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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

dieses Schweigen war der einzige Zoll der Achtung, der dem Wanderer auf seinem letzten Wege mitgegeben wurde.

Der einfache Vorgang hatte auf mich einen eigenen wehmüthigen Eindruck gemacht – ich wandte mich in das Zimmer zurück und gewahrte die Wirthin, die mittlerweile eingetreten war. Ich fragte sie, ob sie wisse, wer da eben begraben würde, und ob sie die Leidtragende kenne, die den Sarg begleitet habe. Sie wußte ausführlich Bescheid und erzählte Folgendes. Die Leidtragende war Jungfer Leisker, eine arme Nähterin, die in der ganzen Stadt bekannt war und von allen Leuten wegen ihres stillen, fleißigen Wesens gelobt wurde. Die Todte dagegen war deren Schwester. Alle Welt betrachtete es als ein großes Glück für die Nähterin, daß diese Schwester endlich gestorben war. Etwas verwachsen und kränklich, hatte diese Schwester seit dreißig Jahren das Haus, seit fünfzehn Jahren das Bette nicht mehr verlassen können. „Die arme Jungfer Leisker,“ schloß die Wirthin ihren Bericht, „hat dreißig Jahre für die Kranke gesorgt und es ihr an nichts fehlen lassen. Und doch mußte sie jeden Bissen mühselig mit der Nadel verdienen. Sie wird Gott danken, daß sie diese Last los ist, jetzt kann sie doch einmal frei aufathmen.“

Ich fragte weiter, ob die Nähterin keine Verwandten habe. Sie hatte keine. Seit ihre Eltern todt waren, stand sie mit ihrer Schwester allein in der Welt.

Mich berührte das seltsam. Ein armes schwaches Mädchen hat Niemanden in der Welt, als eine kranke Schwester, die sie dreißig Jahre lang pflegen und mit ihrer Hände Arbeit ernähren muß. Die Wirthin hatte Recht, das war eine Last, eine schwere Last auf schwache Schultern gelegt. Wie mochte sie die Bürde getragen haben? War sie ihr nicht manchmal zu schwer geworden? Hatte nicht zuweilen Unmuth sie übermannt? Hatte sie nicht zuweilen mit bitterm Neide an die Glücklichen gedacht, die, mit Vermögen begabt, leichter durch das Leben gehen konnten? War sie nicht manchmal ermattet unter der schweren Bürde und hatte die Ungerechtigkeit des Schicksals angeklagt, das ihr so viel Schweres auflud und ihr Niemanden sandte, der ihr tragen geholfen hätte? Ich gestehe, daß mich der Unmuth überfiel, als ich mich in ihre Lage dachte, daß ich in ihrer Seele die Ungerechtigkeit des Schicksals anklagte.

Eine alte Ruine, die dicht bei dem Städtchen liegt, wurde von allen Reisenden angesehen, und ich hatte den Vormittag dazu bestimmt, sie auch zu besuchen. Der Weg führte mich an dem Kirchhof vorbei. Es war still auf demselben. Der reinste blaue Himmel strahlte auf die Landschaft hernieder, die Bäume, Büsche, Felder prangten im herrlichsten Grün des Frühlings; mit dieser lieblichen Umgebung stand der stille, ernste, einsame Kirchhof in seltsamem Widerspruch. Mir war nicht so frisch und froh zu Muthe, wie sonst, wenn ich an einem herrlichen Frühlingsmorgen meine Wanderung antrat, mir lag das Schicksal der armen Nähterin immer in Gedanken. Auch die Dahingeschiedene war elend und unglücklich gewesen. Dreißig Jahre an das Krankenlager gefesselt! Heißt das leben? Es zog mich zu dem Kirchhof hin. Ich wollte das frische Grab sehen, wollte ein paar Blumen brechen und sie darauf stecken. Ich meinte, mir würde dann leichter werden.

Der Kirchhof war nicht groß. Frische Spuren im Sande leiteten mich, bald hatte ich das Grab gefunden. Doch plötzlich stockte mein Schritt. Ich war nicht allein auf dem Kirchhof. Dort am Grabe kniete eine schwarze weibliche Gestalt. Sie war mit den Armen auf den frischen Hügel gesunken und barg ihr Gesicht in den Händen. Der letzte Zoll der schwesterlichen Liebe floß wohl in Thränen auf das Grab. Konnten diese Thränen so recht aus tiefster Seele fließen? War die Verstorbene nicht eine Last für die arme Nähterin gewesen? War sie nicht vielleicht das Hinderniß gewesen, daß das Schicksal der Schwester sich glücklicher gestaltete? Die Knieende regte sich nicht. Ich stand wartend wohl zehn Minuten still; keine Bewegung zu sehen. War sie ohnmächtig? Ich trat näher. Ich rief erst leise. Keine Antwort. Ich rief lauter, ich faßte die Knieende am Arme – da hob sie ihr Gesicht und schaute mich an wie Jemand, der aus einem tiefen Schlafe plötzlich zu sich kommt. Ich fragte, ob ihr etwas fehle; sie starrte mich verwundert an, strich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte mit dem Kopfe. Sie war nicht ohnmächtig; aber sie war angegriffen und matt. Vom Schmerze? Es war ja ein Glück für sie, daß die Schwester gestorben, sagten die Leute. Ich hob sie auf, sie schwankte, sie zitterte. Ich bot ihr meinen Arm. Einen Augenblick zuckte sie, als wolle sie nicht von dem Grabe weg, dann ließ sie sich wie willenlos von mir führen.

