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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Der tolle Platen.
Historische Skizze von Ferd. Pflug.

Es war zwischen neun und zehn Uhr Vormittags am 12. Februar 1814. Der Regen, welcher die ganze Nacht angehalten, hatte aufgehört und die Sonne mühte sich vergeblich, die grauen, den Himmel einhüllenden Wolkenschleier zu durchbrechen. Die Fernsicht blieb trotz der schon weit vorgeschrittenen Tageszeit deshalb auch nur beschränkt. Nach links schloß dieselbe eine Reihe kahler, niedriger Hügel, nach rechts blickte man in ein offenes, vielfältig von Gebüsch unterbrochenes Land, ohne daß die über diesem tiefer gelegenen Gelände auf- und niederwogenden Nebel jedoch mehr als die vordersten Gehöfte eines weitläufigen Dorfes und weiter zurück eine ziemlich umfangreiche Fichtenschonung deutlich hätten unterscheiden lassen. Geradeaus schien sich eine endlose Hochebene auszudehnen, und unmittelbar im Vordergrunde traten zwei nur in geringer Entfernung von einander gelegene Pachthöfe daraus hervor. Eine mit Pappeln eingesäumte Landstraße führte endlich mitten zwischen diesen beiden Gehöften hindurch und senkte sich weiterhin niederwärts in das breite Thal der Marne, welcher Fluß selbst gelegentlich in der Ferne aufblitzte und jenseit dessen sich sogar in besonders lichten Momenten die dunklen Häusermassen und spitzen Kirchthürme der Stadt Chateau-Thierry unterscheiden ließen. Das ganze Landschaftsbild trug das Gepräge einer trostlosen Oede und Verlassenheit, das selbst durch das bewegte kriegerische Treiben in demselben in keiner Weise verwischt oder gehoben zu werden vermochte.

Eher das gerade Gegentheil. Das tiefe, nur gelegentlich von einem kernigen Soldatenfluch unterbrochene Schweigen, womit die sich nähernden Marschsäulen sich auf der Landstraße und in den angrenzenden Feldern mühselig durch den Koth fortschleppten, und alle die Spuren von Unordnung und Verwirrung aus der ersteren konnten in einem vollkommneren Einklang zu dem trüben Himmel und dem aufgelösten Boden kaum gedacht werden. Eine so feste Haltung die Truppen auch noch bewahrten, so stand ihnen die erlittene Niederlage doch gleichsam auf der Stirn geschrieben. Vor ihnen mußten aber wohl schon andere Abtheilungen des Weges gezogen sein, welchen der gestrige Tag noch härter als diesen mitgespielt hatte. Die vielen im Schlamm stecken gebliebenen oder umgeworfenen Wagen und selbst Geschütze, die auf den Wegrändern hingesunkenen Maroden und Verwundeten, zerstreute Waffen und hier und dort die Leichen von Mann und Roß bewiesen das. Auch die in ganzen Schwärmen sich noch in dem freien Gelände rechts umtreibenden Versprengten sprachen für diese Vermuthung, und wenn bei der trüben Atmosphäre auch nicht mit bloßem Auge, so doch mit einem guten Glase vermochte man bei der Brücke von Chateau-Thierry zwischen den einzelnen dort gelegenen Häusern ein unabsehbares Gewirr von Menschen und Fuhrwerken zu unterscheiden, zu welchem auf einem zweiten Wege, hinter der etwa auf der halben Entfernung dahin gelegenen Fichtenschonung fort, noch immer neue Massen hinzuströmten.

Die Infanterie der noch zurückbefindlichen Heersäule hatte mit ihren vordersten Bataillonen den ziemlich steilen Abfall der Landstraße gegen das Thal der Marne bereits erreicht, Artillerie folgte, Cavallerie näherte sich in breiter Front über die Felder zur Linken und wurde aus der niedrigen, nach dieser Richtung den Gesichtskreis abschließenden Hügelreihe von ihren bis dahin vorgeschobenen Patrouillen und Sicherheitsposten begleitet. Alle diese Truppen waren übrigens Preußen, wogegen die Maroden und Todten an der Straße wie die auf den benachbarten Feldern sichtbaren Nachzügler und Versprengten ohne Ausnahme russischen Truppenteilen angehörten. Auch die stehengebliebenen Fuhrwerke und Geschütze trugen durchgängig den grünen russischen und nicht den blauen preußischen Anstrich, und die ersteren bekundeten außerdem ihren Ursprung durch die in weißer Farbe mit riesigen Buchstaben auf ihren Deckplänen enthaltenen russischen Inschriften.

Auf einer kleinen Anhöhe, hart hinter dem rechts gelegenen Pachthofe, hielt eine kleine Gruppe höherer Officiere. Zwei derselben, beide in ihre Mäntel gehüllt, aber der eine die einfache preußische Feldmütze von schwarzer Wachsleinwand, der andere den quergesetzten russischen Federhut auf dem Kopfe, waren zehn bis zwölf Schritt den Anderen vorauf in einem halblaut geführten, indeß, nach den blitzenden Augen der Herren zu urtheilen, sehr gereizten Gespräche begriffen.

