fand man einen zweiten Sarg von Blei. Der Präfect befahl auch diesen zu öffnen. Hunderte von Augen spähten begierig – der Deckel des bleiernen Sarges fiel …

Ein Schrei des Erstaunens entfuhr allen Umstehenden. – Der Sarg war leer! – –

Kein französisches Journal erwähnte dieses Vorfalles, nur in ausländischen Zeitungen wurde er besprochen. –

Vielleicht werden die ernsten Leser dieses Blattes uns mit jenen Schriftstellern verwechseln, welche der Geschichte einen Rahmen geben und es für nothwendig halten, die nackten Facten durch ihre Phantasie zu beleuchten. Wir fühlen uns veranlaßt, jeglichen Vorwurf dieser Art zurückzuweisen. Wie unglaublich das Nachfolgende dem Leser auch erscheinen möge, er darf fest überzeugt sein, daß die regste Phantasie, die überschwenglichste Einbildungskraft nicht im Stande sind, mit der Wirklichkeit zu rivalisiren, wenn die letzte sich einmal die Mühe giebt, dem Leben gewisser Menschen einen außergewöhnlichen Stempel aufzudrücken. Nebenbei machen wir den Leser noch darauf aufmerksam, daß alle Actenstücke, die wir citiren oder andeuten werden, bei Herrn J. Savigny, Advocaten am kaiserlichen Cassationshof in Paris, deponirt sind. –

Der Glaube an die Errettung aus der Gefangenschaft im Temple und an die spätere Existenz des unglücklichen Sohnes Ludwig des Sechzehnten ist in alle Classen der französischen Gesellschaft gedrungen, bei Einigen im Stadium des Zweifels geblieben, bei Anderen jedoch zur festen, unerschütterlichen Ueberzeugung geworden, und diese allgemeine Tendenz, den Tod des Dauphin nicht als eine unumstößliche Thatsache anzusehen, schaffte den verschiedenen Prätendenten, die nach dem Falle Napoleon’s ihre Identität mit dem verschwundenen Prinzen geltend zu machen suchten, viele Parteigänger.

Einige durch Zufall aufgefundene Actenstücke wurden dem zweifelnden Theile des Publicums als Basis des Glaubens an die Existenz des Dauphin oder vielmehr des rechtmäßigen Königs Ludwig’s des Siebenzehnten hingestellt, und so wurde die Regierung der Restauration selbst gezwungen, Maßregeln dagegen zu treffen.

Das erste Schriftstück, welches das Publicum in Erstaunen setzte, war der von den Aerzten am 12. Juni 1795 (vier Tage nach dem Tode) ausgestellte Todtenschein, in welchem die Doctoren Pelletan und Dumangin erklärten, daß man ihnen den Cadaver eines Knaben gezeigt und „ihnen gesagt hätte“, es sei der des Sohnes des verstorbenen Louis Capet (Ludwig XVI.).

Die Art und Weise der Redaction dieses Attestes erregte Erstaunen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_680.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)