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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

mancher schweren Prüfung, bis ich zu jener Erkenntniß, auf diese Bahn gelangte. Wie war ich noch trotzig und verstockt, als ich die entsetzliche Mißhandlung erlitten hatte, als darauf das Weitere geschah, der Oheim die Hunde aus dem Stalle herbeiholen ließ, und den Hundenjungen befahl, mich durch die Thiere vom Hofe hetzen zu lassen; wie die armen Burschen und die treuen Thiere nicht wollten; wie auch sie zuletzt seinem fürchterlichen Willen gehorchen mußten; wie er mir darauf nachrief, so werde es mir immer geschehen, wenn ich mich auf dem Hofe wieder sehen lasse! Ich ging weinend von dannen; aber es war ein Weinen der Wuth, des Trotzes, des Hasses, der Rache. War ich da besser, als er?“

„Sie waren beschimpft,“ unterbrach der alte Diener den Mönch. „Sie hatten das junge Blut, den adligen Sinn, das edle Herz.“

„Und Jesus Christus vergab seinen Feinden, die ihn kreuzigten,“ sagte der Mönch.

„Aber Jesus Christus war der Sohn Gottes.“

„Und vergab als Mensch, mit dem menschlichen, dem wahrhaft menschlichen, christlichen Herzen. In meinem Herzen aber wurde die Rache immer wilder. Ich hatte anfangs wohl gar nicht gewußt, was ich that, was ich wollte, wo ich nur war. Ich war bewußtlos in Wald und Finsterniß umhergerannt. Dann kam ein wildes Leben in mein Inneres. Ich mußte an dem Manne, der mich beschimpft, vernichtet hatte, Rache üben; ich konnte es nur, indem ich ihn ermordete. Das wollte ich, das mußte ich. Ich rannte zum Schlosse zurück. Es war Mitternacht, als ich ankam. Alles war dunkel; alle Thore waren verschlossen. Ich konnte nicht in das Schloß, ich konnte nicht einmal in den Hof gelangen. Ich hatte einen knabenhaften Racheplan gehabt. Wie hätte ich, auch wenn mir das Schloß offen stand, bis zu ihm dringen können, den ich ermorden wollte? Womit hätte ich ihm das Leben nehmen sollen? Ich hatte keine Waffe, nicht einmal ein Messer. Ich weinte von neuem, vor Wuth, daß ich mich nicht rächen konnte, daß in dem ganzen Schlosse Niemand war, der an mich dachte, der sich um mich kümmerte, daß kein Mensch es wagte, an mich zu denken. Carolinens Fenster war dunkel; ihre Gestalt war nicht zwischen den Vorhängen zu sehen. Ihr konnte ich es verzeihen, wenn die Furcht vor dem Vater die Zuneigung zu mir überwog. Auch ihrer Mutter verzieh ich am Ende. Aber auch die Fenster meines Vaters waren dunkel; ich hörte keinen Laut, keine Bewegung in seinem Zimmer. Schlafen konnte er wohl nicht, nach jener Beschimpfung, die seinem einzigen Kinde widerfahren war, bei der Ungewißheit, in der er über mich sein mußte. Aber auch er hatte nicht einmal den Muth, nach mir auszusehen. Das Herz zog sich mir in dem bittersten Schmerz und Zorne zusammen. Ich rannte wieder fort, und wollte nie irgend einen von allen diesen Menschen wiedersehen, auch meinen eigenen Vater nicht. Ich wollte keine Rache an ihnen nehmen; ich konnte es ja nicht. Aber ich wollte sie Alle hassen, verachten. Und das Gefühl kam über mich. Es war nicht minder knabenhaft, als das jener Rache. Aber mein trotziger, verstockter Sinn nährte, steigerte es. Mit ihm ging ich in die Welt, verließ ich meine Heimath, mein Vaterland und endlich das ganze Treiben der Welt selbst. Ich war hinten in Schlesien krank und elend geworden und konnte nicht weiter. Ich schleppte mich zu einem Kloster, das in der Nähe lag und mich aufnahm, und in dem ich auch ferner blieb, nachdem ich lange schon genesen war. Ich wollte nicht in die Welt zurück und wurde Mönch. Nicht aus Frömmigkeit, aus Demuth, aus Liebe zu Gott. Wie vielen Antheil hatte an meinem Schritte gerade noch immer jener Trotz, der Hochmuth, das Gefühl, daß ich der Beschimpfte, Entehrte sei, auf den die Hetzpeitsche ein unverlöschliches Brandmal gedrückt habe! Es mußten Jahre vergehen, ehe mein Sinn geläutert, mein Herz gereinigt wurde. Und da war ich glücklich. Meine Brust kannte keinen Haß mehr, sie kannte nur noch die Liebe.

