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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

No. 41. 1864.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Am Ende des Corridors führte eine breite schöne Steintreppe mit kunstreichem Eisengeländer in die Höhe. Oben auf dem Vorplatze schloß das Mädchen eine hohe Flügelthür auf, und der Fremde trat in einen Vorsaal, in welchem offenstehende Thüren nach rechts wie nach links in eine Enfilade von dunkelnden, schon von der anbrechenden Dämmerung erfüllten Gemächern blicken ließen. Sie waren meublirt, wie die Wohnräume einer wohlhabenden Adelsfamilie zu sein pflegen, Alles ein wenig veraltet und noch mehr bestäubt, verschossen, vernachlässigt. An den Wänden hingen Oelbilder, Portraits, Landschaften; am Ende der Reihe rechts befand sich ein die ganze Breite des Gebäudes einnehmender Saal mit Fenstern nach zwei Seiten, mit Krystalllüstre und krystallenen Wandleuchtern, in der Mitte der dunkelrothen Wandflächen mit Statuetten geschmückt, die sich weißleuchtend von dem dunklen Grunde abhoben; auch die Decke war mit weißen Stuckfiguren verziert – der Raum war augenscheinlich der Festsaal des Hauses.

Der junge Mann schritt quer durch den Raum auf die Nische zu, welche in der der Eingangsthür gegenüberliegenden Längenwand angebracht war, auf die weißleuchtende Statue, welche in dieser Nische auf kniehohem Postamente von dunklem Marmor stand … er blieb vor ihr stehen und stieß ein leises unwilliges „Ah!“ aus, es schien ihn etwas in hohem Grade betroffen zu machen. Er streckte den Arm aus und fuhr mit der Hand über die Schulter der Statue … dann stieß er mit der Fußspitze an den Sockel; dieser klapperte – der dunkle Marmor war nur hohles Holz. Mit einem Tone zorniger Entrüstung rief der Fremde dem Mädchen, das ihm gefolgt war, über die Schulter zu:

„Wo ist die Statue? Das hier ist ja ein elender Gypsabguß … wo ist die Statue hingekommen …?“

„Ich habe nie etwas Anderes hier gesehen!“ versetzte das Mädchen verwundert.

„Nie etwas Anderes gesehen? So mögen alle Wetter drein schlagen!“ rief der junge Mann im höchsten Zorne aus … „an die Stelle des wundervollen Marmorbildes dieses schäbige Ding … reiß’ das nächste Fenster auf … das Fenster auf, sag’ ich … zum Teufel mit dem Plunder!“

Das Mädchen stand tief erschrocken vor dem plötzlichen grenzenlosen Zorn des Fremden; sie sah regungslos, wie er das Bild mit beiden Händen an den Armen ergriff, es zum nächsten Fenster schleppte und dieses aufriß. Dann stieß sie einen Schrei aus und stürzte, wie um Hülfe herbeizurufen, davon, quer durch den Saal und die nächsten Gemächer … wie wildzornig der Fremde das Bild durch das Fenster warf, sah sie nicht mehr, aber sie hörte den heftigen Krach, mit welchem es draußen an der Seite des Gebäudes unten aus dem Boden ankam und in tausend Stücke zerschellte.

Zornige Verwünschungen zwischen den Zähnen murmelnd, ging der junge Mann zurück; er schritt durch die Zimmerreihe, durch welche er gekommen; vom Treppenvorplatz her hörte er eilige schwere Schritte ihm entgegenkommen, und als er in die nächste Thür trat, stand ein großgewachsener, breitschultriger Mann in einem grauen Jagdrock und mit einem Strohhut auf dem Kopfe vor ihm, der ihn mit einem Tone, in welchem Betroffenheit und Zorn sich in eigenthümlicher Weise mischten, anschrie: „Herr, wer sind Sie, was machen Sie denn hier?“

„Wer ich bin, können Sie sich ungefähr vorstellen,“ sagte der junge Mann hochmüthig und scharf – „Sie sind der Administrator?“

„Der bin ich, und Sie sind der Baron Horst?“

Der Baron Horst beantwortete diese Frage nicht, er versetzte nur: „Folgen Sie mir in die Zimmer meines Vaters … lassen Sie Lichter dahin bringen, wir werden länger miteinander zu reden haben.“

Er schritt voran in die andere Zimmerreihe links von dem Treppenvorraum, und hier warf er sich bequem in einen Lehnstuhl, der neben einem großen Tische mit dunkler Marmorplatte stand.

„Erklären Sie mir vor allen Dingen.“ sagte er hier, „wo ist die kostbare Marmorstatue der Flora?“

Der Administrator stand vor ihm – der Mann mit dem kräftig geschnittenen, aber gewinnenden, intelligenten Gesicht, das ein dunkler Vollbart umrahmte, sah mit gerunzelten Brauen scharf auf ihn nieder; dann glätteten sich diese Brauen, er nahm ruhig in einem gegenüberstehenden Stuhle Platz und sagte: „Herr Baron, ich fürchte, wenn wir in diesem Tone einsetzen, so kommen wir nicht zu einer ordentlichen Harmonie, die doch Ihnen ebenso wünschenswerth sein möchte, wie mir. Schlagen wir die Stimmgabel deshalb noch einmal an. Ich heiße Sie herzlich willkommen im Hause Ihrer Väter, auf Ihrem Erbe, das ich Ihnen selbst zu überliefern habe. Ich habe es von dem Augenblicke an, wo es Ihr Vormundschaftsgericht mir übergab, als ehrlicher Mann nach bestem Wissen und Gewissen verwaltet. Als Sie nach Ihrer Eltern Tode in ein österreichisches Cadetteninstitut gegeben wurden und die Behörde mich zum Administrator Ihres ganz verschuldeten und sequestrirten Erbes einsetzte, da glaubte man, daß es kaum jemals in Ihre Hände kommen und daß es mehr als ein Menschenalter

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 641. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_641.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)