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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

polirte Eispanzer in der Sonne funkeln. Ihren Fuß umlagernd spiegelt sich in seiner Pracht der Langen-Gletscher, der bis nach den grünen Alpen des Lötschenthals hinunter reicht. Sodann setzt sich das Heer mächtiger Gipfelgestalten, anscheinend in einem Gliede, aber in Wirklichkeit coulissenförmig hintereinandergestellt, fort über das Finsteraarhorn, die Jungfrau und den Mönch bis zum Wetterhorn, ihre steilen Eis- und Felsenwände in ihrer ganzen Schreckbarkeit entblößend. Diese Gebilde präsentiren einen vollkommenen Querdurchschnitt durch das Centrum der Berner Hochalpenkette. Im Vordergrunde breitet sich, gleich einem wunderschönen Teppich vor den Füßen dieser Bergheroen, die ganze glänzendweiße Firnebene des Tschingelgletschers aus, dessen zerklüfteter Absturz bis in den Boden des Gasternthälchens herunterhängt, während in kaum mehr kennbaren Gestalten das Doldenhorn und die Blümlisalp ihre firnumsäumten, kahlen Felswände, als nördliche Einfassungsmauer des Gasternthals und Tschingelgletschers, dem Schauenden zukehren und ihre scharfgezeichneten Gipfel in das Blau des Himmels recken. Ueber die weiter vorgeschobene Bergwelt des Kienthals, über die Hörner und Kämme, die den Thälern von Lauterbrunnen und Grindelwald, dem Becken des Brienzersees, den Alpenthälern von Unterwalden entsteigen, schweift der Blick bis an den nebligen Saum ferner Berge.

Nach Norden hinblickend darf das vom Glanz der Gletscherwelt fast geblendete Auge an dem sammtnen Grün der Wiesen, welche die kleine Thalebene von Kandersteg und die zahmen Gründe und Hänge des Kanderthals schmücken, so wie an dem dunkeln Colorit der Hochwaldungen und Alpen sich wohlthuend erlaben. Es verfolgt weiter hinaus den Lauf des Bergstroms in schwindelnder Tiefe durch die ganze Länge des mit seinen Matten und Gehölzen vor ihm aufgeschlagenen Thals. Freundliche Wohnhäuschen und Ortschaften schmücken das Gelände. Frutigen, das stattliche Dorf, Aeschi, auf grüner Hügelhöhe, schimmern dem Auge aus sonniger Ferne entgegen. Die Niesenkette mit ihren leicht aufgeworfenen Gipfeln breitet als linkseitige Thaleinfassung ihren Reichthum an Alpen und Wäldern, aber auch ihre schroffen Gratwände, Ihre Felsbrüche und ihre Lawinenzüge aus. Dort aber am Fuße des Riesen liegt im Schooß üppiger Baumgärten, lieblicher Wiesen und anspruchloser Weinberge, den Fuß malerisch geformter Berghöhen benetzend, der reizende Thunersee blau schimmernd, wie im Abglanz des Himmels. Und drüber hinaus öffnet sich die fruchtbare weite Landschaft, von Hügeln durchschnitten, von Straßen und Flüssen durchzogen, mit Seen, Städten und Dörfern geschmückt und in weiter Ferne von dem blauen Gürtel des Jura, ja von den Vogesen und dem Schwarzwald in sanftgezeichneten Linien begrenzt.

Wendet sich aber der Blick noch mehr, sieht er nach Westen hin, so steht vor ihm neuerdings eine Welt von Bergen da! Es sind die reichen, vom schönsten Vieh besetzten Alpberge des Adelbodnerthals, des Simmenthals, des Saanenlandes, des Thales von Greyerz und des waadtländischen Oberlandes, die sich vor ihm entfalten. Reihe hinter Reihe streckt ihre mannigfach geformten Gipfel empor, – hier im grünen Kleide des Blumenteppichs, dort als nacktes Fluhgebilde, hier in der Form eines spitzzulaufenden Kegels oder eines scharfen Zahns, dort als breitere Kuppe oder als langgedehnter Grat. Das nördlichste Glied dieser zahlreichen Bergketten, die ebensoviele Thäler einschließen, grenzt dieselben in steilaufgebauten Wänden, denen scharfausgeschnittene charakteristisch geformte Gipfel entsteigen, von jener weitausgespannten Thal- und Hügellandschaft ab. Nach Westen hin verliert sich der Horizont in den Berggestalten des fernen Savoyens. Den Südrand dieses Gebirgsnetzes hingegen bildet die mächtige Grenzkette, die sich nach dem Thal der Rhone abstürzt und welcher die vergletscherten Hörner und Kuppen der Diablerets, des Wildhorns, des Rawyl und des Strubels entsteigen, dessen breite Firnschanze, den Gemmipaß bewachend, dem Auge schon näher steht und durch ihre Schönheit die Bewunderung fesselt. –

Unser Wanderer war noch in stiller Andacht vertieft in dem Anstaunen und in der Betrachtung dieses reichen und großartigen Panoramas, als seine beiden Führer – denn auch Jakob hatte sich einem Schläfchen überlassen – aufwachten und erklärten, daß es an der Zeit sei, den Rückzug anzutreten.