Aus dem schlesischen Kloster war ich in ein polnisches versetzt worden. In dieses kam vor einiger Zeit ein Bruder aus einem der von den Franzosen aufgehobenen Klöster. Ich erfuhr von ihm, was seit fünfzig Jahren sich in der Heimath zugetragen hatte. Ich hatte nie etwas darüber gehört, hören wollen; es hätte mir nur die Ruhe, den Frieden meines Innern nehmen können. Von den Meinigen wußte er mir nichts mitzutheilen. Um so mehr erfaßte mich die Sehnsucht, noch einmal die alte Heimath wiederzusehen, mein müdes Haupt hier zum ewigen Frieden niederzulegen. Ich vermittelte meine Versetzung hierher und betrete heute zum ersten Male wieder das Schloß meiner Väter. Ich sah und vernahm seit fünfzig Jahren nichts von ihm und war dennoch mit dem Vertrauen gekommen, der Friede meines Innern werde nicht wieder gestört werden können. Und ich hoffe seine Kraft nicht überschätzt zu haben; wie viel Trauriges ich auch in den wenigen Stunden erfahren mußte, die ich hier bin, es hat mir nur die Heiterkeit meines Herzens trüben können. Du hast mir noch mehr mitzutheilen, treuer Conrad. Ich lese in Deinen Augen, daß es sehr Schweres ist. Es wird mir das Herz noch mehr mit Trauer umhüllen, aber den Frieden wird mir auch das Schrecklichste nicht rauben, was Du mir sagen könntest. Und nun sprich, was ist aus den Meinigen geworden, aus jenen Lieben, die ich hassen und verachten wollte und die ich doch im Grunde meines Herzens immer nur lieben und verehren konnte?“

(Fortsetzung folgt.)




Eine Gletscherfahrt im Berner Oberlande.[1]
Von Gottlieb Studer.

Schon einige Jahre sind es her, als an einem schönen Herbsttage ein für die Schönheiten der Gebirgsnatur begeisterter Wanderer auf einem Streifzuge aus dem alpen- und felsenreichen, von Fremden aber noch wenig aufgesuchten Kienthal des Berner Oberlandes über den wilden, theilweise mit ewigem Schnee bedeckten Grat, der dieses Thal von dem kleinen Oeschinenthälchen scheidet, nach dem allbekannten Kandersteg am Gemmipasse hinüberstieg.

Er traf zu guter Zeit daselbst ein. Die Nachmittagsonne sendete noch ihren vollen Glanz in dieses freundliche, fast rings von hohen Bergwänden umschlossene Thalbecken, das unmittelbar am nördlichen Fuß der Gemmi und an dem vielbereis’ten Saumwege liegt, der über diesen Berg nach dem Leuker Bade führt. Gern benutzte er die ihm vergönnte Muße, um sich in aller Behaglichkeit der Betrachtung des vor ihm ausgebreiteten Naturgemäldes hinzugeben.

  1. Lange ehe sich in London der englische Alpenclub bildete und nach seinem Vorgange der schweizerische mit Zweigclubs in den verschiedensten Berggebieten der Schweiz und jüngern Datums der österreichische Alpenverein in’s Leben traten, um die zur Modepassion gewordenen Besteigungen hoher Alpengipfel systematisch zu organisiren und für die Wissenschaft nutzbar zu machen, hatte sich bekanntlich in der Schweiz, wie in den österreichischen Alpenländern eine Reihe von Männern die wissenschaftliche Erforschung der höchsten Bergregionen zum Ziele gesetzt. Unter diesen kühnen Alpengängern ist der Verfasser des obenstehenden Aufsatzes, Herr Regierungsstatthalter Gottlieb Studer in Bern, ein Vetter des am gleichen Orte lehrenden und wirkenden Alpengeologen Professor Bernhard Studer, unbestritten eine der ersten Autoritäten. Seit manchem Jahre pflegt er allsommerlich in den Alpen, bald im Westen, bald im Osten, umherzustreifen, die schwierigsten Bergerklimmungen zu wagen und in der Regel dem Publicum die Erlebnisse, Erfahrungen und Untersuchungen seiner Exkursionen in lebensvollen Darstellungen vorzulegen. Wenige dürften eine durch sorgfältige Forschungen an Ort und Stelle erworbene gleich genaue und umfassende Gebirgskenntniß besitzen, nur sehr Wenige auf so vielen allerhöchsten Alpenzinnen gestanden haben wie er, der vom Mont Velan und Grand Combin im Wallis bis nach Glarus und Uri auf die Scheitel fast aller Bergriesen den Fuß gesetzt hat. Unter seinen zahlreichen Schriften und Abhandlungen sei hier nur der jedem Alpenreisenden besondern zu empfehlenden gedacht, des „Panorama von Bern“, einer gründlichen Beschreibung aller der Berge, die in der Nähe der Bundesstadt vom Eichplatz der Enge aus das trunkene Auge erblickt; seiner trefflichen „topographischen Mittheilungen aus den Alpen“ und der interessanten Beiträge, mit denen er die in Gemeinschaft mit Melchior Ulrich in Zürich und J. J. Weilenmann in St. Gallen – denen sich später noch H. Zeller in Zürich beigesellte – von ihm in zwei Sammlungen herausgegebenen „Berg- und Gletscherfahrten in den Hochalpen der Schweiz“ geschmückt hat. Wenn wir hiermit einen Originalartikel aus der nämlichen bewährten Feder mittheilen, so glauben wir unsern Lesern um so Willkommneres zu bieten, als der unermüdliche Alpenwanderer vor wenigen Wochen erst wieder durch seine Bergfahrten in der nächsten Umgebung des neulich geschilderten Unteraargletschers die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat.
    D. Red. 
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