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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

liegt, je stärker der zum Nähen verwendete Faden ist, hat den Nachtheil, daß sie beim Tragen der Kleidungsstücke der Abnutzung sehr unterworfen ist. Die beistehende Figur

zeigt das Schema einer solchen Naht; es ist leicht ersichtlich und klar, daß ein Zug an dem Ende des untern Fadens die ganze Reihe von Befestigungen und Schlingen auflöst und daß ein zweiter Zug an dem Ende des obern Fadens auch diesen aus dem Nähstoff herauszieht. Die Naht ist also immerhin eine aufzulösende, wenn sie auch mehr Dauerhaftigkeit besitzt, als die oben erwähnte einfache Kettennaht. Die amerikanische Fabrik von Grover und Baker ist die Repräsentantin des Systems der Doppelkettennaht. An Festigkeit und Dauerhaftigkeit unübertroffen, selbst nicht von irgend einer Art der Handnaht, ist die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht. Unsere Abbildung

stellt das Schema dieser Naht dar, und es ist schon daraus leicht ersichtlich, welche gute Eigenschaften dieselbe besitzen muß. Wir bemerken zuvörderst mit Wohlgefallen, daß das Aussehen der Naht auf beiden Seiten des Nähstoffs dasselbe ist. Wir können, wenn die Naht fertig ist, nicht mehr bestimmen, welche Seite des Stoffes als oben und welche als unten behandelt worden ist. Dies ist der erste Vortheil, welchen die Doppelsteppnaht vor den beiden andern Maschinennähten, ja selbst vor den meisten Handnähten voraus hat. Ein zweiter Vortheil, welcher gerade vom Standpunkte der Arbeiterfrau als ein sehr erheblicher betrachtet werden muß, ist der geringe Garnverbrauch, welchen die Doppelsteppnaht erheischt; man kann den Garnverbrauch einer Doppelkettennaht ungefähr auf das Doppelte dessen der Doppelsteppnaht schätzen. Macht man sich einen richtigen Begriff von der Leistungsfähigkeit einer Nähmaschine überhaupt, so wird man die Bedeutung würdigen können, welchen diese Kostenersparniß der Doppelsteppstich-Maschinen für die Arbeiterinnen hat. Das Ansehen der obigen Figuren allein giebt schon die Ueberzeugung von der Richtigkeit dieser Thatsache, ebenso davon, daß die Doppelsteppnaht die andere an Festigkeit, Dauerhaftigkeit und Unauflöslichkeit übertreffen müsse. Der obere und der untere Faden der Naht verschlingen sich, wie man sieht, mitten im Stoff selbst und es ist unmöglich – ist die Naht gut und regelrecht gebildet – durch Zug an dem obern oder untern oder an beiden Fäden zugleich die Naht zu lösen, ebensowenig wie dies bei der Handnaht geschehen kann. Es ist unglaublich, wie sehr die Unkenntniß dieser einzigen Thatsache der Einführung und allgemeinen Verbreitung der Nähmaschinen geschadet hat. Das Vorurtheil ist durch die Einführung der Kettenstich-Maschinen geweckt worden und hat bis zum heutigen Tage auch in Betreff der Doppelstepp-Maschinen bei einem Theile des Publikums nicht zerstört werden können. „Wenn sich ein Stich in der Naht löst, so löst sich die ganze Naht“ – dies ist das Evangelium, auf welches alle Gegner der Nähmaschine schwören, mögen sie dies nun aus eigenem falschen Vorurtheil thun, oder um falsche Vorurtheile zu wecken. Es kann nicht oft genug wiederolt werden: die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht besitzt alle Eigenschaften der Schönheit und Festigkeit, welche man überhaupt von einer Naht verlangen kann. Der Kreis ihrer Anwendbarkeit und Brauchbarkeit bei allen Arten Näharbeit ist deswegen der ausgedehnteste. Alle Arten von Stoffen, von den dünnsten bis zu den dicksten, von den weichsten bis zu den härtesten, von den biegsamsten bis zu den starrsten, von den lockersten bis zu den festesten, können auf den Doppelsteppstich-Maschinen mit größter Leichtigkeit und Bequemlichkeit verarbeitet werden.