Zwei Stunden Aufenthalts auf einem der weitsichtbaren Hochgipfel der Alpen waren wie ein schöner Traum verflossen. Ein letzter Rundblick wurde geworfen vom Montblanc zum Monte Rosa, vom Monte Rosa zur Jungfrau, von der Jungfrau hinaus nach dem blauen See und nach der reizenden Landschaft, aus der ihm die Wohnstätten der Menschen entgegenglänzten. War doch die Luft so klar, daß dem Auge keine Thurmspitze entging und daß es dort am Fuße des Jura in einer geraden Entfernung von achtzehn Stunden die Häuserreihe der Stadt Neuenburg deutlich erkannte, die das Gestade des fernen Sees besäumte. Doch, es mußte geschieden sein!

Um zwei Uhr Nachmittags wurde der Rückzug angetreten. Das Hinuntersteigen ward dadurch erleichtert, daß die der erhöhteren Temperatur und den Strahlen der Sonne ausgesetzte Firn-Oberfläche etwas weicher und lockerer geworden war. Dennoch dachte sich das oberste Gehänge so jäh ab, daß man es nicht wagen durfte, anders vorzurücken, als Schritt für Schritt die alten Stufen zu verfolgen. Aber nachdem man glücklich die erste halbe Stunde Weges und damit auch die steilste Partie zurückgelegt hatte, wich die Gesellschaft von der im Hinanklimmen innegehaltenen Bahn ab und versuchte in gerader Richtung, seitwärts der Firnkante, in nur geringer Entfernung, über die starkgeneigte Firnfläche, die das riesenhafte Altelsdach bildet, hinunterzugleiten. Gilgian war wieder an der Spitze des kleinen Zuges, und die Anderen folgten seinem Geleise, jeder auf seinen erprobten Bergstock gestützt. Es erfordert zu einer derartigen Glitschfahrt nicht nur Uebung und Gewandtheit, sondern auch Unerschrockenheit und Körperkraft. Man darf sich, besonders an solchen Firnhalden, deren untere Partie man nicht klar übersieht und die von Firnschründen durchklüftet oder durch steile Abfälle unterbrochen sein könnten, nicht sorglos dem Trieb und der Lust zum raschen Vorrücken überlassen, sondern, sowie man sich aufrechtstehend mit leicht vorgebogenem Körper, den Stock mit beiden Händen seitwärts gegen den Firn stemmend, auf der glatten Bahn rutschen läßt, muß man die Spannkraft seiner Schenkel stets bereit halten, um im Stande zu sein, plötzlich den Lauf zu hemmen und mittelst Einschlagen des Fußes in dem Firn Posto zu fassen. Die Raschheit der Fahrt hängt übrigens von der Neigung des Gehänges und der Härte des Firnes ab. Ist dieser zu sehr erweicht, so wird man durch das Einsinken am Vorrücken gehindert, und ist der Firn zu hart und glatt, so kann eine solche Rutschfahrt lebensgefährlich werden.

Unsere drei Männer hatten sich der Gunst der Umstände zu erfreuen. Trotz der Vorsicht, die sie anwandten, um nicht in zu raschen Lauf zu kommen, weil sie nicht zu beurtheilen vermochten, wie das Firngehänge tiefer unten beschaffen sei, glitten sie doch mit solcher Raschheit auf der krystallhellen Firnbahn hinunter (siehe die Abbildung in Nr. 37), daß sie in der Zeit von dreiviertel Stunden eine Strecke Weges zurücklegten, die zur Erklimmung vier Stunden erfordert hatte, und sie verließen den Schnee unter ihren Füßen nicht eher, als bis sie den blumenreichen Rasenteppich der Schaftrift betreten konnten.

Hier, auf dem weichen, duftenden Polster, mit der einen Hand die Kinder Florens ergreifend, die andere im ewigen Schnee kühlend, ruhte die Gesellschaft von der lustigen, aber immerhin anstrengenden Rutschfahrt aus, und dem Zaubersacke Gilgian’s wurde das letzte Stück Hammelfleisch, dem Weinfläschchen der letzte Tropfen Walliser ausgepreßt, um die trockenen Kehlen anzufeuchten und die Lebensgeister zu kräftigen.

Das Endziel ihres Marsches stand nahe. Leicht durch die lichte Fichtenwaldung hinuntereilend, gelangte die Gesellschaft in das stille Alpenthal, in das schon die Schatten des Abends fielen. Stolz zurückblickend nach dem gewaltigen Eiskoloß, den man durch Muth und Ausdauer bezwungen hatte, schritt man munter dem einsamen Berghause im Schwarenbach zu und langte zur selbigen Stunde am Ziele des Tages an, wo das herrliche Firnkleid, das den Altelsgipfel umhüllt, in den letzten Purpurgluthen der sinkenden Sonne erstrahlte. –




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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_608.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)