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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

,Warum fragen Sie nach ihm?’

,Als ich ihn eben wecken wollte, fand ich ihn nicht. Alle seine Zimmer sind leer. Er hat sein Bett nicht berührt. Schon gestern Abend hatte ihn Niemand mehr gesehen. Es fiel mir jetzt erst auf. Und – und – Conrad, das Schießen gestern Abend, der Zorn des regierenden Herrn – all das Andere – Herr des Himmels, was mag aus dem armen Grafen Curt geworden sein?’

Wir wußten es Beide nicht. Nach einer Weile kam mit kreideweißem Gesichte die Kammerfrau der Gräfin zu mir.

,Conrad, was ist aus der gnädigen Gräfin geworden?’

,Warum fragen Sie nach ihr?’ mußte ich auch sie fragen.

Sie hatte ihre Herrin wecken wollen; hatte aber ihre Thür, die Thüren aller ihrer Zimmer verschlossen gefunden. Sie hatte geklopft, gerufen, Niemand hatte ihr geantwortet; nichts hatte sich drinnen geregt. Auch sie hatte ihre Herrin schon am gestrigen Abende nicht mehr gesehen. Ich hatte auch für sie keinen Bescheid und kehrte in den Corridor zurück, um zu erwarten, daß der Graf sein Schlafgemach öffne und mich rufe. Eine Stunde später öffnete sich die Thür; der Graf trat heraus wie immer, finster, drohend, zornig, wie alle die Tage, alle die Zeit vorher. Das Gesicht war nur etwas müde, als wenn er die Nacht nicht geschlafen hätte.

Er verschloß die Thür des Thurmes hinter sich.

,Folge mir!’ sagte er mir dann.

Er verließ den Corridor und bog in einen Seitengang ein. In diesem Gange lagen die Zimmer, die zur Aufnahme von Besuch bestimmt waren. Er trat in eins der Zimmer.

,Ich werde künftig hier wohnen. Besorge mein Frühstück.’

Er sagte es in seiner finstern Weise, aber kalt, ruhig, als wenn am gestrigen Abende, in der vergangenen Stacht nichts vorgefallen sei. Ich konnte ihn ohne Grausen nicht ansehen. Ich brachte ihm sein Frühstück, er ordnete ruhig etwas in dem Zimmer, und als ich das Frühstück hingestellt hatte, rief er mich zu sich heran.

,Höre mir wohl zu. Die Thür, die vom Corridor in den runden Thurm führt, wird noch vor Mittag vermauert. Ist die Arbeit fertig, so wird der ganze Corridor durch eine Gitterthür abgeschlossen, daß ihn kein Mensch wieder betreten kann. Zum Abend muß das Ganze beendet sein.’

Ich ließ es ausführen, wie er es angeordnet hatte. Vorher hatte ich doch noch an der Thurmthür horchen müssen. Ich hörte kein Stöhnen und kein Wimmern mehr. Lebendige wurden nicht eingemauert. Aber nicht die Gräfin, nicht den Grafen Curt hat je ein Menschenauge wiedergesehen. Das Gerücht wurde ausgesprengt, Graf Curt sei mit der Gräfin entwichen. Jenen Corridor hat bis heute nie wieder eines Menschen Fuß betreten. Die Fenster des Thurmes sind noch heute von innen dicht verhängt, wie ich sie am Morgen jener schrecklichen Nacht sah. In das Innere des Thurmes ist nie wieder Jemand getreten, auch der Graf nicht. Es führt nur noch die eine Thür hinein, vom Schloßhofe aus. Sie ist seit jenem Abende nicht wieder geöffnet worden. Der Graf hat die Schlüssel zu ihr; wo er sie verwahrt hält, weiß Niemand. Die sämmtlichen Fenster des Thurmes sind von innen dicht mit festen eisernen Stäben versehen; auch durch Hinansteigen hat also kein Mensch in den Thurm gelangen können.

Frommer Pater, Sie wissen jetzt, warum nicht die Gräfin, nicht der Graf Curt, Ihr Vater, nach Ihnen fragen, sich um Sie bekümmern konnte. Und auch die Comtesse Caroline konnte es nicht. Die Unglückliche – Aber wozu soll ich Ihnen allen Schrecken, alle Angst, allen Jammer, die Verzweiflung der armen Comtesse erzählen? Ich weiß ja auch nicht viel davon. Sie wurde schon nach wenigen Tagen in ein Kloster gebracht zu ihrer Erziehung und blieb dort auf ihren Wunsch, bis sie fünfundzwanzig Jahre alt geworden war. Da mußte sie zurückkehren, um sich zu vermählen. Von Ihnen, frommer Pater, hatte man nichts wieder gehört; Sie waren verschollen. Der Graf wollte sein altes Geschlecht nicht aussterben lassen, es sollte in den Nachkommen der Tochter fortblühen. Er hatte der Gräfin Caroline einen stillen jungen Herrn aus einem alten gräflichen Hause zum Gemahl ausgesucht, der seinen Namen ablegen und dafür den Namen Graf von Frankenberg annehmen mußte.