Eine Zeit lang schritt sie, auf mich gestützt, dahin, ohne daß sie ein Wort sprach. Wir erreichten die Stadt. Am Thore stand sie still, verbeugte sich dankend und wollte allein weiter gehen. Allein ihr wankender Schritt überzeugte mich, daß sie einer Stütze bedurfte und daß sie nur aus Bescheidenheit meine fernere Begleitung abgelehnt hatte. Ich eilte ihr nach und indem ich ihren Arm wieder faßte, sagte ich: „Verschmähen Sie die Stütze nicht, die Ihnen noth thut.“ Sie sah mich dankbar an und ging ruhig mit mir weiter. Wir kamen an ihr Haus, sie trat ein, und unwillkürlich folgte ich ihr, als verstände sich das von selbst. Einen Augenblick war sie stehen geblieben, als erwarte sie, mich fortgehen zu sehen; als ich aber blieb, ging sie durch den Hausflur, öffnete ein Zimmer, das nach hinten hinaus lag, und ließ mich eintreten. Kaum war sie selbst im Zimmer, als sie laut zu weinen anfing und vor einem Bette in die Kniee sank, in dessen Kissen sie ihren Kopf barg.

Ich wußte nicht, sollte ich gehen oder bleiben. Vielleicht wäre es schicklich gewesen, zu gehen, und doch war mir wieder, als dürfe ich das arme, von Schmerz gebeugte Mädchen nicht allein lassen. So zweifelnd blieb ich stehen und sah mich im Zimmer um. Es war Alles, was ich sah, einfach, sehr einfach, aber doch so sauber, so ordentlich, daß es nicht ärmlich erschien. Die schmalen Vorhänge vor den beiden kleinen Fenstern waren weiß und sauber, das Hausgeräth stand so geordnet, daß man sogleich fühlte, es stehe Alles an seinem richtigen Platze. Auf dem Ruhkissen am Fenster lag eine Bibel aufgeschlagen.

Das Mädchen erhob sich nach kurzer Zeit von den Knieen, trocknete die Augen und sagte dann mit weicher, etwas zitternder Stimme: „Ich danke Ihnen herzlich, mein Herr, daß Sie mich heimgeleitet, ich bedurfte wirklich einer Stütze. Verzeihen Sie, daß ich meiner Thränen nicht gleich Herr werden konnte, es wird aber doch vorübergehen.“

„Sie sind so allein,“ erwiderte ich, „haben Sie denn Niemanden, der Sie tröstet, der Sie zu zerstreuen sucht, der Ihren Schmerz theilt?“

„Niemanden,“ sagte sie leise, „den einzigen Menschen, der mich liebte, habe ich eben zum Grabe begleitet.“

„Man sagte mir,“ fuhr ich fort, „Ihre nun verstorbene Schwester sei lange krank gewesen. Sie ist also von schwerem Leid erlöst und ihr ist wohl.“

„Ihr ist wohl,“ erwiderte sie eintönig.

„Und Sie sind doch auch einer großen Sorge, beinahe einer Last überhoben,“ sagte ich weiter.

Sie hob den Kopf, sah mich befremdet an und entgegnete: „Last? Sorge?“

Mir war es gegangen, wie es meist geht, wenn man trösten will – ich hatte etwas Dummes gesagt. Für den Schmerz um einen Dahingeschiedenen giebt es eben keinen Trost, als die Zeit, die den Kummer nach und nach lindert. Will man trösten, so weine man mit dem Weinenden, man gehe auf seinen Schmerz ein. Alle Versuche, Gründe gegen den Schmerz aufzustellen, sind thöricht und verfehlen immer ihres Zweckes. Der Schmerz will keinen Trost, er will weinen, das ist seine Berechtigung.

Ich fühlte, daß ich etwas Ungeschicktes gesagt hatte, und fuhr fort: „Verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt haben sollte, man sagte mir eben, daß die Verstorbene Jahre lang das Bett nicht habe verlassen können und daß Sie ebenfalls als ihre Pflegerin an sie gefesselt waren.“

„So ist es,“ erwiderte sie ruhig, „es mag Vielen als eine Last erschienen sein, vielleicht war es auch eine, aber ich liebte doch meine Schwester – und jetzt bin ich ganz allein. Hannchen war schon als Kind etwas verwachsen, kränklich und ziemlich hülflos. Da habe ich sie auf den Armen getragen und behütet und bewacht. Als meine Mutter vor dreißig Jahren starb, ich war kaum sechszehn alt, sagte sie mir: ,Verlaß Deine Schwester nicht, sie hat Niemanden als Dich.’ Sie hätte das nicht zu sagen brauchen, es verstand sich von selbst. Damit war mir die Aufgabe meines Lebens vorgezeichnet, und je länger ich sie erfüllte, desto lieber wurde sie mir. Und nun ist mir diese Aufgabe genommen.“ Sie schwieg, mir war es als hätte sie sagen wollen: „Was soll ich nun noch im Leben?“

„Aber man sagte mir,“ fuhr ich fort, „daß Sie neben der

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