Die Maschinen, welche die Doppelsteppnaht anfertigen, zerfallen wieder für sich in zwei verschiedene Classen: wir bezeichnen die eine als das System mit dem Weberschiffchen, die andere als das System mit der Spule. Das erstere, welches wirklich mit einer Art bei jedem Stiche hin- und herschießenden Weberschiffchens arbeitet, hat die Eigenthümlichkeit, daß seine Maschinen bei langsamerem Gange die allerstärksten Stoffe, bis zum festesten Sohlenleder, mit einer ebenso festen Naht zu versehen im Stande sind; die amerikanische Fabrik von Singer und Comp. ist die Repräsentantin dieses Systems. Das zweite System, welches statt des hin- und herschießenden Schiffchens eine feststehende Spule auszuweisen hat, ist dadurch charakteristisch, daß seine Maschinen das Maximum der Schnelligkeit zu erreichen im Stande sind. Die Fabrik von Wheeler und Wilson, ebenfalls in Amerika, vertritt dieses System. Diese Maschinen bewältigen Nähstoffe aller Art mit einer Schnelligkeit und Sauberkeit, welche alle Begriffe übersteigt. Man muß das Auf- und Absteigen der Nadel, welches so schnell geschieht, daß man mit den Augen nicht mehr folgen kann, muß die Reihe unzähliger Stiche von genauester Gleichheit, Regelmäßigkeit und Vollkommenheit gesehen haben, um nur die Möglichkeit einer solchen Leistungsfähigkeit glauben zu können.

Die Wheeler- und Wilson-Maschinen sind die eigentlichen Maschinen der Klein-Industrie, und auf diese haben wir deswegen hier unser besonderes Augenmerk zu richten. In allen kleineren und größeren Werkstätten, welche sich mit der Fabrikation von Weiß- und Bettzeug, Herren- und ganz besonders Damenkleidern, Manschetten, Handschuhen etc. etc. beschäftigen, sieht man diese geräuschlose und geschwinde Näharbeiterin unter der Aufsicht von jungen Mädchen oder Frauen ihr Tagewerk verrichten. Dies ist das eigentliche Werkzeug, welches in den Händen der Arbeiterfrauen eine Wohlthat für die Arbeiterfamilien zu werden verspricht.

Ich kann nicht umhin, noch eines Einwurfs zu gedenken, welcher schon so oft bei Einführung neuer Maschinen gemacht und ebenso oft durch die Erfahrung widerlegt worden ist. Man hat gesagt: wenn die Näharbeit vor Einführung der Nähmaschine die Hälfte aller in der Industrie überhaupt beschäftigten Frauen in Anspruch genommen hat und wenn die Nähmaschine unter der Aufsicht einer Arbeiterin so viel leistet, wie fünf Näherinnen ohne Maschine, so ist die Nähmaschine als ein Unglück für die arbeitende Frauenwelt anzusehen, denn sie macht zwei Fünftel aller Arbeiterinnen entbehrlich und also brodlos. Wie grundlos ist dieser Einwurf! Durch die Einführung der Nähmaschine hat sich die Anzahl der Näherinnen keineswegs vermindert, im Gegentheil – vermehrt; denn die Nachfrage nach Arbeit ist dadurch ganz enorm gesteigert worden. Arbeitet die Nähmaschine auch fünf Mal schneller als die Menschenhand, so giebt es doch vielleicht jetzt zehnmal so viel zu nähen als früher. Das Feld der Frauenarbeit hat sich vergrößert und ein Theil der Arbeiterinnen ist nicht nur nicht brodlos geworden, sondern kann jetzt mit Hülfe der Nähmaschine so viel und mehr verdienen, als dies vorher durch die verderbliche Beschäftigung in den Werkstätten der Groß-Industrie möglich war. Und welcher Unterschied ist erst zwischen dem Verdienst, den eine gewöhnliche Handnäherin zu erzielen im Stande ist, und demjenigen, welchen eine Maschinennäherin erreicht! Die letztere, selbst wenn sie außerhalb einer Familie für sich allein lebt, wenn sie einzig und allein auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesen ist, sichert sich durch die Nähmaschine eine wenn auch nicht glänzende, so doch sorgenlose und anständige Existenz; erstere aber ist nicht im Stande, sich nur kümmerlich das Leben zu fristen, wenn sie nicht als Glied einer Familie lebt und so im Verein mit Andern den gemeinsamen Lebensunterhalt miterwerben hilft. Zu alledem aber kommt noch, daß, während die Handnäharbeit den allerschlimmsten Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen ausübt, die Arbeit an der Nähmaschine der Gesundheit keineswegs nachtheilig ist. Es wäre wünschenswerlh, statistisch festzustellen, ein wie großer Theil der Handnäherinnen mit der Zeit ein Opfer von Augenübeln, Schwindsucht und allen möglichen Krankheitsformen werden, die sich aus einer Augen, Brust und Rücken anstrengenden Arbeit herleiten, um danach den günstigen Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen bemessen zu können, welchen die Nähmaschine ausübt. Und so läßt sich noch eine ganze Reihe nebensächlicher Vortheile aufführen – auch wenn man ganz von den wohlthätigen Einflüssen absieht, welche die Nähmaschine auf das Familienleben selbst der gebildeten und wohlhabenden Classen der Gesellschaft auszuüben im Stande ist. Die Nähmaschine ist und bleibt eine Erfindung von der größten und segensreichsten Bedeutung, die Wohlthäterin der Frauenwelt.

R. H. 
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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_655.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)