Auf dem Schlosse war es wie im Grabe. Die Gräfin Caroline war zurückgekommen wie eine Grabesblume, die nur aus einem Grabe in ein anderes verpflanzt war. Der junge Graf war im Schlosse nicht mehr, als ein Bedienter. Still war er hergekommen; er wurde immer stiller, an Büchern und Beschäftigung hatte er keine Freude. Nach einem Jahre hatte er sich dem Trunke ergeben. Die Gräfin Caroline welkte von Tage zu Tage mehr dem Grabe zu. Nachdem sie ihrem Gemahl zwei Kinder geboren hatte, einen Knaben und ein Mädchen, starb sie. Ein paar Jahre nachher starb ihr Gemahl; die hitzigen Getränke hatten ihm Körper und Geist zerstört.

Der Sohn der Beiden war still, wie sein Vater; er hatte einen noch schwächeren Verstand als dieser. Die Tochter war das Ebenbild ihrer Mutter, als die Gräfin Caroline noch das schöne und glückliche Kind war, das mit Ihnen spielte. Sie hat leider auch von dem späteren Unglück ihrer Mutter erben müssen, wenn auch nicht Alles. Sie durfte nach ihrer Neigung und Wahl einem edlen Manne ihre Hand reichen. Der Name des Freiherrn, ihres Gemahls, ist in ganz Deutschland ebenso geliebt und geehrt, wie die Franzosen ihn hassen und verfolgen, weil ihr mächtiger Kaiser den deutschen Edelmann fürchtet. Die beiden Gatten lieben sich auch über Alles. Aber ihre Kinder sind ihnen gestorben, bevor sie ein Jahr alt wurden. Kann auf den Nachkommen des Grafen Moritz Anderes als ein Fluch ruhen? Und jetzt liegt die arme Frau in den Armen des Todes – derselbe Fluch muß sich ganz erfüllen, wie an ihr, vielleicht mit an ihrem edlen Gemahl.

Ihrem Bruder, dem Sohne der Gräfin Caroline, suchte der alte Graf die Gemahlin aus, eine schöne stolze Dame aus einem alten, vornehmen Hause. Ach, sie war nicht zu vornehm und stolz, die deutsche Gräfin, die Geliebte eines leichtfertigen, hochmüthigen Franzosen zu werden, und das ist sie, ehrwürdiger Herr! Es ist ein Glück, daß sie ohne Kinder ist. Ihr Gemahl ist völlig schwachsinnig geworden. Er sieht ihren Lebenswandel nicht.

Der alte Graf – er zählt bald neunzig Jahre – ist noch immer körperlich rüstig; der Verstand war ihm schon gleich nach jenen Vorfällen angegriffen; vielleicht war es schon vorher so gewesen; ich hoffe es zu Gott. Später hatte er Perioden, in denen er völlig wahnsinnig war; dann wurde es wieder besser mit ihm. So ist es noch; nur wechseln in der letzteren Zeit der Wahnsinn und die Vernunft häufiger in ihm. Er kann ganz verständig sprechen, aber man ist keinen Augenblick sicher, daß nicht plötzlich mitten in seiner Rede der Wahnsinn in ihm losbricht. Bösartig ist er dabei immer, und immer hat man sich vor ihm zu hüten, daß man nicht von einem seiner bösen Streiche getroffen werde. Der Einzige, der manchmal Gewalt über ihn hat, ist sein Enkel mit seinem stillen, blödsinnigen Wesen. So geht dies alte Grafengeschlecht zu Grunde.“

Der Diener schwieg. Auch der Mönch gab sich schweigend seinen Gedanken hin. Die beiden Greise saßen lange still einander gegenüber.




3. Neue Geschichten des Schlosses.

Der Doctor und der Hauptmann waren in das Krankenzimmer gegangen. Die beiden Gatten waren allein darin, sie hatten sich so viel zu sagen, so viel mitzutheilen, da sie sich seit langer Zeit nicht gesehen hatten. Fortwährend hatte ja der Freiherr auf wirklicher Flucht oder in Besorgniß gegen geheime französische Verfolgung sein müssen; denn er wäre erschossen worden, wenn er in die Hände der Verfolger fiel. Wie waren sie jetzt glücklich zusammen nach so langer schmerzlicher Entbehrung!

„Wie geht es der gnädigen Frau?“ fragte der Doctor.

„Ich lebe auf, Doctor,“ sagte so glücklich die matte Stimme der Kranken.

„Und Sie sollen recht lange leben.“

Der Hauptmann hatte die in der Tapete verborgene Thür zu dem geheimen Gange gefunden und geöffnet. Er trat mit dem Doctor in den Gang und zog die Thür hinter sich zu. Sie waren in voller Dunkelheit.

„Wohin nun weiter, Hauptmann?“ fragte der Doctor. „Man sieht nicht die Hand vor den Augen.“

„Ja, Doctor, wohin? Das ist die Frage.“

„Ich meinte, Sie kennen den Gang.“

„Der alte Conrad hat mir von ihm erzählt. Weiter weiß ich nichts. Und auch er war nur die paar ersten Stufen einer Wendeltreppe hinuntergekommen, er hatte nur gehört, daß man unten in einen langen schmalen Gang komme, der zu der Thür irgend eines Gemaches führe, aus dem man dann in das Freie gelange.“

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