„Und darum, Excellenz,“ schloß der mit dem Federhut kurz und bestimmt eine längere Ausführung, „sage ich Ihnen, es geht nicht anders, Sie müssen meine Rückendeckung übernehmen. Ich habe ein Recht dies zu fordern. Wenn die Preußen gestern zeitiger auf dem Schlachtfelds eingetroffen wären, so würden wir uns heute nicht geschlagen und auf dem Rückzüge befinden.“

Der Andere begnügte sich mit einem vieldeutigen Seitenblick ein langgedehntes: „Hm! So!“ einzuwerfen. Der Kopf des Mannes mit dem um die Schläfen niederwallenden weißen Haar und den wie in Erz geschnittenen Zügen des ernsten Antlitzes konnte nur einem bedeutenden Menschen gehören. Eine eiserne Entschlossenheit des Willens und hohe geistige Kraft, indeß auch eine stolze, starre Abgeschlossenheit und ein finsteres, galliges Temperament, wo nicht mehr, sprachen sich in dem Gesicht aus. Die fast eisige Kälte in letzterem stand mit dem gelegentlich tief aus dem Grunde der klugen, grauen Augen blitzähnlich aufleuchtenden Funken in einem zu auffälligen Widerspruch, um nicht auf das Vorhandensein einer glühenden Feuerseele in diesem schmächtigen, kaum die Mittelgröße überragenden Körper muthmaßen zu lassen.

Der neben ihm haltende russische Führer war um vieles jünger. Das starke dunkle Haar zeigte kaum hin und wieder einen grauen Schimmer, und die volle feste Gestalt, im Verein mit der gesunden, von Wind und Wetter gebräunten Gesichtsfarbe bekundete noch das kräftigste Mannesalter. Auch dessen Antlitz mußte als ein bedeutendes anerkannt werden, der geistige Anflug in demselben wurde jedoch, namentlich in dem gegenwärtigen Moment, durch eine kaum noch gezügelte Heftigkeit beeinträchtigt. Es lag übrigens etwas Verwandtes in diesem Gesicht mit dem des Andern, nur daß das, was sich bei Letzterem als bewußter Eigenwille ausprägte, bei Ersterem mehr auf Eigensinn gedeutet werden mochte. Nach der stolzen Selbstüberhebung, welche aus den dunklen Augen des jüngern Mannes leuchtete, und dem hochmüthigen Sichgehenlassen in seinen Worten und Gebehrden mußte die Behandlung Beider jedenfalls als gleich schwierig erkannt werden.

„So!“ hatte der Russe die vorige Aeußerung des preußischen Generals aufgegriffen. „Ja gewiß, so. Die Gelegenheit, die ganze französische Macht mit einem Schlage niederzuwerfen, wird uns niemals in gleicher Weise wieder lächeln. Excellenz kennen mich, und Niemand wird mich, den General von Sacken, der Poltronnerie beschuldigen, aber nochmals wiederhole ich Ew. Excellenz, bei einem rechtzeitigen Eintreffen des preußischen Corps war die Niederlage des französischen Kaisers so gewiß wie immer möglich. Ich hielt ihn so fest …“

„Oder vielmehr, Excellenz,“ unterbrach ihn jener mit der vorigen unbeweglichen Ruhe, „er hielt Sie. Meine armen Truppen wissen davon zu erzählen. Wenn Ew. Excellenz nach meinem Rath dem feindlichen Stoß über die Marne ausgewichen wären, so würde heute oder morgen jenseit dieses Flusses die ganze schlesische Armee vereinigt gewesen sein, um dem Napoleon eine Schlacht zu liefern, nach welcher ihm schwerlich noch nach einer zweiten gelüstet haben möchte. Dafür haben nun Ew. Excellenz gestern bei Montmirail die Schlacht verloren, und um Ihr geschlagenes Corps nur vor dem Aeußersten zu bewahren, habe ich ein paar Tausend von den Meinigen mit daran geben müssen.“

„Excellenz von York!“ war Sacken aufgefahren.

„Damit indeß noch nicht genug,“ fuhr jener, ohne den Ausruf des russischen Generals irgend zu beachten, mit der gleichen Eiseskälte fort, „verlangen Ew. Excellenz jetzt von mir noch, auf dem Abhang dieses nach allen Richtungen offenen Plateaus gegen den Feind Stellung zu nehmen, um Ihren Truppen den Uebergang über die Marne zu ermöglichen. Ich hielt denselben längst für beendet und glaubte mich zur Vermeidung jeder weiteren Gefahr ohne Aufenthalt ebenfalls über den Fluß ziehen zu können. Glück genug, daß die Franzosen bei dem Rückzuge dieser schrecklichen Nacht nicht schärfer gedrängt haben; indeß mit jedem Augenblick steht deren erneuter Angriff zu gewärtigen. Dieselben hier abwarten, heißt für mich jedoch nichts anders, als mein Corps einer beinahe sichern Vernichtung aussetzen, und ich respondire für dasselbe meinem Könige. Wie ich es schätze, ist es von dieser Stelle

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